EWIAN: "ICH KANN MICH NOCH GUT AN MEINE AUSBILDUNG ALS MEDIENGESTALTER ERINNERN - ANSTATT AUFGABEN ZU ERLEDIGEN, HABE ICH HEIMLICH GEDICHTE GESCHRIEBEN"
Das letzte Album "Of Those Who Drown To Live" liegt fast ein Jahr zurück. Das Interview dazu sollte bereits Ende 2018 erscheinen. Doch Ewian hat sich Zeit gelassen. Zum einen, weil er jede Frage ausführlich zu beantworten versucht, zum anderen, weil er sich nach Veröffentlichung seines vierten Werkes innerhalb von weniger als vier Jahren eine künstlerische Pause verordnet hat. Da bleibt natürlich viel Raum für ein Gespräch über Hochsensibilität, Spiritualität und den vorsichtigen Umgang mit Musikvideos.
Hallo Ewian. "Of Those Who Drown To Live" - ein sehr klangvoller, poetischer Titel. Wer sind diese Menschen, über die Du da singst?
Dazu muss ich etwas weiter ausholen: Ich erwähnte bereits in einem früheren Interview mit einem anderen Magazin, dass die Geschichte von "Of Those Who Drown to Live" auf ein modernes Märchens basiert, das ich vor langer Zeit begonnen habe, zu schreiben, aber unvollendet geblieben ist. Es weist starke autobiographische Züge auf. Dementsprechend ist auch das Album in dieser Weise geprägt. Zum jetzigen Zeitpunkt gehe ich davon aus, dass das Märchen nie veröffentlicht wird, daher kann ich den Inhalt an dieser Stelle preisgeben. "Von Ewian, der ertrank" wird aus der Sicht eines jungen Erwachsenen (Mateusz) erzählt, dessen Freund Elias in eine Art Wachkoma fällt. Alle Versuche, ihn aus diesem Zustand zu befreien, scheitern schon im Ansatz. Was Mateusz und die Ärzte nicht ahnen können: Elias befindet sich nicht in einem gewöhnlichen Wachkoma. Personen auf der ganzen Welt sind vom selben Phänomen betroffen und gehen in eine Art virtuellen Äther über, in dem sie miteinander verbunden sind. Dort erschaffen sie einen eigenen Kosmos auf der Basis physikalischer Gesetze, die sich von den uns bekannten unterscheiden. Die Schaffensmöglichen scheinen schier unendlich, ein Verlassen dieses Äthers kann nur durch Eines geschehen: Erkenntnis – die Erkenntnis, dass auch diese Welt nur ein virtuelles Konstrukt ist. Elias gelangt letztenendes zu diesem Wissen und schreitet zur Tat. Im Zentrum dieses Kosmos gibt es eine Stadt, durch dessen Kern ein Fluss fließt. Nur das Ertrinken in diesem Fluss ermöglicht eine Rückkehr – und damit ein Erwachen aus dem Koma. Und damit zurück zur Frage – der Albumtitel "Of Those Who Drown to Live" erzählt von denen, die Kraft der Erkenntnis ertrinken, den "Nexus" überschreiten und so ins Leben zurückkehren.
Es ist das vierte Ewian-Album und wirkt im Vergleich zu den Vorgängern etwas ruhiger, nachdenklicher und musikalisch auch experimenteller. War es eine bewusste Entscheidung, nach dem eingängigeren "Heart Crash Boom Bang" wieder etwas "anspruchsvolleres" zu machen?
Grundsätzlich versuche ich, jedem Album eine besondere Note zu verleihen. Von daher war es eine bewußte Entscheidung. Während der Entwicklung des Konzepts von "Of Those Who Drown to Live" kristallisierte sich mehr und mehr das hohe Anspruchsniveau heraus. Ein prägendes Merkmal der Albumentstehung war, dass die Idee dafür bereits lange vor dem Release von "Heart Crash Boom Bang" im Raum stand. Schon 2016 drehte ich vorab die Videos für die Songs "The Sweet Ones, the Evil Ones" und "Vast". Direkt nach der Veröffentlichung von "Heart Crash Boom Bang" begann ich mit der Feinjustierung des Konzepts. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, dass die Thematik komplex und vielschichtig sein würde; insbesondere die kohärente Zusammenfügung aller Elemente war herausfordernd – dementsprechend ist die Musik ein Abbild dieses Umstands. Damit die Geschichte des Albums adäquat widergespiegelt wird, musste das Album auf der musikalischen Stilebene inhomogen werden, was einige Musikkritiker auch bemängelten. Während der Recordingphase habe ich immer wieder nach einer Lösung gesucht, welche die beiden Komponenten Albumstory und Homogenität vereint – "scheiterte" jedoch. Die Zusammenfügung wäre das i-Tüpfelchen gewesen, schien mir aber von Anfang an als nicht umsetzbar. Unabhängig vom Aspekt der Homogenität habe ich bestimmte Stilmittel bewußt eingesetzt, um die "Albumfärbung" deutlicher herauszustellen. Dazu gehören ein minimalistischer Gesang ohne Effekte, um die Intimität und Nähe aufgrund des biographischen Fokus zu verstärken, der Einsatz von 3d-Sounds, um die Atmosphäre zu verdichten, sowie ein höheres Gewicht von akustischen Sounds gegenüber verzerrten, da nicht Chaos oder Destruktivität, sondern Konstruktivität bzw. das Flair eines modernen Märchens im Mittelpunkt steht.
Ein Märchen, das aber stark autobiografisch ist...
Ja, das ist wahr. Ich habe mich dazu durchgerungen, diesmal meiner eigenen Biographie ein starkes Gewicht zu geben, was sich durch alle Songs hindurch zieht. Die persönlichsten Stücke sind "The Sweet Ones the Evil Ones", "Vast", "Box Of Pandora", "Paradise Lost" und "Drown To Live", wobei alle inhaltlich miteinander verwoben sind. Ein zentrales Thema dabei ist m(eine) persönliche Entwicklung der Wahrnehmungsweise der Welt: zu Beginn hypersensibel, chaotisch und abstrakt. Eine Auswirkung dieser Art der Perzeption ist ein erschwerter Umgang im Alltag. Das habe ich zu spüren bekommen. Ich konnte kleinere Alltags- oder Arbeitstätigkeiten sowie längere Gespräche aufgrund von mangelnder "Reizfilterkompetenz" nur schwer durchführen. Ich kann mich noch gut an meine Ausbildung zum Mediengestalter erinnern – anstatt Aufgaben zu erledigen, habe ich heimlich Gedichte geschrieben – das war sozusagen mein Anker im Meer der Reizüberflutung. Der "falsch" geeichte Reizfilter bewirkt zudem sogar manchmal, dass Informationen ins Gehirn strömen, von denen man glaubt, dass sie von außen kommen, wobei diese in Wirklichkeit von einem selbst konstruiert werden. Der Film "Das weiße Rauschen" mit Daniel Brühl in der Hauptrolle illustriert das ziemlich gut. Natürliche Geräuschquellen von außen hören sich plötzlich an wie Stimmen. Hinzu kamen unkontrollierte Phasen der Dissoziation. Mit all dem hatte ich zu kämpfen. Mit der Zeit entwickelte ich Techniken um der Wahrnehmung Struktur zu verleihen, die ich mehr und mehr verbesserte und einübte. Dazu gehört beispielsweise nicht zuerst die gemeinsamen Merkmale von Dingen zu erkennen sondern die differenzierenden – das schafft Ordnung. Ich denke heute bin ich in der Lage zwischen beiden Formen der Wahrnehmung hin und her zu switchen. Die abstrakt-chaotische hilft mir bei der Kunst und dem Verständnis von philosophischen Konzepten, die strukturierte erleichtert mir den Alltag.
Ist das abschließende "See You In Heaven" die künstlerische Verarbeitung eines persönlichen Schicksalsschlages?
Nein. Es ist eine hoffnungsvolle Aussicht für das, was nach dem Tod kommt.
Das Album kommt zusammen mit einer aufwändigen Video-Strecke: Zu jedem Song gibt es einen Clip, der eine komplette Geschichte erzählt. Was hat Dich auf diese Idee gebracht?
Ganz einfach: Ich wollte schon immer mal ein Album produzieren, bei dem es zu jedem Song ein Musikvideo gibt. Während der Entwicklung des Konzepts von "Of Those Who Drown to Live" war mir irgendwann klar: Dieses Album muss dafür "herhalten", es schreit förmlich nach einer Videostory.
Generell gefragt: Wie wichtig sind Optik und Akustik in Verbindung?
Das ist ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite ist es möglich, durch visuelle Untermalung den emo-kognitiven Effekt eines Songs zu verstärken – wenn einem die Kohärenz von Optik und Akustik gelingt. Gelingt dies nicht, kann auf der anderen Seite die Wirkung des Songs zerstört werden. Darüberhinaus nimmt ein Musikvideo dem Song immer etwas vorweg, was sich auch negativ auswirken kann. Angenommen, ein Hörer hat sich über lange Zeit in einen Song eingefühlt und verbindet bestimmte Emotionen und Bilder damit. Eines Tages sieht er das Musikvideo dazu und stellt fest, dass dieses nichts gemein hat mit seinen Vorstellungen. Das kann enttäuschen denke ich. Von daher versuche ich (ab jetzt verstärkt) ausgewogen und vorsichtig mit Musikvideos umzugehen – von der aktuellen Videostory abgesehen natürlich, denn hier ist die visuelle Darbietung ja das Kernkonzept.
Insgesamt fühlt sich "Of Those Who Drown To Live" für mich wie ein spirituelles "carpe diem" an, eine Feier des Lebens, allerdings mit Blick auf das Individuum im kosmischen Kontext. Vielleicht in Deinen eigenen Worten: Was ist für Dich der Sinn des Lebens?
Das trifft es ziemlich gut. Das Album beschreibt die Entfaltung des Selbst in verschiedenen Kontexten, u. a. dem gewaltigsten aller Kontexte, dem Kosmos. Das geschieht nicht linear, sondern parallel. Um ein vereinfachtes Bild zu verwenden: Wenn das Selbst eine Lotusblume ist, dann entfalten sich die einzelnen Facetten parallel wie die einzelnen Blätter. Diese Selbstentfaltung geschieht natürlich nur unter bestimmten Bedingungen, manchmal tritt sie auf der Stelle, manchmal ist sie sogar desktruktiv. Was den Sinn des Lebens betrifft: Diese Frage ist seit jeher allgemein, so dass die meisten sie erstmal auffächern nach Zweck, Ziel, Wert, Nutzen oder Bedeutung. Nimmt man dann noch die Perspektive hinzu und die verschiedenen Definitionen was Leben überhaupt sein könnte, ergeben sich endlose Antworten auf diese Frage. Postuliert man den Menschen als Sinnträger, ist der Sinn z. B. aus spiritueller Sicht die oben beschriebene Selbstentfaltung, aus religiöser Sicht eine Prüfung einer höheren Instanz, aus evolutionärer Sicht die Weiterentwicklung der Art, aus soziokultureller Sicht die Gemeinschaft, und so weiter. Aus philosophischer Sicht läßt sich diese Frage daher nicht beantworten. Für mich hat sich die Frage nach dem Sinn des Lebens immer nur aus der Metaebene gestellt: Warum gibt es überhaupt Leben an sich im Universum? Meine persönliche Vorstellung hierzu (auf die ich natürlich keinen Anspruch erhebe): Nur weil es das absolute Chaos auch gibt. Beide Zustände koexistieren. Die Frage danach, wann das alles begonnen hat und was vor dem Beginn war (also das Henne-Ei-Problem), stellt sich nicht, wenn Zeit nicht existiert. Denn dann gibt es weder einen Anfang noch etwas vor dem Anfang oder ein Ende oder etwas nach dem Ende. Ist außerdem der Raum unendlich in Richtung des Makro- und Mikrokosmos und gehen ineinander über, so läßt sich das Universum und damit das Leben einfach beschreiben als einen Zustand mit einem bestimmten Grad an Chaos bzw. perfekter Ordnung. Das System strebt entweder in Richtung Ordnung = Leben oder Chaos = Tod. Allerdings war meiner Ansicht nach das Leben nie geplant. Alles was wir heute in unserer Welt wahrnehmen und darüber hinaus über das Universum annehmen, hat sich aus sich selbst heraus entwickelt durch eine voranschreitende Interaktion riesiger Informationsmengen, denen Gesetze innewohnen, die zum gegenseitigen Zeitpunkt Ordnung anzustreben scheinen.
Vier Alben innerhalb von nicht mal vier Jahren klingt natürlich sehr zeitaufwändig, zeigt aber auch, dass Deine kreative Ader mächtig pulsiert. Kann man da einfach für sich beschließen, weniger Zeit zu investieren? Schließlich sind Künstler im Idealfall immer in einem fortwährenden Schaffensdrang und -prozess. Was wird sich konkret ändern?
Ab dem Release von "Of Those Who Drown to Live" für mindestens drei Jahre kein Album mehr. Also bis Juni 2021. Ich weiß nicht ob andere Künstler einfach so beschließen können, weniger aktiv zu sein, aber ich für mich habe einen Arbeitsmodus definiert: Jede aufpoppende Idee, die wertvoll ist, diktiere ich mir auf das Handy und archiviere sie – mehr nicht. Vor Ende 2019 gehe ich nicht ins Studio. Das ziehe ich so durch.
Gibt es etwas, was Du vielleicht in der „Ewian-freien Zeit“ unternehmen möchtest? Quasi ein Herzenswunsch oder Lebenstraum, den Du Dir selbst erfüllen willst?
Einen alten VW-Bus kaufen und ein bißchen durch die Gegend tingeln...mal schauen, ob das klappt.
|| INTERVIEW: DANIEL DRESSLER | DATUM: 16.04.19 | KONTAKT | WEITER: MICHAEL ROTHER VS. RUDOLF HEIMANN VS. B. ASHRA >
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