FAREWELL ENGLAND: ABGANG MIT AUSKLANG
Die Briten haben die wundervolle Gabe, ihr Land in gleichen Teilen zu lieben und zu verspotten. Und sie verstehen sich gut auf Selbstironie. So finden sich auch im Popkontext immer wieder Songs über England, die zwischen Huldigung und ätzendem Spott ein geschlossenes Stimmungsbild dieses Inselvölkchens abliefern.
PLATZ 10: BADDIEL, SKINNER & THE LIGHTNING SEEDS "THREE LIONS" (1996/98)
Der größte kulturelle Exportschlager der Briten ist zweifelsohne der Fußball. Zurecht wird England als "Mutterland" dieses populären Sports bezeichnet, auch weil hier Mitte des 19. Jahrhunderts der erste Fußballverband überhaupt gegründet wurde. Trotz vieler guter Kicker schafft es Großbritannien aber selten, bei Europa- und Weltmeisterschaften glanzvoll hervorzutreten. Meistens ist da der "Brexit" spätestens in den Achtel- oder Viertelfinalspielen beschlossene Sache. Ein Umstand, den The Lightning Seeds in ihrer mitreißenden Brit-Pop-Fußballhymne auf launige Art und Weise verhandelt haben. "So many jokes, so many sneers" und "Thirty years of hurt" müssen die Fans ertragen, denn seit dem Weltmeistertitel 1966 ist den britischen Nationalspielern nichts mehr zählbares gelungen. Nachdem die 96er Europameisterschaft vergleichsweise erfolgreich lief - erst im Halbfinale war Schluss - zeigte sich die 1998er WM-Version dieses Songs textlich deutlich positiver: aus "Thirty years of hurt" wurde "no more years of hurt". Die Hoffnung stirbt ja bekanntermaßen zuletzt, bei den Briten nach dem erneuten Achtelfinalaus dann aber doch recht schnell. Immerhin haben The Lightning Seeds mit den beiden Komiker David Baddiel und Frank Skinner ein lustiges Video gedreht, das vor allem die traditionelle Hassliebe der englischen und deutschen Fußballfans aufs Korn nimmt. Allein für diesen Videoclip sollte man die Engländer in unser Herz schließen.
PLATZ 9: ELTON JOHN "MADE IN ENGLAND" (1995)
Der Mann konnte es sich damals wirklich leisten: Reginald Kenneth Dwight hat als Elton John den Pop-Olymp erobert. In den 1970ern durch extravagante Brillengestelle und einige niedliche Glam-Rock-Nummern ins Gespräch gebracht, gelang ihm 1994 mit dem Soundtrack zu Disneys "Der König der Löwen" ein persönlicher Meilenstein, einhergehend mit dem Gewinn des Oscars für die beste Filmmusik und einem Platz in der Rock'n'Roll Hall Of Fame. Ein Jahr später dann verkündet er "I was made in England". Schon allein der Titel ist Ironie pur. Schließlich gilt immer noch "Made in Germany" als Gütesiegel für qualitativ hochwertige Produkte. Und es war Großbritannien selbst, das diese Bezeichnung Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt hat, um vermeintlch minderwertige Ware aus dem Ausland kenntlich zu machen- ein klassisches Eigentor, denn die eigenen Produkte fielen im Vergleich mit den Importen qualitativ ab. Daher sollte man sich nicht ins Bockshorn jagen und dem latent positiv bis patriotischen Duktus dieser einwandfreien Radio-Pop-Nummer auf den Leim gehen. Textlich singt John von seiner nicht ganz leichten Jugend mit einem "quit-me father" und einer "love-me mother", von seinem Leben in den USA und seiner Homosexualität. Am Ende teilt er noch mal ordentlich aus: "But the joke's on you, you never read the song, They all think they know but they all got it wrong." Dennoch weiß er auch, "If you're made in England, you're build to last". "40 Jahre Schmerz" haben ihn stark gemacht singt er zudem. Es gibt zweifelsfrei schönere Liebeserklärungen an sein Heimatland, aber selten so offenherzigere.
PLATZ 8: KATE BUSH "OH ENGLAND MY LIONHEART" (1978)
Stets umweht das britische Inselvolk auch eine eigentümliche Melancholie, die sich vor allem aus dem Festhalten musealer Rituale speist. Die seit Jahrhunderten gleich bleibenden zeremoniellen Abläufe beispielsweise in Parlament oder Königshaus mögen für Außenstehende befremdlich wirken, für viele Briten sind diese Prozeduren jedoch überaus sinnstiftend. Aber der Glanz der alten Monarchie ist längst verblasst und die sozialen Probleme mit dem Abflauen der Schwerindustrie bereitete dem Land in den frühen 1970ern große Probleme, was sich im Punk als Ausdruck kultureller wie gesellschaftlicher Unzufriedenheit auf einen dramatischen Höhepunkt hin bewegte. Inmitten dieses Taumels singt die gerade mal 20 Jahre junge Kate Bush "Oh England My Lionheart". Süße Flötentöne und liebevolle Klavierlinien umschmeicheln die immer etwas entrückt wirkende Sängerin, ein zart zripendes Cembalo gemahnt an die ruhmreiche Vorkriegszeit. Damit zeigt Bush einen typischen Wesenszug der Briten auf. "Es gehört zu unserer Attitüde, in der Vergangenheit zu leben", erklärte sie selbst einmal. "Oh England..." ist wie das Zusammentreffen einer feinen Damengesellschaft in einer viktorianischen Gartenlaube - Shakespeare-Rezitationen und adrettes Crickett-Spiel inklusive. Huetzutage zeugen nur noch die alten viktorianisch-edwardischen Prachtbauten von dieser Epoche, die Realität ist mittlerweile eine andere.
PLATZ 7: VAN MORRISON "SUMMERTIME IN ENGLAND" (1980)
Scherzhafterweise könnte man jetzt sagen, dass dieses Lied länger dauert als der besungene englische Sommer. Überhaupt klingt bei dieser 15-Minuten-Nummer eigentlich alles gar nicht so sehr nach "Great Britain". Eher springt Van Morrison auf Basis eines funkig angehauchten Schlagzeugs durch eine eher amerikanische Pop-Tradition, in der sich Folk mit teilweise discoiden Streicherarrangements und einem gospeligen Orgelpart in der Songmitte, gefolgt von einem smoothen Saxofonspiel, wundersam homogen vereinigt. "Summertime In England" passt trotz seiner 40 Jahre auf dem Buckel sehr gut in die heutige Hashtag-Generation, die sich mit Schlagwörtern rumschlägt, um ganze Beudeutungsfelder zu ergründen. Sie dürften ihre helle Freude an den ganzen klangvollen Namen großer britischer Schriftsteller wie Wordsworth, Coleridge, T. S. Eliot, William Blake, James Joyce sowie den teilweise mystisch aufgeladenen Orte Avalon, Bristol, Kendal und die St. John Kirche haben. Das alles wirkt wie eine tendenziell drogeninduzierte Fremdenführung auf dieser Insel. Doch am Ende ist es die Suche nach der Stille, die Van Morrison umtreibt: "Can you feel the silence?" fragt er denn auch flüsternd am Ende. Die Ruhe und Zurückgeworfenheit auf sich selbst findet Van Morrison in diesem Song und ein Stück weit auch in diesem Land. Dass das dazugehörige Album "Common One" seine Landsleute damals aber eher weniger interessiert hat, wird er wohl mit spirituellem Gleichmut aufgenommen haben.
PLATZ 6: LINTON KWESI JOHNSON "INGLAN IS A BITCH" (1980)
Denkt man an britische Protestsongs, fallen einem die üblichen Verdächtigen ein: Einschlägig bekannte Punk-Bands wie The Sex Pistols oder The Clash zeichneten ein düsteres Bild eines sich in seinen gesellschaftlichen Strukturen auflösenden Landes. Doch unter all dem "No Future"-Getöse werden vor allem jene übersehen, die es besonders schwer haben: afroamerikanische Einwanderer. Sie waren zu jener Zeit ganz weit unten im sozialen System. Trotz teilweise englischer Herkunft bleiben sie gebrandmarkt als Immigranten, die in Job- und Wohnungssuche zwangsläufig immer den Kürzeren ziehen. Diese Ungerechtigkeit brachte den in Jamaika geborenen Linton Kwesi Johnson zu "Inglan Is A Bitch" - einem Song mit doppelter Schlagkraft. Johnson singt nicht nur in der Sprache der jamaikanischen Einwanderer, dem Patois, sondern legt dem sonst eher geistlich geprägten Reggae auch linksradikale und soziale Themen nahe. Damit gilt "LKJ", wie er sich nennt, als Begründer der "Dub Poetry". Bei "Inglan Is A Bitch" lässt er sein lyrisches Ich nach London kommen, wo er eine schlecht bezahlte Arbeit nach der anderen verübt, um gerade mal so über die Runden zu kommen. In der letzten Strophe ist er als 55-jähriger völlig am Ende und desillusioniert. Dieser Reggae klingt nach langsam laufenden Mühlsteinen, die den Protagonisten allmählich zermalmen, eine Aussicht auf Erlösung in Form ausreichender Bezahlung und sozialer Absicherung ist nicht zu sehen. Ein seltener und gelungener Blick der Popmusik auf die britische Einwanderer-Problematik.
PLATZ 5: THE CLASH "THIS IS ENGLAND" (1985)
Das Album "Cut The Crap" gilt gemeinhin als das schlechteste von The Clash. Es wurde von den Medien zerrissen und von den Anhängern naserümpfend aufgenommen. Manch Hardcore-Fan lässt dieses Werk sogar geflissentlich völlig unter den Tisch fallen, weil bei der Aufnahme nur noch Joe Strummer von der Originalbesetzung übrig blieb. Gerade im Verlust von Gitarrist Mick Jones sahen viele das sichere Ende der Band. Gleichzeitig besitzt aber "Cut The Crap" mit "This Is England" den vielleicht galligsten und besten Song der Gruppe. Ein Stück, das mindestens genauso missverstanden wird wie das amerikanische Pendant "Born In The USA" von Bruce Springsteen, das nur ein Jahr zuvor erschienen ist. Denn beide Songs stechen sozusagen von hinten durch die Brust ins Auge. The Clash lassen trotz patriotischem Duktus im Refrain - grölende Schlachtengesange inklusive - nicht ein einziges gutes Haar an ihrer Heimat. Sie üben Kritik am Falklandkrieg ("South Atlantic wind blows"),klagen die Polizei als zu nachgiebig bei rechtsradikalen Attentaten an ("The British boots go kick them, got 'em in the head, Police ain't watchin'") und dämonisieren indirekt Margaret Thatcher, die mit dem Beschluss, wichtige Industrieorte im Land stillzulegen, eine große Arbeitslosigkeit beschworen hat ("This knife of Sheffield steel"). Strummer selbst bezeichnete "This Is England" als den letzten guten Song, danach löste sich die Band auf. Scheinbar wurde alles gesagt, was es zu sagen galt.
PLATZ 4: BILLY BRAGG "TAKE DOWN THE UNION JACK" (2002)
The Clash hat mit ihrem Wirken auch einen Teenager namens Stephen William Bragg in den Bann gezogen. Kurz nachdem er ein Konzert von ihnen gesehen hat, gründete er seine Punk-Band Riff Raff und übte sich unter dem alias Billy Bragg ebenfalls als musizierender Anarcho. Der Erfolg war überschaubar, um es milde auszudrücken. Aber Bragg war nie nur der Künstler, der in einem Elfenbeinturm residiert, sondern ein scharfer Beobachter und aktiver Kritiker seiner Heimat. Seine politische Überzeugung setzte er dabei medienwirksam um. Der Erlös seiner verkauften EP "Between The Wars" beispielsweise ging zu Gunsten der britischen Bergarbeiter, die Mitte der 80er Jahre für den Erhalt ihrer Minen fast ein ganzes Jahr streikten. Mit dem Album "England, Half English" setzte Bragg 2002 ein weiteres Mal zum großen Scharmützel gegen die britische Obrigkeit und dem allgemeinen Konservatismus an. Die Wahl seiner Waffen bei "Take Down The Union Jack": Akustikgitarre und vordergründige Lagerfeuerromantik. "Britain isn't cool, you know. It's not that great", singt er lakonisch, "It's just an economic union that's past its sell-by date". Für ihn hat dieses rückwärtsgewandte Festhalten an alten Mustern ein Geschmäckle. "Member of the British Empire. That doesn't sound too good to me", kritisiert er weiter. Kein Zweifel: Billy Bragg ist der Nationalstolz mancher Mitbürger zuwider. Man darf sich der Hoffnung hingeben, dass der Ausstieg der Engländer aus der EU den 62-jährigen bestimmt noch einmal zu solch eindringlichen Zeilen inspirieren wird.
PLATZ 3: THE WATERBOYS "OLD ENGLAND" (1985)
Waterboys' zweites Album "This Is The Sea" wurde zum Dauerbrenner in den britischen Charts. Zwar erreichte es nur Platz 37 als höchste Postiton, blieb aber fast ein halbes Jahr lang in der Hitparade. Das lag am Überraschungserfolg ihrer Auskopplung "The Whole Of The Moon". Doch interessanter auf diesem Longplayer ist zweifelsohne "Old England", das den Trick von The Clashs "This Is England" umdreht. Hier scheint man antipatriotisch den Niedergang des Landes zu beweinen. Doch das ist nicht die Inteniton von Mastermind Mike Scott. Wenn etwas "altes" geht, kommt etwas "neues". Die Waterboys besingen unter forderndem Piano, marschierendem Schlagwerk und stacheligem Saxofon mit einer fast an Hybris reichenden Selbstsicherheit die letzten vergeblichen Versuche der alten Mächte, an den Hebeln zu bleiben. "Old England" gleicht einem fratzenhaften Gemälde: "Where homes are warm and mothers sigh, where comedians laugh and babies cry, where criminals are televised politicians fraternize, Journalists are dignified and everyone is civilized, and children stare with Heroin eyes." The Waterboys lassen all das Verlogene und Dreckige hinter sich, um ein neues, glorreicheres Kapitel zu beginnen. Unüblich, das ein Stück in dieser Zeit, die stark vom kapitalistischen Thatcherismus geprägt war, so viel Optimismus versprührt. Wenigstens für eine gewisse Zeit sollten Mike Scott und seine Mannen dann auch recht behalten.
PLATZ 2: TORI AMOS "WELCOME TO ENGLAND" (2009)
Gesondert betrachtenswert ist das Verhältnis zwischen Amerika und England. Beide Länder pflegen eine sehr innige Beziehung, die Tori Amos aber nicht vordergründig zu "Welcome To England" inspirierte. Tatsächlich war es ihr Ehemann Mark Hawley, der sie diesen Song erdenken ließ. Denn er hat auf die Musikerin eingeredet, zusammen nach England überzusiedeln, um ein etwas ruhigeres Privatleben führen zu können. In erster Linie handelt dieser Song daher auch von der Idee, seine Zelte abzubrechen, in den Sack zu hauen und Familie sowie Freunde hinter sich zu lassen. Doch etwas tiefer verbergen sich grundsätzlichere Fragen, die nicht nur das Verhältnis der beiden Staaten zeigt (wie die Zeile "Your other half got himself a devil's access" - eine Anspielung auf Amerikas fragwürdiger Einsatz gegen den Terror, den die Briten unterstützt haben - offenlegt). Letzten Endes geht es aber vor allem um die Suche nach Identität, wie sie auch im Videoclip zum Song deutlich zu sehen ist. Tori Amos trägt einen glitzernen Jumpsuit mit der amerikanischen Flagge als Motiv und schreitet verschiedene Londoner Sehenswürdigkeiten mit regungslosem Gesicht ab, eingefangen in körnigen Bildern mit Super-8-Charme. Der typische Amos-Sound, ein mit Kammer-Pop gewürzter Indie-Rock, wirkt bei allem Zweifel gegenüber der neuen Heimat dann doch recht positiv. "Welcome to England (...) you better bring your own sun". Bei dem berühmten englischen Wetter ein sicherlich wertvoller Rat.
PLATZ 1: LAURA MARLING "GOODBYE ENGLAND" (2010)
Eigentlich hat dieser Song nur bedingt etwas mit England zu tun; der verschneite Inselsstaat ist lediglich Kulisse einer Begegnung zwischen einem Jungen und einem Mädchen. Doch in dieser leisen, warmen Ballade steckt tatsächlich sehr viel mehr. Man kann den Zeilen der 30-jährigen Britin auch eine Herzenswärme entnehmen, die über das Gesungene hinausgeht. Die romantische Vorstellung eines vom Schnee bedeckten Englands, in dem magische und wundervolle Dinge passieren, ist auch eine Liebeserklärung an das Land selbst, das letzen Endes auch Heimat für viele ist, egal, in welch missgünstigen Lage sich diese gerade befindet. Marling selbst hat dieses Lied geschrieben, um auch ihr eigenes Heimweh zu kurieren, wenn sie wieder eine lange Tour in ferne Länder führt. Laut der Aussage eines Konzerbesuchers erklärte Marling die Entstehung dieses Songs auf einem Konzert. Als kleines Mädchen sei sie mit ihrem Vater auf einem Hügel in der Nähe ihres Wohnortes in Hampshire spazieren gegangen; beide waren vom Ausblick derart angetan, dass der Vater seine Tochter gebeten hat, ihn dort wieder hinzubringen, wenn es mit seinem Leben zu Ende geht, damit er noch einmal der Schönheit dieser Welt bewundern kann. All diese Emotionen kommen in dieser fast schon unscheinbar zu bezeichnenden Nummer zur Geltung. "Goodbye England" klingt dabei nie nach endgültigem Abschied - eine Metapher für die Hoffnung all derer, die den Brexit nicht als ein für alle Zeiten zementiertes Faktum sehen.
||TEXT: DANIEL DRESSLER| DATUM: 03.02.20 | KONTAKT |WEITER: RATIONAL YOUTH VS. SOFT RIOT>
Covers © Epic/Sony BMG (Baddiel, Skinner & The Lightning Seeds), Rocket Record Company Ltd./Universal (Elton John), Parlophone/Warner (Kate Bush), Rhino (Van Morrison), Island/Universal (Linton Kwesi Johnson), CBS (The Clash), Cooking Vinyl (Billy Bragg), Universasl (Tori Amos), Virgin (Laura Marling)
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