RICHARD H. KIRK "#7489 (COLLECTED WORKS 1974-1989)" VS. SANDOZ "#9294 (COLLECTED WORKS 1992-1994)" VS. SIGNAL BRUIT "PLANISPHÈRE(S)": AVANTGARDE GESTERN UND HEUTE - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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RICHARD H. KIRK "#7489 (COLLECTED WORKS 1974-1989)" VS. SANDOZ "#9294 (COLLECTED WORKS 1992-1994)" VS. SIGNAL BRUIT "PLANISPHÈRE(S)": AVANTGARDE GESTERN UND HEUTE

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Nicht selten neigt der gemeine Nostalgiker dazu, Sätze tonnenschwer mit "Früher" zu beginnen, um sie mit dem unausweichlichen "war alles besser" enden zu lassen. Das ist natürlich Quatsch. Früher war nicht unbedingt alles besser. Vielleicht war die damalige Zeit aus heutiger Sicht charmanter, weil sie enormen Erfindungsgeist benötigte, um an ein Ziel zu gelangen.

Bestes Beispiel: die elektronische Klangerzeugung. Dank fortschrittlichster Technik werden heutzutage ungewollte Fehler oder Zufälle weitestgehend eliminiert. Dementsprechend unspektakulär verlaufen die "Konzerte" solcher Künstler ab: Laptop aufgeklappt (meist jenes mit dem beleuchteten Apfel auf der Bildschirmwand), auf den Button gedrückt, Musik fährt ab, begleitet von einer Armada zuckender Lichter, die das eher statische Auftreten des Hohepriesters über Bass Drums und Sequenzen übertünchen wollen. Vorhersehbar und in geregelten Bahnen liefern diese Helden der Gegenwart einen in sich stimmigen wie gleichsam wenig aufregenden Beweis ihres Könnens ab.


Vor 40 Jahren sah das noch völlig anders aus!


Da wusste man bisweilen nicht, ob der Mensch das Instrumentarium beherrscht oder umgekehrt. Denn aufgrund der Anfälligkeit der Röhren und Transistoren konnten diese Maschinen sehr zickig sein. Ein Wassertropfen hier, eine zu hohe Luftfeuchtigkeit dort: Schon entwich kein Ton mehr aus den monströs-schweren Synthesizer-Bauten (diverse Live-Bootlegs, wie beispielsweise von Kraftwerk, belegen die Ausfälle). Aber wenn dann mal alles lief, erzeugten diese Geräte eine unglaubliche Spannung. Es rumpelte, es fiepte, es klang bisweilen asynchron. Und doch hatte man das Gefühl, dass hier die Zukunft zu hören war.

Allein, nicht jeder war für die Zukunft bereit. Synthesizer-Musik war ein stetiger Kampf. Nicht nur gegen eine noch unausgereifte Technik, sondern auch gegen die Erwartungen des Publikums. Einer, der sich diesem annahm, war Richard H. Kirk. Als treibende Kraft hinter dem Experimental-Elektro-Trio Cabaret Voltaire ging er anno 1973 mit seinen industriell wirkenden Geräuschcollagen auf die Menschen los und dahin wo es wirklich weh tut. Cabaret Voltaire wurden buchstäblich von der Bühne geprügelt. Mitglied Stephen Mallinder trug bei einem dieser rüden Abende sogar einen gebrochenen Rückenwirbel davon.

Während die Band also mit reichlich Schmerzen an ihrem Ausnahmestatus bastelten, zog sich Kirk auch immer wieder zurück, um seine musikalischen Visionen alleine zu verwirklichen. Eine Menge Musik und Lärm hat sich da im Laufe der Zeit angesammelt, die nun als zwei opulente Boxen endlich zusammengefasst erschienen sind. Während "#7489" auf acht CDs jene Stücke präsentiert, die er unter seinem bürgerlichen Namen zwischen 1974 und 1989 veröffentlicht hat, ist "#9294" ein langersehntes, fünf Silberlinge umfassendes Kompendium seiner ersten Werke, welche Kirk als Sandoz herausbrachte und besonders hier in Deutschland kaum noch zu bekommen sind.

Wir erwähnten oben den Kampf zwischen Mensch und (Musik-)Maschine. Und dieser scheint sich gerade bei den frühen Stücken Kirks zu manifestieren. Zwar ist "Disposable Half-Truths" von 1980 das offizielle Debüt des mittlerweile 60-jährigen, aber das quasi-chronologisch angereihte Doppelalbum "Earlier/Later" gibt beredten Aufschluss darüber, welche Entwicklungsstadien der Klangsucher durchlief. Gerade die in den mittleren 1970ern entstandenen Stücke warten mit spacig-verwaschenen Klängen und jeder Menge Rauschen der Kassettenrekorder auf, was die Unmittelbarkeit dieser Toncollagen nur intensiviert.

Mit so knappen Stücken wie "Concerto For Broken Piano" und "Zyklus 1" oder dem "Cosmic Override 2", das eine Endlosschleife einer kratzenden Plattennadel darstellt, verweist er überdies auf die damalige Hochkultur der Moderne. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sich Kirk intensiv mit der Fluxus-Bewegung und der elektronischen respektive seriellen Musik eines Karlheinz Stockhausen beschäftigt hat. Viele seiner Frühwerke haben diesen Anspruch, als Untermalung für psychedelische Video- und Rauminstallationen dienen zu können oder generell Teil einer futuristischen Vernissage zu sein.

Im weiteren Verlauf seiner Karriere wandelt sich sein Klangbild. Kirk wird zunehmend perkussiver. Stücke wie "Trabantenstadt", "Zukunft" und "El" aus dem Jahre 1981 scheppern unter monotonen Schlagwerk durch die Boxen, während Melodien als solche fast nicht mehr wahrnehmbar sind. Hier wird Kraftwerks "Metall auf Metall" weitergedacht und intensiviert. Als 1983 "Time High Fiction" erscheint, eckt er mit seinem Wirken immer noch an, aber seine Songs bedienen auch den (Szene)Geschmack dieses Jahrzehnts. "Black Honeymoon" beispielsweise macht schon sehr viel Zugeständnisse an seine Hörer und zähmt die dissonanten Momente, indem er sie harmonisch in das Rhythmuskorsett einbindet. Auch "Nocturnal Children" ist für den Minimal-Wave-Verfechter mittlerweile leicht verdauliche Kost.

Mitte der 80er greift dann die Sample-Technik in die Popmusik ein und Musikproduzenten wie Trevor Horn nutzen dieses, um seinen Gruppen Art Of Noise oder Frankie Goes To Hollywood einen unverwechselbaren Stempel aufzudrücken. Kirk scheint sehr davon beeinflusst zu sein, denn mit "Black Jesus Voice" treibt er genau diese Spielchen weiter: Sprach- und Gesangsaufnahmen werden durch die Samplerkasten gejagt und wie zufällig auf einen funkig-fiebrigen Elektro-Rhythmus geworfen. Im Gegensatz zu den Horn-Produktionen sucht Kirk aber immer wieder die unvorhersehbaren Hakenschläge, sodass die Stücke nicht zu wohlfeilen Disco-Nummern verkommen, sondern immer noch im Kern die Technik als solche und ihre subversiv-künstlerische Kraft sichtbar wird.

Dass "Black Jesus Voice" noch im gleichen Jahr von dem wieder sehr anspruchsvollen Industrial-Album "Ugly Spirits" flankiert wurde, zeigt einmal mehr, wie leicht es dem Briten fällt, zwischen abstrakter Kunst und kommerziell freundlicheren Alben hin- und her zu pendeln. Die in den späten 80ern veröffentlichten Stücke, welche auf der zweiten CD von "Earlier/Later" zu hören sind, verweisen aber bereits auf den weiteren Werdegang Kirks: In den 90ern widmet er sich zunehmend der Techno-Szene, die er dann unter dem Pseudonym Sandoz mit seinen Alben bereichert.

Besonders in der ersten Hälfte der 90er Jahre zeigt sich Kirk auf dem Zenit seiner Schaffenskraft. Weiterhin für Cabaret Voltaire aktiv, veröffentlichte er sowohl unter seinem Namen wie auch beim Projekt Electronic Eye Musik. Seine zweifelsohne intensivsten Stücke brachte er aber in dieser Zeit unter Sandoz heraus. Konzentrierter Minimal-Trance, grooviger House und entspannter Ambient gehen bei den Alben "Digital Lifeforms Part I" und "Part II" mühelos ineinander über.

Seine Soundtüfteleien haben dabei ein besonderes Hauptaugenmerk: Die Tracks werden mit afrikanischen Musiken vermengt. Eigentlich einleuchtend, denn welcher Musikstil, wenn nicht Techno, ist in seiner hypnotisierend archaischen Struktur näher an den stammesvölkischen Gesängen und Rhythmen der Wüstenbewohner dran. Kirk lässt diese beiden Welten ineinander gleiten und führt damit den Homo sapiens in die Wiege seiner Existenz zurück.

Anno 1995 haben Leftfield mit "Leftism" eben jene Melange aus afrikanischen Rhythmen und elektronischer Soundflächen in kommerzialisierter Form veröffentlicht. Die Musikpresse geriet damals in helle Verzückung und sprach von einem äußerst innovativen Werk. Dass Sandoz mit seinen "Digital Lifeforms" und wenig später dem etwas dunkleren "Intensely Radioactive" bereits zwei Jahre zuvor dieses Kunststück quasi in Serie herstellte, schien kaum einen zu interessieren. Schenkt man aber "Drum Meditation" oder "Inner Rhythms" Gehör, wird schnell deutlich, welchen Einfluss Sandoz auf die Szene gehabt haben muss.

Bei "Dark Continent", das allein dem Titel nach eine noch stärkere Hinwendung auf afroamerikanische Rhythmen vermuten lässt, schlägt der Soundwizard jedoch abermals andere Wege ein: Weiterhin zwischen House und Trance angesiedelt, werden die Stücke etwas härter, oder wie man damals sagte: "raviger". Besonders "Your Mind" und "Gun (Time Will Come)" preschen mit mehr Tempo voran und führen erneut die Wandelbarkeit dieses Mannes vor Augen. Kirk lässt sich niemals von einem Trend vereinnahmen, wiewohl er sich blendend darauf versteht, ihn zu bedienen. Mit "Runs The Voodoo Down" enthält die ausführliche Werkschau zudem ein weiteres Sandoz-Album mit unveröffentlichtem Material.

Von den rumpelnden Störgeräuschen hin zu einer klaren, linearen Klangarchitektur: Richard H. Kirk zählt ohne Zweifel zu den wichtigsten Avantgardisten und kreativsten Köpfen im elektronischen Sektor. Und wie so oft sind es gerade die Vordenker, die kaum Beachtung finden. Insofern sind "#7489" und "#9294" mehr als wichtig, um die subversive Kraft dieser Musik im Kontext seiner Zeit zu verstehen.

Richtet sich der Blick auf aktuelle Produktionen, scheint sich schnell Ernüchterung breit zu machen. Eintönigkeit besetzt die oberen Chartsplätze. Stylisch-urbane DJ-Produktionen laufen in ihrer hoch-aufgelösten Monstranz zu oft ins Leere und hinterlassen nichts als einen schalen Geschmack von Langeweile. Dabei sind aber nicht die Instrumente oder Musikprogramme die Schuldigen, sondern immer noch der Mensch, der sie mit wenig Ideen zum klingen bringt.

Kurzum: Es fehlt an übergreifenden Konzepten, an interessanten Einfällen. An der Oberfläche sind sie nicht zu finden. Dringt man aber etwas weiter darunter, finden sich die Freigeister, die nach neuen Wegen suchen - und sie auch finden. Member U-0176, am ehesten noch durch seine Minimal-Synthie-Pop-Band Celluloide bekannt, ruft mit Signal Bruit ein neues Projekt ins Leben, das er mit einem höchst eigenwilligen Instrumental-Album außerhalb sämtlicher Schubladen positioniert und ihn somit zum Avantgardisten macht. Oder sollte man besser sagen: Retrogardisten?

Schließlich benennt der Franzose als maßgeblichen Einfluss auf seine Arbeit unter anderem die Berliner Schule um die so wichtigen Tangerine Dream. Einiges ist von dieser Vorliebe auf "Planisphère(s)" zu hören: Die breiten Flächen, transparenten Klanggerüste und fein ziselierten, tönernen Skulpturen machen "Planisphère(s)" zu einem extrem kontemplativen Debüt mit Soundtrackcharakter.

Das besondere daran: Signal Bruit nimmt als Ausgangspunkt seiner Kompositionen die aus dem 19. Jahrhundert stammende, englische Satireschrift "Flatland - A Romance Of Many Dimensions" des Lehrers Edwin A. Abbott. Das skurrile Werk karikiert die viktorianische Gesellschaft und handelt von der zweidimensionalen Welt "Flatland", deren Bewohner geometrische Formen sind. Ihre Stellung im System richtet sich nach der Menge der Seiten. Je mehr, desto höher. Frauen sind einfache Linien, Arbeiter gleichschenklige Dreiecke, Gelehrte erscheinen als Fünfecke und so weiter. Die Kreise besitzen die höchste Stellung in dieser Ordnung, einem Priester gleich.

Signal Bruit setzt von dort aus seine eigene Geschichte an. "Polygones" eröffnet das Werk und beschreibt mit seinen ruhigen und klaren Synthie-Linien die Gesellschaft von "Flatland". In "Chromatistès" entdeckt das gleichnamige Polygon die Farben und Malerei. Die Bewohner Flatlands sind von dieser Innovation begeistert, die Signal Bruit durch einen abweichenden Dreiviertelbeat markiert. "Pantocyclus", ein Kreis und damit Herrscher in Flatland, geht mit aller Schärfe gegen dieses revolutionäre Verhalten vor. In militärischem Viervierteltakt und einer verdüsterten Atmosphäre spiegeln sich die bürgerlichen Unruhen plastisch wider.

In den Stücken "Révélations" und "Prométhée" greift Member U-0176 auf die Original-Geschichte zurück, die von einem Quadrat erzählt, das die dritte Dimension entdeckt und davon seine zweidimensionalen Mitbürger in Kenntnis setzen will
leider ohne Erfolg. Das musikalische Thema in "Révélations", die "Offenbarung", findet sich denn auch in "Prométhée" wieder, allerdings in abgewandelter Form. Die Modulationen stellen den vergeblichen Versuch des Quadrats dar, seine Argumente für die Dreidimensionalität aufzulisten. Am Ende bleibt ein resignierendes Rauschen übrig.

Der Musiker nimmt seine Hörer bei der Hand und gibt im Innenteil des schlicht in türkis und weiß gehaltenen Papp-Covers mit seinen Liner-Notes zu jedem der fünf Stücke die Idee hinter seinem Sound preis. Aber natürlich funktioniert "Planisphère(s)" auch ohne Anleitung. "The Geometry Of Sound And Noise" lautet die Überschrift der Pressemitteilung - und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Es ist die mathematische Strenge, von der das Album lebt (begleitet übrigens von einem wunderbaren Musikvideo, welches das audiovisuelle Konzept von Signal Bruit weiterführt).

Das neue Label Meshwork (übrigens von X-Marks The Pedwalk-Initiator Sevren Ni-Arb ins Leben gerufen) setzt mit dieser Veröffentlichung ein erstes großes Ausrufezeichen. "Planisphère(s)" bündelt in seiner Art die verloren geglaubten Tugenden elektronischer Klangerzeugung zu einem herrlich anachronistischen Meisterwerk zusammen. Man spürt förmlich den Drang von Member U-0176, sich von den aktuellen Strömungen zu lösen, um etwas neues zu schaffen.

Ganz nebenbei gelingt ihm aber das, was so immanent wichtig ist für die elektronische Musik – und was auch die Werke von Richard H. Kirk ausmacht: Er holt den Futurismus in dieses Genre zurück. Denn wenn etwas früher besser war als heute, dann der phantastische Glaube an eine Zukunft voller unbegrenzter Möglichkeiten.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 19.12.16 | KONTAKT | WEITER: INTERVIEW MIT KRISCHAN VON ROTERSAND>

Webseite:
www.richardhkirk.com
www.meshwork-music.com/project/signal-bruit

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COVER © MUTE/GOODTOGO (RICHARD H. KIRK UND SANDOZ), MESHWORK/AL!VE (SIGNAL BRUIT)

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