SIEBEN "EACH DIVINE SPARK", "NO LESS THAN ALL": DICHTER, DENKER, VIRTUOSE - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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SIEBEN "EACH DIVINE SPARK", "NO LESS THAN ALL": DICHTER, DENKER, VIRTUOSE

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Denkt man an zeitgenössische Geigenmusik, breitet sich vor dem geistigen Auge ein grausiges Schreckensszenario solch bogenschwingender Musik-Mutanten aus – angefangen mit David Garrett, dem penetrant auf cool getrimmten Fidler in schwül-erotischer Kurt Cobain vs. Jesus-Optik, über den bräsigen Schwiegermutterliebling André Rieu, bis hin zur nervtötend platisch-elastischen Dubstep-Geigen-Barbie Lindsey Stirling.

Dass es trotz dieser Irrungen und Wirrungen des modernen Musik-Marketings auch anders geht, dafür ist Matt Howden alias Sieben nun schon seit mehr als 15 Jahren der eindrucksvolle Beweis.

Der charismatische Brite taucht in gotischen Gazetten zwar höchstens mal am Rande auf, erspielte sich dank ungekünstelter Herzlichkeit und ehrlicher Publikumsnähe jedoch einen treuen Fankreis, der seine folkig-experimentellen Werke nach wie vor mit großer Dankbarkeit empfängt. Wer bisher noch nicht in den einzigartigen Genuss seiner Spielkunst gekommen ist, sollte sich zumindest die beiden letzten Alben "No Less Than All" (2012) und "Each Divine Spark" (2014) zur Gemüte führen, um einen ersten Einblick in den spannenden Kosmos von Sieben zu erhalten.

Eigentlich sollte Matt viel mehr Menschen mit seiner Musik erreichen, als er es in den letzten Jahren vermutlich getan hat. Ihn als bisher ungekrönten König des Violin-Crossover zu bezeichnen, wäre sicher keine Untertreibung.

Zwischen Sieben und sein musikalisches Werkzeug passt, im wahrsten Sinne des Wortes, kein Blatt; im virtuosen Spiel scheint die Seele Matt Howdens immer wieder seinen Körper zu verlassen und vollkommen auf sein Instrument überzugehen, mit dem der eigenwillige Künstler vielschichtige Songs wie kleine Wunder generiert.

Der Mann aus Sheffield ist der krasse Gegenentwurf zum oberflächlich egomanen Proto-Typus des modern-medienwirksamen Musik-"Stars", der auch jenseits der großen Bühne jeden Moment allein zur narzisstischen Selbstbespiegelung nutzt. Keiner dieser gähnend langweiligen, weichgespülten Profilneurotiker mit auf kommerzielle Breitenwirksamkeit getrimmtem Null-Charakter; aber auch kein verkopfter, drög dozierender Musik-Professor, der sich als Hüter einen irgendwie heiligen Grals betrachtet und sich sogar für sein eigenes Publikums zu gut ist.

Matt Howden ist ein Mensch, der gerne Musik macht – und sich nach all den Jahren noch immer wahnsinnig darüber freuen kann, wenn sich jemand für das begeistert,
was er da tut. Fleischgewordenenes, britisches Understatement, angereichert mit einer ordentlichen Portion Herz und Humor.

Seine Person stellt der Mann, der Sieben ist, nur allzu gerne in den Hintergrund und lässt dafür
lieber die Musik für sich sprechen: "As The Octaves Rise, Sound Become Light, I'm Struck Colour-Blind, Music Is Also Night", so die spirituelle Präambel des Openers "Music Is Light" aus "No Less Than All".

Auf seiner rastlosen Suche nach dem Besonderen im Klang fördert Matt Howden immer wieder neue, bisher ungekannte Pfade jenseits der großen, bekannten Wege der Instrumental-Kunst zutage, die sich fernab jeglicher Konventionen bewegen.


Dieses Prinzip zieht sich wie ein roter Faden durch das Oeuvre des fidelen Fidlers, der mit ungebrochener Spielfreude, Lust und Energie bereits ganze elf Studioalben eingespielt hat.

Für zaghaftere Gemüter und schreckhafte Ohren bietet "No Less Than All" den deutlich leichteren Zugang zu Howdens erfreulich verschrobener Klangwelt.


Hier arbeitet der Künstler mit klar definierten Rock-Strukturen. Perlende Geigentöne werden durch elektronische Verzerrer gejagt und erhalten so den Charme einer Fuzz-Gitarre. Nackte Basslinien und klare Rhythmen füllen die Songs vergleichsweise üppig auf. "I Saw A Face" und vor allem das bluesig-dreckige "Vonnegut", erinnern dabei entfernt an die kontemplativen Elektro-Kompositionen eines späten Martin L. Gores
.

Das Album klingt gleichermaßen nach Roadmovie, Route 66 und tiefer Melancholie. Die dunklen Brauntöne des Covers, welche die undeutliche Silhouette eines Körpers im Zwielicht abbildet, intensivieren dieses Gefühl einer über alles erhabenen Tiefe: Hier wirkt alles angenehm schummrig und wenig konkret.

Man kann nicht einfach so zugreifen und passiv konsumieren. Musik ist keine Ware im Sieben-Kosmos. Obgleich Matt Howden sein Instrument mit spielerischer Leichtigkeit zu beherrschen scheint, hat der Künstler nie seine Ehrfurcht und den Respekt vor seinem klangreichen Partner verloren.


So sind die meisten Anhänger seiner Kunst fernab des Mainstreams zu finden.

Auch der noch lebendige Teil der Gothic-Szene kann sich für die schwermütigen Kompositionen Matt Howdens begeistern, die das dunkle Herz der Schwarzkittelträger regelmäßig auf Höchstfrequenz bringt. Und auch Matt selbst zeigt Sympathie für diese Gegenkultur, der er durch regelmäßige Gastspiele auf einschlägigen Festivals verbunden bleibt.

Nicht zuletzt zeugt die herrlich unspektakuläre, aber dafür umso wahrhaftigere Coverversion von Joy Divisions "Transmission", das der Brite selbst sein Herz an die kultivierte Hoffnungslosigkeit und Melancholie der Weltschmerz-Gemeinde verloren hat.


"No Less Than All" klingt, im Vergleich zu seinem deutlich experimenteller gehaltenen Nachfolger "Each Divine Spark", wie ein leises Zugeständnis an die weniger experimentierfreudige Hörerschaft.
Vielleicht hat Matt Howden diesen Stimmungswechsel aber auch für seine eigene Seele gebracht, die untrennbar mit seinem Schaffen verbunden ist. Beiden Werke liegt jedenfalls ein ganz besonderer Zauber inne.

Das aktuelle Album verlässt gängige Songstrukturen und wurde auf die Quintessenz aus Matts Schaffen eingedampft. Wie das simple, aber dennoch ausdrucksstarke Cover: Auf schwarzem Grund ist ein Blitz zu sehen, an dessen Spitze ein Kerzenlicht flackert. Ein göttlicher Funke, der nur für den Augenblick besteht und mit diesem vergehen wird.

Auf "Each Divine Spark" besteht das rhythmische Element nun mehr aus kunstvoll übereinander gelegten Loops, die der Violinist durch das Zupfen der Saiten generiert. Darüber lässt Matt Howden dann sein Instrument erklingen: Rein, unverfälscht und voller Poesie. Der große Unterschied zwischen "No Less Than All" und "Each Divine Spark" besteht vor allem im Auslassen von althergebrachten Strophe-Refrain-Strophe-Konstruktionen. Die Energie holen sich die Lieder aus den repetitiven, mantragleichen Momenten.

Geradezu exemplarisch für diese Technik: "All In Vain".

Beginnend mit einer einfachen Loop-Sequenz, breitet Matt seine Klangteppiche Schicht für Schicht aus, sodass der Zuhörer am Ende voller Ehrfurcht auf eine dicke "Wall of Sound" blickt. Der Musiker selbst erzählt seine Texte mehr, als dass er sie singt. Das macht sein Werk nicht nur authentisch, sondern verleiht ihm einen geradezu religiösen Touch.

Auf "Each Divine Spark" lässt uns Matt Howden ohne Furcht in die tiefsten Tiefen seiner Gedanken blicken – von den allzu starren Regeln der Musikindustrie hat sich der Künstler längst befreit.

Nur darauf bedacht, die magische Stimmung des Moments einzufangen, wird Sieben zum Hohepriester seiner eigenen Kompositionen, der Zuhörer zum Besucher dieser intimen Messe.


Noch eine Spur unkonventioneller geht es übrigens mit dem aktuellen Projekt RASP
zu, dass Matt Howden gemeinsam mit der Cellistin Jo Quail ins Leben gerufen hat. Das Besondere: Innerhalb von zwei Tagen haben die beiden Musiker ihr Album "Radiate Power Words" erdacht und aufgenommen, ohne noch einmal etwas daran zu ändern – unperfekte Perfektion.

Kein Zweifel: Matt lebt für seine Kunst, die er immer wieder neu für sich zu entdecken weiß. Dabei findet er zu ungewöhnlichen Kompositionen, die für den geneigten Hörer als eine Art Kabinett der Kuriositäten fungiert. Hinter jeder Ecke und Kante liegt eine klangliche Überraschung verborgen, die nur darauf wartet, entdeckt zu werden. Diese seltene Qualität schätzen nicht nur die Kollegen von Faun, die zu den musikalischen Kontakten des Briten zählen.


Es scheint nur konsequent, dass der leicht verschmitzt dreinblickende Brite seine Werke im Selbstverlag,
ohne große Plattenfirma oder pompöses Marketing im Rücken, veröffentlicht. Wer sich für die Klangkunst von Sieben interessiert, wird in den Vertriebssystemen der gängigen Online-Marktplätze nicht fündig werden; dafür bietet der Webshop seines eigenen Labels Redroom Records die Möglichkeit, CDs beim Künstler selbst zu bestellen und darüber hinaus vielleicht sogar via Mail den persönlichen Auszutausch zu wagen.

In seiner Musik macht Matt Howden keine Kompromisse - und das ist nicht nur gut, sondern auch verdammt mutig.

Dass die künstlerische Freiheit, und nicht der schnelle Profit, für ihn das Wichtigste ist, schenkt uns Hoffnung für das Neue Jahr: Es gibt sie offensichtlich - entgegen aller Unkenrufe - also auch im Jahre 2015 noch, die quietschlebendige Subkultur. Ein Grund mehr, Künstler wie Sieben auf ihrem Weg zu unterstützen und mit allen Sinnen zu erleben, was jenseits des tumb tröpfelnden Mainstreams noch so alles möglich ist...

||TEXT: DANIEL DRESSLER / ANTJE BISSINGER | DATUM: 12.01.15 |  KONTAKT |  WEITER: MATT HOWDEN (RASP) IM INTERVIEW >

Website
www.matthowden.com

Weitere Links
Sieben auf Bandcamp
Matt Howden auf Bandcamp
Matt Howden/Sieben auf Facebook

COVER © REDROOM RECORDS; FOTOS © CHRIS SAUNDERS, ANDY WERNER (LIVE-AUFNAHMEN).

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