3/24: GIBRISH, DELGRES, LOVE IN CAGE, ASSASSUN - WE ARE DIFFERENT! - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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3/24: GIBRISH, DELGRES, LOVE IN CAGE, ASSASSUN - WE ARE DIFFERENT!

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2024
Besser kann man die Diskrepanz zwischen Mensch und Natur nicht veranschaulichen. Die schwedische Formation Gibrish eröffnen ihr sechstes Album "Mykorrhiza" mit einer KI-Stimme, die in der Heimatsprache der Musiker über die Mykorrhizen spricht, also der Symbiose zwischen Pilzen und Pflanzen. Natur wird nicht mehr direkt erlebbar, sondern künstlich abgebildet und maschinell beschrieben. Wir verlieren immer mehr den Kontakt zu ihr, was sich auch in unserem Verhalten widerspiegelt, die dräuende Klimakatastrophe zu verdrängen. Doch Gibrish brechen aus dieser künstlich generierten Welt aus. Bereits "Det Vi Lämnar Kvar" pumpt rockig vor sich hin, während die Band uns anprangert. Wir legen die Brände, die nachkommende Generationen bekämpfen müssen. "Mykorrhiza" ist ein Umweltschutzalbum, das aber nicht so klingt. Anstatt larmoyantem Singer/Songwriter-Gedöns, das man fast schon automatisch im Hinterkopf hat, wenn es um solche Sujets geht, schlagen Gibrish einen ganz anderen Weg ein. Bluesig, jazzig, in naher Verwandtschaft zu Tom Waits, rumpeln die Jungs in den Songs herum, sind aber für stilistische Ausbrüche immer zu haben. "Massor Av Ingenting" gibt sich geschmeidig und von einem flüchtigen Tangoeinschlag berührt, "Intervju Med En Fågel" zitiert kurz den lallenden Refrain von Nick Caves und PJ Harveys Mörderballade "Henry Lee", und "Ut Med Hunden" ist eine schweinige Rock-Nummer mit morbiden Orgeltönen. Es sind die Höhepunkte eines ohnehin inkommensurablen Albums, das die Kraft der schwedischen Sprache mit eindringlicher Musik und noch eindringlicheren Texten offenlegt. "Mykorrhiza" funktioniert, auch wenn man dieser skandinavischen Sprache nicht mächtig ist. Man fühlt sie einfach.

Das gleiche gilt auch für die Band Delgres, die aus Musikern aus Frankreich und Guadeloupe besteht. Benannt haben sie sich nach Louis Delgrès, einem farbigen Freiheitskämpfer, der um 1800 gegen die Sklaverei und der Herrschaft Frankreichs über Guadeloupe vorging. Mit ihrem ersten Album "Mo Jodi" von 2018 gelang ihnen ein großartiges Werk, das zwischen Hinterhof-Blues und karibischen Klängen pendelte und durch den Sousaphonspieler Rafgee sowie Sänger Pascal Danaë, der seine Songs in kreolischer Sprache - die Sprache der Unterdrückten - mit ganz spezieller Intonation singt, nicht nur ein Alleinstellungsmerkmal enthielt, sondern auch die Jahrhunderte alten Gräben zwischen den Kolonisten und Ureinwohnern fühlbar macht. Auch wenn das dritte Album "Promis Le Ciel" nicht mehr den grobschlächtigen Sound der Anfangstage besitzt und in Produktion sowie Arrangement üppiger und ein Stück weit angepasster ist, versprühen die Songs immer noch ein Aufbegehren, wie es ihr erster kleiner Hit "Mr. President" bereits vormachte. Doch ein Stück wie "Autorisation" fängt die Gesellschaftskritik in einen spiefreudigen Rocksound auf, der so radiofreundlich wie nie zuvor ist. "Walking Alone" mit seinem gegenläufigen Gitarrenriff und dem knackigen Drumprogramming gehört sicherlich zu den auffälligsten Songs auf "Promis Le Ciel", "Pa Lese Mwen" dagegen ruft den brodelnden Blues mit vibrierenden Bassläufen auf und greift noch am ehesten auf Delgres' Ursprünge zurück. Einmal mehr singt Pascal über eigene Erfahrungen und setzt sie in Kontext mit Entwurzelung und Heimatlosigkeit, was "Promis Le Ciel" zu einer wieder einmal großartigen Platte avancieren lässt.

Im schier unüberschaubaren Wust an Bands aus dem Post-Punk- und Coldwave-Spektrum den Überblick zu behalten, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es braucht dann manchmal auch das Glück, dass nicht die Redaktion sich auf die Suche macht, sondern die Bands auf einen zukommen. Love In Cage ist so ein kleiner angemeldeter Glücksfall. Die Gruppe um Sänger Isthmaël Baudry besteht seit geraumer Zeit; das aktuelle Album "Trans-Reality" ist bereits ihr drittes. Und es ist ein großartiges. Love In Cage spielt nämlich mit den Erwartungen der Hörer so frei und nachgerade frech, dass es eine Freude ist, ihnen zuzuhören. Dominieren zu Beginn elektronische Instrumente wie beim straighten "Ma Vie Numérique" und tauchen alte 808-Pattern auf ("Avoid The Sun"), vollzieht sich auf "A Logical Secret Collection" ein krasser Stilwechsel. Die Synthesizer werden weggepackt und die Gitarren herausgeholt. Die Coldwaver werden zu einer malochenden Gitarrenband, die in "Take Me Away From Here" einen Anflug von Punk vermuten lassen. Nur um schlussendlich bei "California Desert" in einen Americana-Sound abzudriften und beim Rausschmeißer "Somewhere Else" in psychedelische Manierismen zu verfallen. Zusammengehalten wird dieser ganze Stilmischmasch von Isthmaëls seltsam tonloser Stimme, die sich immersiv in die Stücke einfügt - kühl-distanziert bei den elektronischen Nummern, seltsam entrückt während der halluzinatorisch induzierten Tracks am Schluss von "Trans-Reality". Normalerweise ist eine solcher Genrewucher kein Qualitätsmerkmal einer Platte, sondern zeugt eher von Orientierungslosigkeit. Hier allerdings merkt man sofort: Love In Cage will das so. Und das herauszuhören, ist der große Pluspunkt dieses Albums.

Geht es um außergewöhnliche Hörerlebnisse, ist Alexander Leonard Donat nicht weit. Der Mann ist und bleibt eine Ausgeburt an atemberaubenden musikalischen Ideen. Hauptsächlich durch sein Projekt Vlimmer bekannt, das es sich zur Aufgabe gemacht, den Begriff Post-Punk einer Kernsanierung zu unterziehen, lässt er unter seinem alias Assassun seinen Synthesizern - und auch seinem Gesang - freien Lauf. Diese Freiheit, die sich der Mann auf seinem neuesten Werk "Post Climax" wieder zugesteht, ist einmal mehr faszinierend. "Footnote" zuckt nervös im Raum, während sich Alexander souverän in Sprechgesang übt - eine Kombination, die zuletzt Klangstabil vor langer Zeit auf dem Werk "Shadowboy" ähnlich überzeugend präsentierte. Dazwischen sind Reminiszenzen an den großartigen Klangerfinder Fad Gadget herauszuhören ("CPR" erinnert durch die körnige Stimme an "Insecticide"), manchmal findet sich in den vertrackten, von rasenden Beats durchschossenen Songs ("If" dreht die BpM-Zahl gehörig nach oben) auch eine neoromantische Stimmung. "Spectator" würde beispielsweise allein von den Synthiemelodien einem John Foxx zur Ehre gereichen. Aber jeglicher Wohlklang ist nur kurz und plakativ gehalten, um diese tonalen Schönheiten gleich wieder zu zerschlagen. In erster Linie werden aus den Maschinen dystopische Sounds gezogen, die uns in Verbindung mit den düsteren Texten an die Flüchtigkeit unserer Lebensform gemahnen. Noch haben wir es selbst in der Hand. "Post-Climax" ist eine Noten gewordene Apokalypse, der Soundtrack zu einem Leben nach den Kipppunkten.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 19.02.24 | KONTAKT | WEITER: KARL BARTOS "THE CABINET OF DR. CALIGARI">

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                             © ||  UNTER.TON |  MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014

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