DECENCE "INTERSTELLAR" VS. THEE HYPHEN "ORGANIQUE": ZURÜCK AUS DER VERSENKUNG - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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DECENCE "INTERSTELLAR" VS. THEE HYPHEN "ORGANIQUE": ZURÜCK AUS DER VERSENKUNG

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"Dieses Mal wird es keine drei Jahre dauern", meinte Decence-Chefdenker Oliver Mietzner, als wir ihn anlässlich seines Albums "Alive!" interviewten, auf die Frage, ob wieder eine lange Zeit bis zum nächsten Werk verstreichen wird. Er sollte Recht behalten, allerdings nicht im positiven Sinne: Es hat sogar drei Mal so lange gedauert. Der Musiker, der auch als Anwalt tätig ist, wird sicherlich seine Gründe dafür gehabt haben. Wir können nur mutmaßen, dass nicht nur sein Beruf, sondern die äußeren Umstände, ergo Pandemie, dazu geführt haben, dass Musik eine Zeit lang nicht an erster Stelle in Mietzners Leben stand. Ganz weg war sie aber auch nicht. Denn sonst würde er uns nicht mit diesem mächtig schönen neuen Werk namens "Interstellar" beschenken können.

Anscheinend muss es aber so sein, dass Decence den Weg des größten Widerstandes geht. Angefangen um die Jahrtausendwende, zeigte bereits die erste Auskopplung "Genesis", was die Band ausmacht: unkonventionelle Synthiemelodien mit Hang zur wagnerianischen Grandezza, über die Oliver mit lamentierendem Timbre und großer Geste singt und dabei geschickt auf der Gefühlsklaviatur spielt. Mit "The First Step" ist der Band ein mehr als nur solides Debüt gelungen. Das Problem: Kaum einer nahm Notiz von Decence.

Das war auch nicht anders bei "Constellation Gemini" (2005) und "Ianus" (2008). Decence besaß - im Gegensatz zu vielen anderen Combos in der elektronischen Musik - einen hohen Wiedererkennungswert. Trotzdem: Das Projekt blieb über die Jahre ein Geheimtipp. Mit "Interstellar" wird dies hoffentlich ein Ende haben. Die äußeren Umstände jedenfalls sind gut, denn Decence ist mittlerweile bei Infacted Recordings untergekommen, die für elektronische Musik (fast) aller Art ein gutes Händchen haben.

Aber es ist  vor allem "Interstellar" selbst, das zu begeistern weiß. Zwischen spröden Synthiesounds im Stile von Frozen Plasma sowie diversen 90s-Trance-Projekten und cineastischen Streicherwänden, arbeitete Oliver den filmischen Charakter von "Interstellar" perfekt aus. Mit dem Eröffnungsstück "Intro (New Worlds)" gibt Decence bereits die musikalische Marschrichtung an. Dabei zeigen Stücke wie "Starship", dass  auch mit schrofferen Klängen sicher hantiert wurde.

Die erhebenden Momente spart sich der Mann aus Bonn aber für seine Balladen auf. Das hat er bereits am Anfang seiner Karriere getan. "Stars" auf dem Debüt war so ein Gänsehautmoment. Diesen finden wir nun in ähnlicher Art wieder bei "Silver Linings", das die ganz große Gefühlskiste auspackt und den ruhigen Ausklang von "Interstellar" einläutet. Im Vergleich zu seinen früheren Arbeiten hat der Musiker an der filmischen Attitüde seiner Songs gefeilt. So ist auch "Thorns" mit seinem mächtigen Piano und dem dräuenden Chor im Hintergrund so etwas wie die Musik gewordene Götterdämmerung.  

Decence - ein Name, der für einen ganz eigenen Klangkosmos in der elektronischen Musik steht. "Interstellar" zeigt den Mastermind gereift und nach wie vor bereit, in kompositorische Gefilde vorzudringen, die keine andere Musikerin und kein anderer Musiker je zuvor betreten haben. Klingt pathetisch, ist aber so!

Eigentlich bestand keine Hoffnung. Member U-0176, der mittlerweile als Keyboarder von Celluloide überregional Erfolge feiert, begann seine musikalische Laufbahn unter dem Moniker Thee Hyphen. Die ersten beiden Alben "Incidental Tools Of Confusion" (1994) und "Re:sound" (1996) hat der Franzose erneut und digital aufgebrezelt in den vergangenen Jahren veröffentlicht. Nur das dritte Album "Organique" von 1998 hatte wegen vermeintlich verloren gegangener Gesangsspuren kaum Chancen auf ein Rerelease.

Doch das Glück war dem Musiker hold: Als U-0176 am Celluloide-Longplayer "Silences We Shared" arbeitete und dabei nach raren Versionen des 2004er Albums "Words Once Said" auf seinen alten Rechnern stöberte, stieß er auch auf die verschollenen Tracks von "Organique". Mithilfe von künstlicher Intelligenz ist es ihm gelungen, die Gesangsspuren aus dem Mix zu extrahieren und sie so separat in die aufgefrischten Instrumentals zu implementieren. Welch Ironie, dass ein Album mit dem Namen "Organique" erst durch KI seine Wiedergeburt erfährt.

Ein bisschen spiegelt dieser ganze Prozess aber auch die musikalische Idee hinter Thee Hyphen im Allgemeinen und "Organique" im Besonderen wieder. Der Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird hier deutlicher als je zuvor. "Organique" besitzt durch seine experimentellen Sound den Charakter eines Songs aus der Pionierzeit der elektronischen Musik. Gleichzeitig setzt er aber bei aller Vertracktheit auch auf eine poppige Eingängigkeit, die sich immer wieder in den Kompositionen in den Vordergrund drängt.

Seinen klobigen Sounds, die ganz klar Kind seiner Zeit ist (ein bisschen EBM, ein bisschen dunkler Synth-Pop, viel perkussive Spielereien - Evil's Toy und Konsorten lassen da grüßen), stellte er einen cleanen Gesang entgegen, der sich in Duktus und Phrasierung wie ein Hybrid aus Dave Gahan und Martin Gore geriert. Das beste aus mehreren Welten vereint.

Mit der richtigen Mischung aus Experiment und Eingängigkeit ist Thee Hyphen ein Album gelungen, dass seinerzeit eigentlich viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Dank der Wiederveröffentlichung kann dieses Werk mehr als 25 Jahre nach seiner Premiere endlich zu den Ehren kommen, die es verdient. Denn Songs wie "Dual Compound", "Air Conditioned" oder "Digital" passen mittlerweile haargenau in unsere hoch technologisierte Welt.

Immer wieder ist es eine Freude, wenn totgeglaubte Projekte oder verschollene Werke unerwartet wieder auftauchen. Decence bereichert mit "Interstellar" die Sparte der elektronischen Klangerzeugung mindestens genau so sehr wie die Wiederveröffentlichung von Thee Hyphens "Organique". Und wenigstens im letzten Fall muss man zugeben: Technischer Fortschritt ist nicht immer Teufelszeug.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 11.02.25 | KONTAKT | WEITER: DINA SUMMER VS. JE T'AIME>

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COVER © INFACTED RECORDINGS (DECENCE), BOREDOM PRODUCTIONS (THEE HYPHEN)

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