TIERSEN VS. LAMBERT: GROSSE FREIHEIT
Die großen Geister unserer Zeit parkt das öffentlich-rechtliche Fernsehen bezeichnender Weise im Nachtprogramm. Vor künstlichem Lagerfeuer aufgebahrt, recken stereotype Rotwein-Philsophen gläserne Kelche und Lorbeer-bekränzte Häupter in existenzialistische Höhen und geben sich dem hochgestochenen Salbadern über gesellschaftliche Tiefen hin. Neue Erkenntnisse sucht man hier vergebens; stetes Lustwandeln in den Reben des Herrn hat das unmotivierte Aufbraten altbackener Thesen zur Folge. Immerhin das sinnige Ergebnis: Wir leben in der Postmoderne. Hip, hip - hurra! Alles oder nichts ist das Gebot der Stunde, Grenzen kennen wir seit Ende der 1980er Jahre nicht mehr und Gegensätze verschmelzen wir einfach mit unserem stylischen Schoko-Fondue. Ätsch! Was im Privatleben mal besser, mal schlechter funktioniert, erhebt die Kunst im Allgemeinen und die Musik im Besonderen zur erklärten Maxime: „Anything Goes“.
Freiheit in der Kunst setzt jedoch zunächst einmal Freiheit im Geiste voraus. Ein rares Präsent, das heutzutage leider nur wenigen Menschen geschenkt wird. Yann Tiersen zum Beispiel. Viele kennen den Musiker durch seine weltschmerzlich schillernden Kleinode, mit denen er einst "Die fabelhafte Welt der Amélie" in seltsamen Zauber hüllte. Sein Soundtrack ist die klangliche Entsprechung des geträumten Paris, in dessen magisches Hologramm Regisseur Jean Pierre Jeunet mit seinem Streifen entführt. Da mag man kaum glauben, dass Tiersen in jungen Jahren tatsächlich mal Mitglied in einer Post-Punk-Band war und die lebensverneinenden Platten von Joy Division rauf und runter hörte. Scheinbar mühelos vereint der Multi-Instrumentalist seine klassische Ausbildung mit dem Wissen um Pop- und Subkultur. Das Ergebnis: "Infinity" – Unendlichkeit.
Am Anfang des Werkes steht der Titelsong - ein nebulös wabernder Klangteppich, den der Musiker nach und nach mit flirrenden Streichern durchtränkt. Es sind die alten Amélie-Geister, die aus der Ferne rufen. Das nachfolgende, gespenstisch tönende Glockenspiel in "Slippery Stones" wirkt dann auch wie die düstere Version von "Valse de monstres". Doch Tiersen widersetzt sich den lockenden Sirenen-Gesang - und lässt im Laufe des Albums die oftmals als Stigma empfundene Vergangenheit hinter sich.
"Infinity" ist ein mystisch morbides Wesen mit archaischer Kraft. Das zeigt nicht nur das doppelt symbolisch gehaltene Cover mit Meeres-Landschaft und liegender Acht, sondern auch der gezielte Einsatz alter Sprachen. So wispert eine weibliche Stimme auf "Ar Maen Bihan" bretonische Beschwörungen ins Mikro. Anfangs noch von mystischen Windspiel-Klängen und minimalen Philipp-Glass-Streichern ummantelt, tobt gen Ende ein tosender Sturm vom Band; immer bedrohlicher, immer intensiver sich aufbäumend – ganz wie die schroffe Schönheit der Bretagne. Ähnliche Empfindungen rufen auch das färöische "Grønjørd" und das auf isländisch eingesungene "Steinn" hervor. Island ist übrigens der Ort, an dem "Infinity" erdacht und in groben Zügen durchkomponiert wurde.
Yann Tiersen beschreitet auf seinem Werk neue, weltoffene Wege; bewegt sich aus der Sphäre des französischen Chansons heraus zum veträumten Shoegaze. Manchmal, wie bei "In Our Minds" (mit plätscherndem Synthesizer-Regen) oder dem Song "The Crossing", liebäugelt er sogar mit dem Progressiven Rock der 1970er Jahre. Kein Zweifel: Die aktuelle Scheibe zeigt einen gereiften Künstler, der sich vom Erfolgsdruck früherer Jahre freigespielt hat.
Anders bei Lambert. Hier steckt die Erwartungshaltung eigentlich noch in den Kinderschuhen, während die Erfolgskurve des Musikers in letzter Zeit mehr und mehr nach oben geht. Ob es daran liegt, dass der Tastenmann sein Gesicht unter einer geheimnisvollen Antilopen-Maske versteckt? Jedenfalls steigert der Mummenschanz das öffentliche Interesse, wie am Beispiel der French-House-Veteranen-Kombo Daft Punk oder des Burger-Botschafters Cro unschwer zu erkennen ist. Bei Lambert steht die karnevaleske Maskierung im Kontext seines Gesamtkunst-Konzeptes, das an die Mannen von Kraftwerk erinnert: Der Musiker will sich selbst neutralisieren. Dementsprechend kommt Lambert auch ohne Nachnamen aus; gibt – für unsere zeigefreudige Generation eher untypisch – weder auf seiner Internetseite, noch in den sozialen Medien Persönliches von sich preis. All das zum Wohle der Musik: Kein lästiges Beiwerk soll von den lambert’schen Klängen ablenken. Die Maske bleibt das einzige Zugeständnis an die Pop-Kultur. Antilopen-Kult hin oder her: Lambert gehört zu den begnadetsten Pianisten, die aktuell den Grenzbereich zwischen Klassik, Jazz und Filmmusik bevölkern. Berührungsängste mit anderen Genres? Keine Spur. Namhafte Indie-Größen wie Boy, Tocotronic oder Ja, Panik haben bereits Cover-Versionen ihrer Stücke bei Lambert geordert. Zuletzt drückte der stille Künstler dem Bowie-Stück "Art Decade" seinen Stempel auf.
Das Tastenspiel des Antilopen-Liebhabers kommt auf dem selbstbetitelten Debüt-Album eher unspektakulär daher. Grundsätzlich sind seine romantischen Klavier-Betastungen stark an das Oeuvre von Frédéric Chopin angelehnt. Allerdings folgen die markigen Lambert-Nummern dem Zweieinhalb-Minuten-Takt; kein Stück ist länger. Wie kleine Gemälde wirken die nonchalenten Instrumental-Nummern, denen es gerade aufgrund ihrer gefühlten Kurzmitteilungs-Länge gelingt, verschiedenen Stimmungen im rasanten Wechsel auf den Punkt zu bringen. "Snow Again" ist ein lautmalerischer Schneeflocken-Tanz, während fließende Melodien das Endgültige, Alles und Nichts, in den Track "Finally" verwandeln. Auf dem Cover hockt Lambert als uriger Schamane in karger Fels-Landschaft; fügt sich mit Langhorn-Kopfputz und dezentem Schwarz-Mäntelchen nahtlos-unsichtbar in die kahlbäumige Szenerie - und vollführt seine Fingerübungen auf einem mossbewachsenen Trümmer-Druiden.
Einen Vergleich mit Yann Tiersen zu ziehen, ist an dieser Stelle sicherlich nicht falsch - muss aber zwangsläufig in die Irre führen. Denn während der Bretone stets den Bogen zum episch-orchestralen Moment spannt, bleibt Masken-Musiker Lambert ganz bei sich - und seinem heiß und innig geliebten Klavier. Was die beiden am Ende dann doch verbindet, ist eine große Prise Melancholie, die der Hörer aus jedem der Stücke klar herausschmecken kann. Auf diese Weise wirken selbst vordergründig heiter gestimmte Songs wie Lamberts "Dance Dance" am Ende wehmütig. Ganz so, als hätte ein älterer Mensch in einer lange vergessenen Truhe eine vergilbte Fotografie entdeckt, die ihn beim juvenilen Tanzvergnügen zeigt. Oder in trauter Zweisamkeit, mit einer verlorenen Liebe? Da ist er wieder, der Amélie-Moment.
Beiden Künstlern gelingt überdies der Coup, mit ihren Werken die Räume zwischen E- und U-Musik zu füllen, ohne dabei unauthentisch oder gar lächerlich zu wirken. In jüngster Vergangenheit rückt die Klassik schließlich immer näher an die Populärkultur heran. Dieser Vorgang bringt in fragwürdiger Konsequenz massenkompatible Fiedler wie Pseudo-Grunge-Jesus David Garrett oder Ethno-Kitsch-Prinzessin Lindsey Stirling hervor. Die letzte Radikalität jedoch geht in der Musik-Kunst von solchen Komponisten wie Tiersen und Lambert aus, die ohne großes Aufheben jene Freiheit genüsslich auskosten, von der neunmalkluge Möchtegern-Denker in ihren philosophischen Nachtgesprächen nur schwätzen können.
|| TEXT: BISSINGER/DRESSLER // DATUM: 16.05.2014||
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BILDQUELLE Y. TIERSEN © MUTE/GOODTOGO, FOTO: KATHERINE ROSE; LAMBERT © STAATSAKT/ROUGH TRADE, FOTO: TILLMANN ROTH/NIKLAS WEISE
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