RATIONAL YOUTH "COLD WAR NIGHT LIFE" VS. SOFT RIOT "WHEN PUSH COMES TO SHOVE": ZAUBER DES ANFANGS
[image:image-1]Der Mensch neigt dazu, sich dem Irrglauben hinzugeben, dass im Wachstum und Fortschritt Heil und Erlösung liegt. Dabei wird oft übersehen, dass manche Sachverhalte bereits eine ästhetische Perfektion erreicht haben und jeder weitere Versuch der Optimierung eigentlich nur das Gegenteil bewirkt. Der Deutsche hat dafür diesen wunderbaren Ausdruck der "Verschlimmbesserung" entwickelt.
So wird elektronische Popmusik immer dann interessant, wenn sie sich auf ihre Wurzeln zurückbesinnt. Denn in kaum einem anderen Stadium ihrer Existenz erfüllte sie so sehr ihre eigens aufgestellten Parameter wie zu Beginn. Wie so eine Reinkultur des Synthie-Pop aussieht, kann man an vielen Alben festmachen. Der ABBA-eske Charme des vollelektronischen Meisterwerks "Dare" von The Human League von 1981 könnte ins Rennen geschickt werden wie das von einer unnachahmlich minimalen Grandezza durchzogene "Metamatic" von John Foxx, dessen Veröffentlichung auch schon wieder 40 Jahre her ist, es aber nichtsdestotrotz alterslos wirkt.
Würde man die Kanadier zu diesem Thema befragen, würden sie bestimmt das kürzlich neu aufgelegte "Cold War Night Life" von Rational Youth noch mit aufzählen - sicherlich auch, weil das Album als die erste klassische Synthie-Pop-Veröffentlichung dortzulande gehandelt wird. Dem Trio aus Montreal gelang anno 1982 mit ihrem Debüt ein beachtlicher Szene-Erfolg - sie wurden zwischenzeitlich als die kanadische Version von Kraftwerk gehandelt. Das verwundert kaum, haben Tracy Howe, Bill Vorn und Kevin Komoda mit ihrem minimal gehaltenen Popstücken sich deutlich von den Pionieren des Techno-Pop inspirieren lassen.
Zudem benutzen sie in ihrem Albumtitel "Cold War Night Life" wichtige Schlüsselworte, um das noch junge Jahrzehnt perfekt zu beschreiben. Vor einem sich vermeintlich abzeichnenden großen Showdown zwischen den Gesinnungskontrahenten NATO und Warschauer Pakt findet die junge Generation ihr Seelenheil im nihilistischen New Romantic Sound; das Nachtleben in Zeiten des Kalten Krieges scheint von einer besonderen Stimmung durchzogen gewesen zu sein. Ein carpe diemgepaart mit augelassener Partystimmung, wohlwissend, dass der ganze Laden jeden Moment hochgehen kann.
Der dekadente Tanz auf dem Pulverfass kulminiert bei Rational Youth im schummrigen "Dancing On The Berlin Wall" mit offensichtlichem "Computerwelt"-Zitat im Sound der Kanadier. Folgerichtig landet dieses Stück dann auch in den europäischen Diskotheken und mausert sich zu einem veritablen Szene-Hit. Übersee tanzte man derweil aber zu anderen Stücken, allen voran "Saturdays In Silesia" mauserte sich zu einem kanadischen Gassenhauer elektronischer Klangerzeugung.
Die restlichen Nummern leben von einem klassisch ausgeprägten Futurismus, der sich vor allem in "Coboloid Race" niederschlägt. Unter einer redundanten Melodielinie schraubt sich diese Nummer in immer höhere Sphären und erreicht eine Transzendenz ungeahnten und für damalige Zeit gewagten Ausmaßes. Wenn man sich mit "Trance" als Gattungsbegriff auseinandersetzen will, sollte man dieses Stück als Beispiel unbedingt heranziehen.
Nach diesem Überraschungserfolg hat es das Trio allerdings verpasst, ihren Weg weiter zu verfolgen. Stattdessen gab man den Verlockungen der Plattenindustrie nach; Howe blieb als letzter der Urformation übrig. Das nächste Album "Heredity" von 1985 verlor sich dann auch in beliebigem Pop, das zwar eine neue Hörerschaft anlockte, Fans der ersten Stunde allerdings ratlos zurückließ, da von dem spröden Klang analoger Elektronik mittlerweile nichts mehr zu hören war. Erst 1999 kam mit "To The Goddess Electricity" die Rückbesinnung auf ihre Stärken. Da wirkten sie aber bereits ein bisschen wie aus der Zeit gefallen.
Immerhin gilt "Cold War Night Life" als ein Meilenstein kanadischer Popmusik elektronischer Provenienz und steht als Synonym für den sorglos-kreativem Umgang mit diesem Genre. Sogar ein Online-Magazin hat sich nach diesem Album benannt - der Einfluss der Frühphase von Rational Youth hält auch nach so langer Zeit noch an.
[image:image-2]Ob Jack Duckworth früher auch mal Rational Youth gehört hat, ist nicht bekannt. Unwahrscheinlich wäre es aber nicht, denn der Mann, der sich unter dem Alias Soft Riot bereits seit einiger Zeit in der Szene aufhält, stammt ebenfalls aus Kanada - wenngleich auch auf der östlichen Seite des Landes, nämlich Vancouver.
Dort ist er aber schon lange nicht mehr. In den späten 00er Jahren siedelte er nach England über und lebt jetzt in Glasgow. Mit im Gepäck: ein bunter Strauß an Ideen, um der nach guter Synthesizermusik lechzenden Gemeinde etwas zu kredenzen, das sich abseits der üblichen Pfade bewegt und doch noch so viel Überschneidungspunkte mit tradierten Klangmustern besitzt, um nicht vollends in eine schwer nachvollziehbare Avantgarde abzudriften.
Diesen kunstvollen Spagat schaffen nur die wenigen. So wie einst Chris Corner alias IAMX versucht hat, zwischen den unmöglichsten Sounds eine dekadente New Romantic Stimmung aufzubauen (was ihm vor allem bei "The Alternative" und "Kingdom Of Welcome Addiction" unnachahmlich gelungen ist), sieht sich auch Soft Riot vor der fast schon unlösbaren Aufgabe, scheppernde Elektronik gleichzeitig amateurhaft wirken zu lassen, um dahinter aber den wahren Popgehalt seiner Nummern zu verbergen und nur kurz aufblitzen zu lassen.
"When Push Comes To Shove" nennt sich dieses wunderbare Album, das, würde man nicht wissen, dass es Ende letzen Jahres das Licht der Welt erblickt hat, auch gut hätte zur selben Zeit wie Rational Youth veröffentlicht werden können. Denn in diesem Album lebt der Zeitgeist einer Bewegung, die in der elektronischen Musik mehr ein explizites künstlerisches Ausdrucksmittel als der erhoffte Schlüssel für hohe Chartpositionen war, wieder auf.
Jene Periode also, als DAF in Düsseldorf ihren Proto-EBM auf die Menschheit losließ, Heaven 17 als ein Teil der aufblühenden Sheffield-Szene zu Beginn noch in leicht verqueren Elektro-Nummern das Human-League-Erbe hinter sich lassen wollte und Fad Gadget seine waghalsigen Performances mit nicht minder verqueren Elektro zum subkulturellen Happening avancieren ließ. Alles schien dank immer erschwinglicheren Synthesizern möglich. Selbst die völlig indsikutable Rhythmus-Sektion eines Casio-Keyboards legitimiert sich als genial-dilettantischen Stilmittel.
Solch ein Gefiepe finden wir bei "Push Comes to Shove" zwar nicht (ist ja mittlerweile auch wirklich ausgelutscht), dafür aber jede Menge andere Klänge, die es dergestalt noch nicht gegeben hat - oder zumindest seit den Synthesizer-Anfangstagen kaum noch gespielt wurden. Doch genau diese klobigen Synthie-Klangbrocken sind es, die in Verbindung mit Jacks sonorer Stimme eine herrlich schäbige Kellerproduktion vermuten lassen. Genau genommen handelt es sich aber um die siebte Soft-Riot-Veröffentlichung, was dann doch eher dafür spricht, dass Jack Duckworth ziemlich genau weiß, was er da fabriziert hat.
Und er kann sich glücklich schätzen, denn Stücke wie das fickerige "Don't Get Yourself Bent Out Of Shape" oder das brodelnde "Fate's Got A Bone To Pick You With" sind die besten Beispiele dafür, dass sich die Evolution der elektronischen Klangerzeugung zwar weiterbewegt hat, ihren höchsten Reifegrad aber an dem Punkt erhielt, als unter Rauschen und Surren Töne aus den brotkastenartigen Maschinen eine ganz neue Klangwelt eröffneten und damit den allseits beschworenen Zauber des Anfangs aufleben ließ.
Rational Youth konnte damals nicht anders, Soft Riot könnte es heutzutage dank neuester Musik-Software für den Heimrechner, der es einem ermöglicht, ohne größere Mühen ein ganzes Orchester zu generieren. Doch allein der hörbare Kampf mit der Technik, in den Synthie-Pop-Anfangstagen sicherlich noch härter als in der Gegenwart, verleiht den Nummern erst die nötige Tiefe. Es ist das entscheidende gemeinsame Moment von "Cold War Night Life" und "When Push Comes To Shove", das die 37 Jahre Altersunterschied überbrückt.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 31.01.20 | KONTAKT | WEITER: KIM WILDE RE-ISSUES>
Webseite:
www.rational-youth.com
www.softriot.com
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COVER © Universal Canada (Rational Youth), Possession Records (Soft Riot)
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