10/17: A MILLION MACHINES, BOYTRONIC, DAVE CLARKE, SUNSET NEON, VAINERZ - MENSCH-MASCHINEN-MUSIK VON A BIS V
Das Jahr ist ertragreich gewesen - musikalisch betrachtet. Selbst die letzten Wochen des langsam scheidenden 2017 halten einige wunderbare Alben parat, die der geneigte Liebhaber und Connaisseur elektronischer Musik, anschmiegsamer wie widerborstiger Art, schnellstens seinem Archiv zufügen sollte. Zur Erleichterung gehen wir alphabetisch vor.
Und fangen an mit A Million Machines. Schon der Name allein verspricht jede Menge elektronisches Feingefühl. Und sie halten es ein. Mehr noch: Das selbstbetitelte Debüt scheint wie aus einer Zeitkapsel entsprungen, die ihre Reise in den frühen 1980ern angetreten hat. Nur das etwas schroffe, mit hitzigen Drum'n'Bass-Sprotzern unterfütterte "Tech Support" verrät seine aktuelle Herkunft. Und auch die an "20Hz" von Covenant erinnernde Verschränkung von Viervertelbeats und einer Melodie im Dreivierteltakt ist eher den aktuellen Klangverständnissen angelehnt. Davon abgesehen bringen A Million Machines das Gefühl der frühen Synthie-Pop-Alben von Depeche Mode, The Human League oder OMD wieder, als die pure Begeisterung der ersten experimentellen Songs dem Drang nach melodiöser Maschinenmusik gewichen ist. Erstaunlicherweise ist A Million Machines kein englisches oder skandinavisches Projekt, sondern stammt aus Los Angeles. Sänger Fate Fatal dürfte dem einen oder anderen noch durch The Deep Eynde ein Begriff sein. Während er dort aber eher den punkigen Bad Boy mimt, zeigt er sich zusammen mit Mitmusiker MIG offensichtlich popaffin - und auf der Bandcamp-Seite mit Sonnebrille und Lederjacke crockett-mäßig. So sind "Syntheitc Eyes", "Ceremony" oder auch das animierende "Come Tonight" musikgewordene Schulterpolsterjacketts. Synthie-Pop in dieser Reinkultur gibt es sonst nur bei Elegant Machinery oder ähnlichen Retro-Elektronikern zu hören. A Million Machines könnte ihnen nun diesen Thron streitig machen, zumal sie in Stücken wie "Virtuality" mit Samples und einer düsteren Atmosphäre spielen und auch sonst nicht zu reinen Schema-F-Fetischisten mutieren. So könnte man "Ultraflesh" als Weiterführung von Soft Cells "Sex Dwarf" interpretieren. Vor allem Fatals müheloser wiewohl einnehmender Gesang rundet eine überaus gelungene Platte ab, die den Synthie-Pop ein weiteres Mal aufleben lässt.
Auch wieder unter den Lebenden sind Boytronic, deren Überhit "You" natürlich auf keinem 80er-Zusammenschnitt fehlen darf. Über die Jahrzehnte tauchten sie immer wieder mal auf, zuletzt 2006, um ihr Album "Dependence" abzuliefern. Der große Erfolg blieb aus und Sänger Holger Wobker trennte sich daraufhin wieder von Hayo Lewerentz, der seit dem Krebstod von Urmitglied Peter Sawatzki das musikalischen Ruder in der Hand hält. Auch für das neue Album "Jewel" steht der ausdrucksstarke Sänger nicht zur Verfügung. Doch mit dem Engländer James Knights wurde ein ebenbürtiger Ersatz gefunden. Knights' gleichfalls glockenklares Organ brachte er bereits unter anderem bei seinem Projekt Scarlet Soho zu Gehör. Das neue magische Dreieck Lewerentz, Knights und Mitmusiker Ingo Hauss arbeiten hörbar auf einer Sägezahn-Wellenlänge. Denn die neuen Songs sind in ihrer Künstlichkeit ein Rückgriff auf ihr fulminantes Debüt "The Working Model", gleichzeitig auch ein Neuanfang mit bewusst gegenwärtigen Klängen. Man muss sich einfach nur "Disco City" anhören, ein Retro-Synthie-Song, in dem die so typischen Streicherarrangements aus jener Glitzerkugel-Ära als verwaschenes Zitat auftauchen, während ein Vocoder davon erzählt, eben nach Disco City zu fahren. Ein "Funky Town" für das 21. Jahrhundert. Ansonsten zeigt sich das Dreiergespann erstaunlich entspannt und wenig zimperlich, wenn es darum geht, mit dem Synthie-Pop-Erbe zu spielen. So könnte das Titellied in Aufbau und Harmonik eines dieser weltberühmten Depeche-Mode-Schmusesongs sein, bei dem sich Martin Gore gerne als Sänger versucht. Auch "Time After Midnight" verweist in seiner Melodiefolge auf den Visage-Klassiker "The Damned Don't Cry", ohne ihn aber komplett zu übernehmen. Im Vergleich zu dem teilweise schwer verdaulichen "Dependence", findet Boytronic auf "Jewel" zur klanglichen Leichtigkeit zurück, was sie zu wunderbaren Nummern wie "Mad Love" inspiriert, auf der sich verrückte Sounds über eine groovige Bassfigur definieren. Ohne Übertreibung kann man "Jewel" auch als selbiges bezeichnen. Boytronic haben ihr bestes Werk seit "The Working Model" abgeliefert. Dass sie sich dann am Ende etwas vorhersehbar an U2s "New Year's Day" rangewagt haben, ist nicht zwingend nötig gewesen, aber angesichts durchgehend schlüssiger und begeisternder Nummern geschenkt.
Wenn schon unbedingt einen alten Song neu interpretieren, dann doch bitte mit Chuzpe und Einfallsreichtum. Wie es Dave Clarke mit "Is Vic There?" auf seinem neuesten Album "The Desecration Of Desire", dem ersten nach einer gefühlten Ewigkeit, getan hat. Der Post-Punk-Klassiker von Department S wird vom britischen Musikproduzenten komplett zerschlagen und zur Geisterstunden-Elektro-Nummer umfunktioniert, bei dem nur noch der Text, provokant monoton vorgetragen von Louisahhh, als einzige Referenz dient. Die Coverversion verdeutlicht noch einmal Clarkes musikalische Sozialisation, die sich nicht zuletzt auch durch die an Alben von Joy Division erinnernde Coverästhetik manifestiert und fernab von den schneidigen Disco-Tempeln befindet. Tatsächlich ist "Desecration Of Desire" ein amtliches Gothic-Album, das von jeder Menge elektronischem Schmutz und Dreck überschüttet worden ist. Gerade "Charcoal Eyes", welches im Text (vorgetragen von Rauhbein Mark Lanegan) verschiedene Düster-Klassiker wie "She's Lost Control" von Joy Division oder "Gary Gilmore's Eyes" von The Adverts einbaut, ist der letzte Beweis für Clarkes Faible für die Schwarze Szene (diese könnte durch den, leider nicht auf dem Album enthaltenen, Terence-Fixmer-Remix mit einer irrsinnigen EBM-Figur schnell Kontakt zu Clarke aufnehmen). Einziger Lichtpunkt ist "Plasmatic", eine, mit seinen funkigen Disco-Loops, an Armand Van Helden erinnernde Nummer, die ein wenig Dekadenz durchscheinen lässt. Ansonsten kommt das Werk einem gebückten Gang durch einen Kohlebergwerk gleich. Die Lunge ist von Feinstaub bedeckt, die Sicht durch die schwach leuchtenden Laternen eingeschränkt. Es ist beklemmend, aber gleichzeitig auch unglaublich spannend, wie sich elektronische Musik von seiner dunkelsten Seite zeigen kann, ohne in dumpfe Hellectro- oder Aggrotech-Muster zu verfallen. So wie bei "I'm Not Afraid": Eine Bassfigur und ein schleppendes Schlagwerk reichen aus, um eine unheimlich-surreale Atmosphäre zu kreieren - und Clarke zum neuen Meister der Unterwelt-Elektronik avancieren zu lassen.
Aus diesen subbassigen Tiefen katapultieren wir uns wieder ins Licht - und landen bei Sunset Neon, einem Ableger vom Musikproduzenten Bret aus Los Angeles. Im Windschatten seines Kumpels Klayton, der mit seinen Projekten Celldweller und Scandroid für Aufhorchen sorgt, verläuft Brets Laufbahn frappierend ähnlich ab. Klayton avanciert mit seinem Projekt Celldweller zum Electronic-Rock-Giganten, ehe er mit seinem Seitenprojekt Scandroid glasklaren Synth-Wave zu produzieren begonnen hat. Bret wiederum ist als Blue Stahli ebenfalls in rockig-elektronischen Gefilden unterwegs, zeigt sich nun aber als Sunset Neon und mit seinem Debüt "Starlight" extrem vom synthesizerbasierten 80s-Funk beeinflusst. Auch hier muss übrigens wieder ein alter Hit dran glauben. "Kiss" von Prince erfährt in der Sunset-Neon-Variation allerdings wenig Veränderung. Selbst die fistelig-ejakulativen Gesänge des Superstars selig wurden erstaunlich gut imitert. Interessanter sind aber doch die eigenen Kompositionen, die wie in "Lazer Pink" den French House mit aufpolierten Beats, jeder Menge Breaks und Helium-Gesängen einmal mehr befeuert. Daneben lassen "Got You" und "Everything" die fast schon kitschigen Bilder von Teenager-Gangs aufleben, die sich um einen Ghettoblaster herum versammelt haben und die fettesten Breakdance-Battles abliefern. Aber die 80er, das waren auch Vokuhila und Minipli. Sunset Neon hat diesen leicht dumpfbackigen Trend nicht vergessen und kredenzt mit "Never Dance Again" und vor allem "Tonight" astreinen, schweiißgetränkten Disco-Rock der Marke "Twilight Zone" von Golden Earring oder "Turn Me Loose" von Loverboy. Mehr noch als bei seinen anderen Retro-Synth-Kollegen schlägt auf "Starlight" aber das Herz für die aktuellen technischen Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung durch. Die Sounds und Melodien verweisen natürlich auf die goldene Popdekade, bleiben aber letzten Endes schmückendes Beiwerk und werden durch verschiedene Effekte und einer komprimierten Aufnahmetechnik, wie sie nur heutzutage möglich ist, unmissvertändlich in der Gegenwart verankert. Das macht Sunset Neon zu einem permanenten Wandler zwischen zwei Welten.
Standfest und unmissverständlich hingegen mutet "Patient" des deutsch-ungarischen Projekts Vainerz an. Ihr Sound zelebriert das hiesige Verständnis von elektronischer Musik im Geiste von De/Vision und Camouflage, mit einigen skandinavischen Future-Pop-Schlenkern in Richtung Colony 5. Seit ihrem fünfjährigen Bestehen ist "Patient" das zweite Album des Duos, das bereits einige musikalische Aktivitäten vorweisen kann. Insbesondere Musiker Rico F. Piller schaffte als Mitglied von D.-Pressiv und später unter dem Alias P24 einige Achtungserfolge in der Szene. Seine musikalischen Vorstellungen sind klar umrissen und finden im Sänger Mario Förster den passenden "partner in crime". Denn sein klarer Bariton, den er bereits dem Projekt Never Endless schenkte, fügt sich nahtlos in die Piller'schen Kompositionen ein und hat einige spannende Synergien freiwerden lassen. Dabei ist der latent umherwabernde Weltschmerz in allen zehn Nummern fühlbar, wird aber besonders beim Titelsong durch eine erhebende Melodiefigur im Refrain pointiert herausstellt. Gerade gegen Ende ihres Albums finden sich die sowohl musikalisch wie auch gesanglich spannendsten Songs. "Shining On" und "Oblivion" leben dabei vom attraktiven Gegensatz aus groovigen Beats mit feiner EBM-Kante und den wie über allen Dingen schwebenden Gesängen. Was Vainerz mit "Patient" gelungen ist, kan man als die Rückbesinnung auf die einstigen Tugenden melancholisch gefärbten, gleichzeitig aber auch tanzbaren Synthie-Pops bezeichnen. Ein bisschen Selbstfeierei in "Follow The Sound" ist daher durchaus legitim. Denn wenn ein Sound wie der von Vainerz so klar nachvollziehbar und gleichzeitig spannend ist, dann muss man ihm folgen - gespannt der Dinge, die da hoffentlich noch vom Duo Piller/Förster zu hören sein werden. Doch wie es der Titel sagt: "Patient". Geduld, Geduld, alles wird sich zeigen.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 16.11.17 | KONTAKT | WEITER: INTERVIEW MIT ACHIM REICHEL>
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Webseiten:
www.amillionmachines.com
www.facebook.com/boytronicmusic
www.daveclarke.com
www.sunsetneon.bandcamp.com
www.vainerz.com
Cover © A Million Machines, Oblivion/SPV (Boytronic), Skint/Warner/BMG (Dave Clarke), FiXT (Sunset Neon), RGK/Believe Digital/Nova MD (Vainerz)
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