"ELECTRI_CITY - ELEKTRONISCHE MUSIK AUS DÜSSELDORF": STADT UNTER STROM, TEIL I
Die Mintropstraße in Düsseldorf - verkehrsreich, grau, ohne Prunk. Eine Straße ohne besondere Eigenschaften. Eine Gegend, die man, typ- und baugleich, wohl in jeder anderen, mittelgroßen Stadt finden könnte.
Auch das Haus Nummer 16 mit seiner ockergelben Form-Follows-Function-Fassade bildet nicht wirklich ein optisches Highlight; fügt sich relativ unaufdringlich ins Gesamtbild ein. Doch was hinter diesen unscheinbaren Mauern einst im Verborgenen geschah, hat die Welt der elektronischen Musik nachhaltig verändert.
Denn hier öffneten sich noch bis 2009 die heiligen Pforten zum legendären Kling-Klang-Studio von Kraftwerk.
Bahnbrechende Alben wie "Trans Europa Express", "Mensch-Maschine" oder "Computerwelt" wurden hier, in beschaulicher Ko-Existenz mit einem Elektroinstallations-Betrieb, erdacht.
Hier generierten die Elektro-Pop-Pioniere ihren Sound für das 21. Jahrhundert - und erklärten das beschauliche Düsseldorf mit einem spektakulären Schlag zum pulsierenden Zentrum elektronischer Klangerzeugung.
Auch auch diese international bekannte Story besitzt natürlich ihr "Davor" und "Danach", das Krupps-Musiker Rüdiger Esch mit seinem akbribischen Interview-Marathon aktuell zu Tage fördert. Ergebnis: Der sprachgewaltige Oral-History-Band "Electri_City - Elektronische Musik aus Düsseldorf".
Bei einer solchen Flut klangdurchtränkter Text-Fragmente ist es eigentlich nur konsequent, dass mit dem "Electri_City"-Soundtrack auch gleich mal der passende Ton zum Bild geliefert wird.
Wer hinter diesem reizvollen Titel jetzt eine wohltemperierte Autobahn-Fahrt durch den kraftwerk’schen Altherren-Kosmos vermutet, wird allerdings relativ schnell enttäuscht: Die sagenumwobenen Friemel-Meister wissen um ihren Mythos – und hüten sich dementsprechend auch davor, ihre musikalischen Kleinode auf inflationäre Art und Weise via Sampler-Mitspiel zu verbreiten.
Ein wenig schade zwar, aber spätestens nach Hören der Scheibe durchaus zu verschmerzen.
Schließlich rückt mit "Electri_City" endlich auch mal die andere Seite der Medaille ins Auge des Betrachters, und die kann sich auf dieser außergewöhnlichen Zusammenstellung durchaus hören lassen.
Ein Soundtrack, der nicht allein das obligatorische Mensch-Maschine-Thema verhandelt, sondern viel über den Charakter einer Stadt verrät, die sich nach Kriegsende – wirtschaftlich wie kulturell – zu einem der prosperierendsten Gebiete der Bundesrepublik gemausert hatte.
Kraftwerk dachten nie wirklich regional-patriotisch; andere Gruppen schon.
So wird der musikalische Reigen von "Electri_City", passenderweise, von einer höchst eigenwilligen Hommage eröffnet: "Düsseldorf" von La Düsseldorf, dem Nachfolgeprojekt der Experimental-Krautrocker Neu!
Auffällig an dieser 13-Minuten-Nummer: Hier hat die Formation sprichwörtlich alle verfügbaren Tugenden des sich emanzipierenden, deutschen Rockverständnisses versammelt.
Drogeninduzierte Gitarren, Geräuschcollagen und elektronisch-liebliche, unter "typisch deutsch" zu verbuchende Glockenspiele, vereinen sich unter der berüchtigten, stoisch-motorischen Rhythmuskuppel von Klaus Dinger zu einem Werk, das eher an den langhaaringen Impro-Geist des Happenings erinnert als an die adrett-korrekte Seitenscheitel-Kultur des piefigen Roboter-Quartetts, um das die jüngere deutsche Musikgeschichte ja in der Regel zu kreisen pflegt.
Hellseherische Töne zum Geschehen waren gerade deshalb wohl auch eher aus dem Ausland zu hören.
David Bowie zum Beispiel erkannte in den Tüfteleien der Düsseldorfer Musikszene bereits das Vorspiel zum Sound des kommenden Jahrzehnts – und Brian Eno, bekannterweise ebenfalls ein Mann der Maschinen, ließ es sich nicht nehmen, zusammen mit Harmonia einige Songs einzuspielen.
Nicht weniger als die "wichtigste Rockgruppe der Welt" - so brachte Eno das musikalische Schaffen dieser Truppe, bestehend aus Michael Rother, Hans-Joachim Roedelius und Dieter Moebius (letztere reüssierten bereits erfolgreich als Krautrock-Veteranen-Kombo Cluster), auf den Punkt.
Für "Electri_City" steuern Harmonia jetzt "Luneburg Heath" bei – ein psychedelisch-experimenteller Track par excellence.
Der "Sound Of Düsseldorf" setzte einst aber nicht nur die elitären Sphären der intellektuell-kunstvollen Klangherstellung unter Strom. Mit dem Ende der Punk-Bewegung (auch hier war Düsseldorf, vor allen Dingen durch die Szenekneipe "Ratinger Hof", wieder tonangebend) machte sich nun eine zweite Generation von Musikern daran, die Sicht auf "ihre" Stadt neu zu definieren.
Denn Düsseldorf war nicht nur das kunstverliebte Beuys-Dorf, sondern immer auch stolzer Teil des Ruhrgebiets - und damit stets am Puls einer nie versiegenden Industrie-Romantik.
Mit der Krupps-Hymne "Wahre Arbeit, wahrer Lohn" zog der klischeebeladene Archetypus des muskelbepackt-schwitzenden Stahlarbeiters in die jüngere Musikgeschichte ein.
Der schnelle Beat, gepaart mit den metallischen Klängen von Jürgen Englers frisch erdachtem Schlaginstrument, dem Stahlofon, verlieh der Szene Düsseldorfs eine neue, proletarischere Qualität.
So wurden unter Krupps-Regie nicht nur urdeutschen Tugenden – wie Fleiß und Strebsamkeit – zu stahlharten Noten geformt, sondern darüber hinaus auch eine metallisch-dröhnende Parodie auf jene fortschreitende Glorifizierung der Arbeiterschicht geschaffen, wie sie vor allem Propaganda-Gemälden des sozialistischen Realismus immer wieder zum Thema haben.
Gemeinsam mit der Deutsch Amerikanischen Freundschaft, Robert Görl und Gabi Delgado-Lopez, ebneten Die Krupps schließlich auch den technoid-pumpenden Rhythmen der Electronic-Body-Music den Weg.
Mit Beginn der 1980er Jahre stand dann ein weiterer, gewichtiger Name im Raum: Chrislo Haas.
Er war der Vordenker des Techno; rief unter anderem Der Plan und DAF ins Leben – und mischte der substantiell eher flüchtigen Neuen Deutschen Welle subtilere Impulse bei. Während die NDW um 1982 herum bereits in kommerzielle Gewässer geflutet war, schoss er, unter dem Namen Liaisons Dangereuses, gemeinsam mit Beate Bartel den totalen Evergreen elektronischer Tanzmusik in die Atmosphäre.
Die brodelnde Basslinie von "Los ninos del parque" mutierte bald zur absoluten Blaupause des EBM; klar, dass diese Nummer deshalb auf dem "Electri_City"-Soundtrack nicht fehlen darf.
Insgesamt hat man sich bei der Auswahl der Stücke, wohl auch in Anlehnung an Struktur und Aufbau des "Electri_City"-Buchs, für eine größtenteils chronologische Anordnung entschieden. Gegen Ende kommt dann plötzlich gesteigertes Tempo auf, und die Tracklist springt, vermutlich aus Platzgründen, mal eben über 30 Jahre hinweg.
So kehrt der Hörer mit den letzten Tönen der Liaisons Dangereuses den New Romantics abrupt den Rücken zu - und landet mit Wolfgang Flürs Mensch-Maschinen-Encore in der jüngeren Vergangenheit. Mit "I Was A Robot" schickte der ehemalige Schlagzeuger der Roboter-Kombo anno 2005 seine musikalische Abrechung mit dem Kapitel "Kraftwerk" durch den Äther.
Mittlerweile dominieren coole Housebeats die Szenerie; mechanische Sounds werden zu glänzendem Chrom poliert.
Letzten Endes ist dieser Song auch ein Sinnbild – für die lange Reise jener Pioniere, die selbst das unhandlichst störanfällige Eigenleben der Elektronik nicht aufhalten konnte, und die das 21. Jahrhundert mit spannenden Experimenten und fester Hand in die Zukunft führten.
"I Was A Robot" ist übrigens auch in Buchform zu haben. Mittlerweile allerdings eher als leicht ausgedünntes Opfer der Zensur: Die erste Auflage seiner Autobiografie, in der Wolfgang Flür die Ära Kraftwerk verarbeitet, wurde nämlich bald nach Veröffentlichung per einstweiliger Verfügung von seinen Ex-Kollegen Ralf Hütter und Florian Schneider wieder aus dem Handel genommen.
"Electri_City" positioniert sich, ganz klar, als Soundtrack zum Buch. Dementsprechend finden auf diesem Silberling dann auch viele bekannte Nummern ihren – zweifelsfrei wohlverdienten – Platz. Dass die Tracklist trotzdem nie ins Vorhersehbare kippt, das verdankt sie vor allem den schillernden Klang-Perlen, die von den Machern des Kompendiums liebevoll zwischen die Zeilen gesetzt wurden.
So zum Beispiel das selbsterklärende "Wunderbar" von Wolfgang Riechmann, einem melodieverliebten, hochtalentierten Musiker, der nach einer Messerattacke 1978 leider mit 31 Jahren viel zu früh verstorben ist. Man kann nur ahnen, welche Schätze da noch auf uns gewartet hätten – wäre dieser eigenwillige Künstler nicht so jäh und sinnlos aus dem Leben geschieden.
Das Finale des Soundtracks steht dann übrigens ganz im Zeichen der treibenden Kraft hinter dem Mammut-Projekt "Electri_City": Rüdiger Esch.
Als MakroSoft legt der Düsseldorfer eine geistreiche Neuinterpretation des OMD-Evergreens von, womit der synthetische Kreis seinen harmonischen Ausklang erreicht: In ihren Anfangstagen war die Briten nämlich deutlich hörbar von der Düsseldorfer Musikszene beeinflusst.
Und dabei natürlich, wie könnte es anders sein, unter anderem von Kraftwerk...
|| TEXT: DANIEL DRESSLER / ANTJE BISSINGER | DATUM: 03.12.14 | KONTAKT | WEITER: BUCH-BESPRECHUNG "ELECTRI_CITY" >
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