DIE NERVEN "WIR WAREN HIER" - NEUES DEUTSCHES UNWOHLSEIN - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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DIE NERVEN "WIR WAREN HIER" - NEUES DEUTSCHES UNWOHLSEIN

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Manchmal kann ein Album anhand nur einer einzigen Zeile definiert werden. Bei Die Nerven und ihrem aktuellen Werk "Wir waren hier" geht das nicht - beziehungsweise: es geht viel zu leicht. Denn auf "Wir waren hier" beinhaltet jeder Song eine markante Line, welche die Stimmung dieser Platte auf ihre Quintessenz eindampft. "Ich fühl' mich so fremd" ("Wie man es nennt"), "Ein Hoch auf die Jugend, zum Glück ist sie vorbei" ("Achtzehn"), "Wir waren hier, keine Pflanze, kein Tier, war so wertvoll wie wir" ("Wir waren hier") - einen reichen Zitatenschatz hält dieses sechste Album bereit; es sollte aber nicht auf ein solches reduziert werden. Dafür ist die Welt zu sehr am Arsch, als dass man mit ein paar Nerven-Bonmots auf einer Indie-Party um sich werfen sollte. "Wir waren hier" ist ein moralisches Album geworden, ohne zu belehren.

Die Marschrichtung ist jedoch klar: Der Mensch hat sich die Erde Untertan gemacht und beutet sie weiter aus. Doch sehenden Auges führt uns diese Lebensweise in die große Katastrophe, die das Ende unserer Spezies bedeuten würde. Und was bleibt von uns übrig, wenn wir nicht mehr sind? Ein großer Müllberg, den Die Nerven auf ihrem Albumcover prangen lassen. Doch wie gesagt: Der moralische Zeigefinger bleibt in der Hosentasche, denn der kompaktierte Abfall auf der Europalette wirkt nicht bedrohlich, sondern wie ein Exponat einer postmodernen Vernissage. Die Kunst will nicht richtiges Leben im falschen bieten, aber anregen, darüber nachzudenken, was man ändern könnte. Die Nerven haben das visuell klasse hinbekommen, akustisch natürlich sowieso.

Nachdruck verleihen sie ihren Gedanken nach typischer Nerven-Manier. Im Kreuzfeuer aus Post-Punk, Noise und Indie-Rock, schaffen es die Herren Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn vor allem zu Beginn der Platte einen ultimativ dystopischen Klang zu formen. Der Eskapismus-Klopper "Als ich davonlief" fängt fies an: Nach einem Einzählen ist erst einmal Pause, ehe, in Anlehnung an System Of A Down, die schrammelnden Gitarren lossägen, um unvermittelt wie mit einem Hackebeil unterbrochen zu werden. Von gleichsam großer Dringlichkeit und vielleicht noch größerer Perspektivlosigkeit ist das nachfolgende "Das Glas zerbricht und ich gleich mit", der einem manischen Tanz am Abgrund gleichkommt. Es ist wie das letzte große Halali auf eine dem Tod geweihten Gesellschaft, die das große Fressen hinter sich hat und nun langsam und lemminggleich ihrem Exitus entgegenrennt.

Doch die Raserei kann nicht auf ganzer Strecke gehalten werden. Nach den großen Wutausbrüchen zu Beginn von "Wir waren hier", dürfen die Gitarren bei "Wie man es nennt" Melodien beigeben, die an Riegers Seitenprojekt All Diese Gewalt erinnern. Auch "Achtzehn" hat mit seinen Streichern im Finale fast schon eine Butterigkeit wie die Teenie-Emo-Songs von Echt. Lieblicher wird es allerdings nicht mehr. "Bis ans Meer" mit seiner grollenden Basslinie gibt sich wieder betont angriffslustig. Gift und Galle versprüht "Ich will nicht mehr funktiionieren", das allen Erfolgsyuppies und Start-Up-Schnöseln mit ihrer fein austarierten Work-Life-Balance mal gepflegt den Mittelfinger entgegengestreckt.

Eigentlich ist "Wir waren hier" so etwas wie ein Borderline-Album. Momente der größten Depression und des blinden Furors wechseln sich ab mit ruhigen, geradezu liebevollen Passagen. Doch über allen schwebt die Gefahr des großen Zusammenbruchs des Individuums, des Kollektivs, des gesamten Planeten. Der Longplayer funktioniert daher auf vielen Ebenen. Als künstlerische Aufarbeitung einer Welt, deren Ende manchmal näher zu sein scheint, als einem lieb ist, aber auch als persönlicher Soundtrack, der einem zwar kein gutes Gefühl vermittelt, aber einen Glauben lässt, dass man mit seiner Hoffnungslosigkeit nicht allein ist. Denn die Nerven waren (auch) hier.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 01.10.24 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 10/24>

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