"WACKEN 3D - DER FILM": AUSNAHMEZUSTAND HOCH DREI - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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"WACKEN 3D - DER FILM": AUSNAHMEZUSTAND HOCH DREI

Zelluloid

Beschaulich und unaufgeregt muss es in Wacken noch bis 1990 zugegangen sein: Das putzige Städtchen mit nicht einmal 2000 Einwohnern besaß höchstens für Archäologen einen gewissen Anreiz, da in unmittelbarer Nähe Überreste germanischer Siedlungen entdeckt worden waren. Ansonsten war der Alltag eher durch norddeutsche Gelassenheit geprägt.

Bis - ja, bis die beiden Jungs Thomas Jensen und Holger Hübner auf die Idee kamen, in Wacken einige regionale Hard-Rock-Bands auftreten zu lassen. Die einstige Kiesgruben-Veranstaltung mit wenigen hundert Besuchern hat sich inzwischen zum größten Open-Air-Festival der Heavy-Metal-Szene gemausert, das jährlich über 80.000 Fans aus allen Ecken und Enden dieser Welt rekrutiert.

Zum 25. Geburtstag des "W:O:A" kredenzt uns Regisseur Norbert Heitker mit "Wacken 3D - Der Film" nun den ultimativen Blick auf den viertägigen Wahnsinn.

Am Ende steuert die cineastische Huldigung auf einen großartigen Höhepunkt zu: In Superzeitlupe sieht man die Mosher und Metalheads auf dem von heftigem Gewitter aufgeweichten Boden ins Nirvana driften. Matschpartikel fliegen filigran an den völlig verdreckten, ekstatischen Gesichtern der Headbanger vorbei, während Maria Callas
"Un bel di vedremo" aus Puccinis Oper "Madame Butterfly" aus den Lautsprechern schmettert. Die Sequenz vereint in sich die Woodstock'sche Utopie einer klassenlosen Festivalgemeinde mit der rituellen Freude des, mittlerweile arg kommerzialisierten, Holi-Festes aus Indien, bei dem Menschen Farbpulver in die Menge werfen.

Auf Wacken ist es zwar Schlamm, der herumfliegt, die fast schon spirituell zu nennende Freude ist aber die gleiche.

Spätestens an diesem Punkt dürfte jedem noch so Unwissenden klar sein, welche Dimension das "Wacken Open Air"mittlerweile angenommen hat. Als Pilgerstätte für all die jenigen, die sich ihrer Biedermeierei für ein paar Tage entledigen wollen, lockt das Spektakel Menschen aus aller Herren Länder. Hier darf pubertärer Blödsinn veranstaltet, hemmungslos Bier gesoffen und zu dröhnenden Gitarrensounds abgespackt werden. Erlaubt ist, was Spaß macht!

All diese Momente arbeitete Heitker in seiner Dokumentation deutlich heraus. Bereits durch diverse Musikclips, darunter auch "Engel" von Rammstein
, konnte er sein Gespür für visuell überbordende Aufnahmen unter Beweis stellen. Dank neuester 3-D-Technik und großzügigem Budget erhält der Zuschauer hier einen unmittelbaren und intimen Einblick in eine Welt, die erwachsene Menschen wieder zu feierwütigen Teenagern mutieren lässt.

Zwar ist "Wacken 3D" nicht die erste filmische Berichterstattung dieses kollektiven Ausnahmezustandes, aber das bei weitem unterhaltsamste Festival-Movie zum Thema.

Bereits zehn Jahre zuvor setzte Regisseurin Cho Sung-hyung mit "Full Metal Village" dem W:O:A ein erstes cineastisches Denkmal – und wurde dafür prompt mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet. Allerdings legte sie den Fokus auf das Verhältnis zwischen den Ortsansässigen und den überfallartigen Horden der eisenharten Männer und Frauen.

Rund fünf Jahre später machte auch die Low-Budget-Produktion "Metaller, die auf Brüste starren" von sich reden. Thorsten Hänseler
und Dmitry April filmten sich und andere Wacken-Besucher – handwerklich stümperhaft, aber voll von kindlichem Spaß, der das Wesen der Wacken-Gemeinde präzise offenlegt.

Bei Norbert Heitker kommt dieser anarchische Witz wohl dosiert vor. Neben den brillanten Live-Aufnahmen sowie einigen launischen Interviews, unter anderem mit Alice Cooper
oder Scott Ian von Anthrax, blickt der Film auf das närrische Treiben der "ach-so-bösen" Metalheads. Schnell wird klar: Die wollen alle nur spielen! Sie belagern das örtliche Freibad und tanzen Polonäse zu den heimeligen Klängen einer Blaskapelle oder animieren auf dem Gelände andere Fans dazu, eine gepflegte Rutschpartie auf einer mit Schmierseife ausgelegten Plastikplane hinzulegen.

Wie bei jedem Feiermarathon, so gilt auch hier: Nach dem Konzert ist vor dem Konzert.

Der Film fängt nicht nur die lauten Momente ein, sondern blickt liebevoll auf die rustikale Fangemeinde, die am Morgen nach dem Inferno bleischwer in ihren Klappstühlen sitzt und kaffeeschlürfend ihren Kreislauf anzukurbeln versucht. Ein Bild des Friedens und gleichzeitig der Ruhe vor dem nächsten Sturm, den spätestens der frühe Nachmittag erwarten lässt.


Nicht unerwähnt lassen sollte man die Tatsache, dass Wacken vor allem für junge Musiker ein wichtiges Karrieresprungbrett ist.


Die Veranstalter wollen nicht nur den Status Quo sichern, sondern auch den nachkommenden Generationen eine Plattform bieten. So treten beim "Metal Battle" hoffnungsvolle Bands auf, die sich im Vorentscheid ihres jeweiligen Lands durchsetzen konnten. Dem Gewinner winkt unter anderem ein Plattenvertrag.

Auch für dieses interne Ereignis nimmt sich der Film Zeit. Er begleitet unter anderem Rotten State
aus Uruguay und Nine Treasures aus der Mongolei, die ihrem Auftritt voller Vorfreude entgegenfiebern - und am Ende gemeinsam mit den großen Vorbildern im Backstagebereich abhängen und jammen. Gewonnen haben am Ende zwar andere; aber gerade hier zählt: Dabei sein ist alles.

Objektiv betrachtet, mutet "Wacken 3D" natürlich auch wie ein Imagefilm gigantischen Ausmaßes an: Panoramaaufnahmen, ausladende Kranfahrten über das Gelände, "Wackööön"-brüllende Menschen mit freundlich nickendem, aufblasbarem Plastik-Penis in der Hand.

Norbert Heitker zeigt die Sonnenseiten des Festivals, das Generationen übergreifend glücklich macht. Da bejubelt das Jungvolk die magischen Akkorde von Deep Purples "Smoke On The Water", und geradezu rührend beschreiben Vater und Sohn, wie der gemeinsame Besuch des Metal-Mekkas sie einander näher gebracht hat.

Heitker blendet, bei aller Freude, aber auch vieles ganz bewusst aus.

Beispielsweise den Auftritt von Heino, der für kontroverse Diskussionen sorgte. Oder auch der vom Alkohol völlig zerfressene Motörhead-Frontmann Lemmy Kilmister, der seinen Gig in der sengenden Hitze nach einer halben Stunde abbrechen musste, weil das Herz nicht mehr so recht mitspielen wollte.

Auch dass "W:O:A" zu einer für die Region wichtigen Einnahmequelle geworden ist und Kritiker seit langem die immer stärkere Kommerzialisierung anprangern, lässt die Dokumentation geflissentlich außen vor. Das alles sind störende Nebengeräusche, die durch Höllenlärm und ballermannesken Blödsinn einfach im Keim erstickt wurden. Doch will man es dem Film übel nehmen? Nein! Krittelei gehört zum Geschäft, und wer es unbedingt braucht, soll schlußendlich doch einfach seine eigene Doku über die Schattenseiten von Wackens drehen!

In diesem Moment geben wir uns nur der dröhnenden Gitarren und der großen Show hin.

Und erblicken während der Interviews hier und da auch die Logos von "zdf.kultur" und "arte"  – ein gut sichtbares Indiz dafür, dass diese Subkultur schon längst ihre Fühler zu den behaglichen Ohrensessel des Bildungsbürgertums ausgestreckt hat – ob die Metalheads das nun wahrhaben wollen oder auch nicht. Den Schrecken hat das Wacken Open Air schon längst verloren, die Energie dieses Events jedoch ist immer wieder beeindruckend.

Oder um mit den Worten von Alice Cooper zu schließen: "Du kannst die Menschen nicht mehr schocken. Aber du kannst sie unterhalten". Das tut Wacken jedenfalls zweifelsfrei - ob nun live, oder als Festival-to-go in der heimischen Flimmerkiste.

||TEXT: DANIEL DRESSLER  | DATUM: 16.01.15 |  KONTAKT |  WEITER: ANTON CORBIJN "DEPECHE MODE LIVE IN BERLIN" BOX >





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EXTRAS
:
Interviews (nur Blu-Ray), Entfallene Szenen (nur Blu-Ray), Making Of Featurette, Trailer
LÄNGE:
ca. 92 Minuten
SPRACHEN:
Deutsch, Englisch, Audiodeskription für Sehgeschädigte
UNTERTITEL:
Deutsch, Deutsch für Hörgeschädigte
FSK:
Ab 6 Jahren


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Website
www.wacken3d-film.de


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