KARIES "ES GEHT SICH AUS" VS. KLEZ.E "DESINTEGRATION": HOFFNUNGSVOLL HOFFNUNGSLOS
Ganz nüchtern prangt da ein kleines Glas mit Wasser auf dem neuen Karies-Album. Die Assoziation ist natürlich klar: Ist das Behältnis halbvoll oder halbleer? Die Band aus der prosperierenden Stuttgarter Post-Punk-Szene um die Lokalmatadore von Die Nerven liefern die Antwort in ihrem Albumtitel: "Es geht sich aus". Eine wenig euphorische Replik. Aber die beste Beschreibung für das Album, das unter stoischen Bassläufen, dissonanten Gitarrenriffs und ausgemergelten Gesangsspuren die Grautöne unserer Seelen zum Leuchten bringen.
Karies singen über die eigenen Unzulänglichkeiten, über eine sonderbare innere Kälte und der daraus resultierenden Unfähigkeit, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Schon der Opener "Es ist ein Fest" preist die Isolation des Individuums an: "Wir werden glücklich getrennt sein und frei für immer". Solch drastische Worte schmerzen, besonders weil sie im Zusammenspiel mit dem mechanisch anmutenden Post-Punk eine unbehagliche Nüchternheit heraufbeschwören. Und in "Keine Zeit für Zärtlichkeit" wird fast schon achselzuckend konstatiert: "Das Leben wird mit allem fertig. Das Leben wird auch mit Dir fertig." So hoffnungslos klang eine deutsche Band schon lang nicht mehr - und das tut so gut.
Denn es ist vielmehr ein ungeschönter Realismus denn nostalgischer Pessimismus, der von "Es geht sich aus" ausgeht.
Anstatt floskelhafte Liebesschwüre zu leisten, seziert Karies eiskalt unsere, durch den modernen Lebenswandel selbst verschuldete, Einsamkeit. Wie in "Ostalb", in dem unter wankenden Schlagwerk nur das Wort "Fernsehflimmern" somnambul und mit gedämpfter Stimme immer und immer wieder vorgetragen wird. Pointierter kann eine Kritik zum sedierenden Medienkonsum unserer Gesellschaft nicht mehr sein.
Bei aller inhaltlichen Niedergeschlagenheit, ist "Es geht sich aus" aber auch ein hellwaches Werk, das mit dem klassischen Liedaufbau sowie den Erwartungen der Hörer spielt. "Mit dem Kinn in meinen Nacken umgreifen Arme einen Menschen, den ich früher einmal kannte" beginnt "Überlegen"unter peitschenden Schlägen, ergeht sich sodann zwei Minuten lang in einem atemberaubenden Wall Of Sound, um dann wie folgt im Text fortzufahren: "Kannte. Hast du jemals Kante gezeigt (...)". Das ist sprachliche Finesse kombiniert mit feinem Wortwitz, wie er in dieser Art nicht zu erwarten ist, dafür aber umso wunderbarer erscheint. Ebenso die von einer trockenen, geradezu houellebecq'schen Komik durchzogenen Zeile "Alleine kann man schlecht pervers sein. Ich muss mal wieder unter Leute gehen" ("Pervers"). Das lyrische Ich ist sich seiner Kaputtheit bewusst und gießt sie in zynische Spitzen. In jeder gescheiterten Persönlichkeit steckt eben auch etwas grotesk-lustiges.
Kernstück ist und bleibt aber der nachhaltige Sound auf "Es geht sich aus". Karies besinnen sich dabei auf eine sehr hypnotische, fast schon technoide Interpretation des Post-Punk. Die Songs bauen über die redundanten Melodien sog-ähnliche Spannungen auf. Sie lassen es wie in "A" zu, den musikalischen Höhepunkt immer noch ein Stückchen weiter hinauszuzögern, bis die Nerven fast am reißen sind. Dieses Album denkt jenes Genre weiter, das vor rund 35 Jahren durch Joy Division, The Cure und Konsorten einst zum Leben erweckten.
Und weil wir gerade von The Cure sprechen: 1989 erschien ihr Meisterwerk "Disintegration", eine pop-melancholische Depressionsbewältigung, die Tobias Siebert, gebürtiger Ostdeutscher, im letzten Jahr der DDR als ungemein beeinflussend empfunden haben muss. Nicht umsonst ziert der Begriff als eingedeutschte Form das neue Album seiner Band Klez.e (und selbst die schemenhafte Silhouette Sieberts auf dem Cover erinnert fatal an den jungen Robert Smith).
Aber "Desintegration" ist mehr als wohlfeile Post-Punk-Fingerübung mit dunkelglitzerndem Nostalgiefaktor. Siebert verwebt seine damaligen Empfindungen einer wahrgewordenen Utopie mit der gegenwärtigen Situation – und ist entsetzt. "Draußen vor den Mauern fängt es an, sich zu bewegen. Da steht der Dummheit bester Freund" eröffnet "Mauern" den Reigen schonungsloser Hauptstadtbeobachtung. "Früher da im Osten wollte ich in Wedding sein" sinniert der Frontmann unter schwelgerischen Gitarrenläufen (in diesem Song sind Klez.e ihren großen Vorbilder am nächsten, ohne sie vollends zu kopieren). Was folgt ist eine klare Kapitalismuskritik. Denn "Heute soll das enden. Ich ließ mich von euch blenden".
Klez.e haben den vielleicht düstersten Hauptstadtsong ever geschaffen. Ideal kreierten in "Berlin" noch eine neongrelle Sightseeing-Tour in Schallgeschwindigkeit, Seeed gaben in "Dickes B" der Stadt einen coolen, marihuanaumwölkten Anstrich, und deren Sänger Peter Fox traf später in "Schwarz zu Blau" ein weiteres Mal punktgenau das Gefühl einer Metropole, deren Slogan "arm aber sexy" nicht nur so dahergesagt ist. Bei Siebert scheint Berlin aber nun mehr ein emotionales Trümmerfeld zu sein.
Nein, die "blühenden Landschaften" sind das nicht, was wir hier hören. Eher die klanggewordenen, kargen Weiten der brandenburgischen Steppe, in der eine Industrie-Ruine nach der anderen die hohlen Versprechungen eines vermeintlich besseren Gesellschaftssystems Lügen straft. Auf den glückseligen Taumel einer weidervereinten Nation folgt die endgültige Ernüchterung. "Euer Krieg, verkeilt und so alt, versteckt im Wirtschaftswald" mahnt Siebert ein weiteres Mal in "Nachtfahrt" zum Nachdenken. Es ist alles so trostlos, das selbst die geschickt eingewobene "Schicksalsmelodie" aus "Lovestory" sämtlichen Schmalz und Schmelz verliert und sich zur bittersüßen Todesfuge transformiert.
"Desintegration" ist ein politisches Album, ohne zu politisieren. Allerdings setzen die Jungs Triggerpunkte. Einen Song mit den Worten "So kalt, arrogant, wir erleben eine neue Distanz" zu beginnen, ihn "November" zu nennen und damit auf den deutschen Schicksalsmonat par excellence zu verweisen, lässt keine Zweifel offen, dass dieses Album sich auch als Mahnmal einer neuen Zeit versteht, in der sich die Gesellschaft nicht zum Guten entwickelt. "Die Welt in Wehen im November 2015, so chronisch, so akut". Klez.e zeigen uns nur den Status Quo, verändern müssen wir ihn aber schon selbst.
Deutlichere Worte findet das Trio in "Schwarz": "Dieser Fluch wird belebt, weil im Überfluß Großwesten nichts versteht" lautet die Kritik. Damit spielen sie auf den stärker werdenden Rechtsextremismus an, den Deutschland seit 1945 wohl nie richtig verwunden hat und im Zuge des Wirtschaftswunders auch gut zu verbergen wusste. Doch Wohlstand macht auch argwöhnisch. Die Quittung für unser Leben in Saus und Braus muss nun beglichen werden. Der in dem Song geäußerte Wunsch nach Antidepressiva verhallt demnach auch wie ungehört.
2016 verdeutlichte uns, in welch fatale Richtung sich unsere Welt bewegt. Karies und Klez.e haben die Zeichen erkannt und ihre eigene Interpretation dazu abgeliefert. Aus unterkühlter Zwischenmenschlichkeit und gesellschaftlicher Abschottung zeichnen beide gruppen ein erschreckendes Bild, so nüchtern und verdrießlich wie nur was. "Es geht sich aus" und "Desintegration" versprechen kaum Hoffnung, aber wenigstens letztgenanntes Album lässt sich das nicht einfach so gefallen. "Draußen vor den Türen, fangen wir an, im Schlamm zu stehen. Weil Pflastersteine so schön schweben. Ich fühle auch in mir ein Beben." Auf dass dieses Beben nie aufhört.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 06.02.17 | KONTAKT | WEITER: QUO VADIS POPMUSIK? TEIL III: MUTMACHENDE PROGNOSEN>
Webseiten:
www.facebook.com/kariessksechzig
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COVER © Thischarmingman/Cargo Records (Karies), Staatsakt/Caroline International (Klez.e)
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