MARCUS RIETZSCH "SCHON UNSER HEUT EIN GESTERN IST": SINISTRES SEELEN-MALBUCH
"Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!", schreibt Goethes Werther im gleichnamigen Leidens-Roman nicht ohne Trotz – und wendet sich fortan den Büchern zu.
Lange vor der tragikomischen Amour Fou zu seiner Lotte, die Generationen leidgeplagter Schüler wohl in erster Linie als dröge Zwangslektüre in Erinnerung haben dürften, nimmt die eigentliche Liebesgeschichte der Erzählung ihren gar nicht mal so heimlichen Lauf: Mit Homers berüchtigtem Irrfahrer Odysseus zieht das Alter Ego des hessischen Dichter-Fürsten in die zeitlosen Weiten der Natur; verliert sich, dank klopstock’scher Gefühls-Lyrik, in der romantischen Wunschfantasie einer tränendurchtränkten Seelenverwandtschaft, stürzt mit Ossians sinister gefärbten Helden-Gesängen in die lodernden Tiefen unzähmbarer Leidenschaft – und wählt, nach Lektüre von Lessings moralschwangerer Emilia Galotti, schlußendlich lieber den vermeintlich tugendhaften Freitod, als seine unterdrückten Emotionen in eine schnöde Wirklichkeit zu entlassen.
Kein Handeln ohne die Folie der Literatur; in diesem Punkt kennt Werther keine Kompromisse.
Sein unbedingter Wille zu einer manisch poetischen Einfühlung in die (noch) fremde Umgebung; das mitunter frei erlesene Verstehen von Gefühlen und Gefühltem, faszinieren bis in die Jetzt-Zeit und werden unser scheinwahres, auf publizistischen Hochdruck geschraubtes Zeitalter auch ohne nennenswerte Anstrengungen überdauern.
So sorgt der fiktive Herausgeber des werther'schen Epos nicht nur bei gotischen Gemütern für anhaltend mystisch morbide Schauer, wenn er den Leser mit seinem subtilen Vorwort ganz feierlich in den erlesenen Zirkel der (Rezeptions-) Geschichte aufnimmt: "Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst, wie [Werther], schöpfe Trost aus seinen Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund seyn, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst!"
Diese gesellige Empfehlung, ungeahnte Risiken und Nebenwirkungen inklusive, stünde wohl auch dem aktuellen Foto-Buch von Marcus Rietzsch recht gut zu Gesicht.
Auf 132 monochromen Seiten präsentiert "Schon unser Heut ein Gestern ist" nämlich nicht nur die analytisch architektoralen Szenenbilder einer puristisch pointierten Foto-Fantasie, sondern lädt darüber hinaus auch zur intensiven Beschäftigung mit einem gesellschaftlich unbequemen Tabu-Thema ein.
Dabei gibt es, wie der auf harmlose Kerzenromantik getrimmte Untertitel, "Der Zauber des Verfalls", verflachenden Erfahrungen geschuldet zunächst durchaus vermuten lässt, weniger magisch ästhetische Trümmerware oder gar spinnendurchwebt gefälligen Gruft-Kitsch zu bestaunen.
Statt dessen stößt Rietzsch, der sich unter anderem als Herausgeber des jährlichen WGT-Nachspiels "Pfingstgeflüster" einen Namen in der Schwarzen Szene gemacht hat, den gewogenen Betrachter mit erschreckender Direktheit und ohne sichtbare Vorwarnung in ein emotional aufwühlendes Sujet, welches sich in diesem imposanten Scharzweiß-Zyklus nicht nur bildlich aufbereitet findet, sondern mit Hilfe grafisch gestalteter Text-Fragmente auch bedeutende Stimmen aus dem Totenreich ins Jetzt zitiert.
Es braucht kein mulmig machendes Ouija-Hexenbrett, um mit den längst verlorenen Göttern und Dämonen des heimischen Dichter-Olymps im Hier und Heute zu kommunizieren.
Die lyrischen Worte von Schiller, Goethe oder Raabe sind noch immer quicklebendiger Teil unserer Gegenwart, haben sich Glanz und Glorienschein über die Jahrhunderte bewahrt und mit ungekünstelter Leichtigkeit die irdische Hülle ihres jeweiligen Schöpfers überdauert.
Wer Geschichte(n) schreibt, der bleibt.
Das gilt auch für die weniger prominenten Vertreter der älteren und jüngeren Vergangenheit, deren Gesichter heute vornehmlich in Vergessenheit geraten sind.
Ihre tonlosen Spuren finden sich auf den leise lockenden Stufen der mahnend wispernden Ruinen; spiegeln sich in den in alle Himmelrichtungen verstreuten, halb verhuschten Requisiten, die als winzige Puzzle-Stücke eines vormaligen Lebens lose zwischen Staub und Splittern hervorblitzen.
Ein verwaistes Schaukelpferd, achtlos liegen gelassene Spielzeuge oder die obligatorischen, in mühseliger Handarbeit gestrickten Fäustlinge für den Winter.
Vieles von dem, was Marcus Rietzsch und seine Kamera für diese emotionale Bestandsaufnahme mit schonungsloser Offenheit dokumentiert haben, kundet auch von einer bewusst abgelegten Kindheit; einem merkwürdigen Leben vor diesem berechnend kühlen Erwachsenen-Dasein, aus dem man sich verkrampft gewunden hat wie der Schmetterling aus seinem Kokon.
Vielleicht ist dies auch der verdiente Moment einer zweiten Chance für diese so offenkundig hassgeliebten Zeugnisse aus der Zeit "Es-war-einmal", die von ihren ursprünglichen Besitzern heute so konsequent gemieden werden?
Von den Altlasten ihrer Historie befreit, sind diese Dinge nun wieder frei; können behutsam aufgelesen und von kindlicheren Gemüter in neue, tagträumerische Abenteuer versponnen werden.
Bereits mit dem schemenhaft schillernden Treppen-Motiv auf dem Titel gelingt es Marcus Rietzsch scheinbar mühelos, den neugierigen Betrachter von "Schon unser Heut ein Gestern ist" in sein sinistres Spiegelkabinett zu führen.
Einst stützten diese gemächlich stummen Diener ihre längst vergessenen Herrn, trugen hoffnungsvoll pochende Herzen in luftige Höhen hinauf; führten mit fester Hand zusammen, was immer auch Schicksal oder Zufall füreinander zu bestimmen gedachten. Treppauf, treppab nahmen Geschichte und Geschichten ihren seltsamen Lauf; doch der Zahn der Zeit nagte spürbar an den schweigenden Stiegen, löste sie gar aus ihrer demütig leitenden Funktion – und schenkte ihnen reichen Lohn für ihre klaglos treuen Dienste.
Die schnörkellosen, rational puristisch gehaltenen Architektur-Portaits, die Rietzsch hier im straffen Wechsel mit seinen bedeutungsschwangeren Stimmungsbildern präsentiert, enthüllen, dass jedes dieser ruinösen Gemäuer im Angesicht des plötzlich drohenden Verfalls nicht nur in Form und Charakter einem Monumental-Mausoleum gleicht, sondern darüber hinaus auch seine unverwechselbare Persönlichkeit, ganz ohne Scham, als steingeworden stumme Fratze nach außen tragen darf.
Mit einem in Tagebuchform gehaltenen, atmosphärisch dichten Vorwort wird der Leser eingangs zum vermeintlichen "Mitwisser" einer rastlosen Reise in die Irrungen und Wirrungen des Seins erklärt – nur, um nach wenigen hoffnungsvollen Schritten in die teils drückend engen Flure dieses lyrischen Labyrinths doch wieder als schamvoller Eindringling vor sorgsam verriegelten Türen zu stehen.
Schwere Ketten, die in bester Psycho-Thriller-Manier ihre ahnungsvollen Abgründe oder geheim versteckte Kammern in ewiges Schweigen hüllen, so wie halb verrostete Schlüssellöcher, die jeden Eintrittsversuch auf eigene Gefahr im Keime zu ersticken wissen, sind ein wiederkehrendes Motiv.
An den dunkel schimmernden Wänden der Erinnerung, die Marcus Rietzsch mit dominanten, durchweg schwarz getünchten Buchseiten konstruiert, flimmern und flackern lose aneinander gereihte Aufnahmen wie die halb verblassten Fetzen einer wehmütig atmenden, in die Jahre gekommenen Erinnerung.
Mit seufzender Anstrengung, so scheint es in großen Teilen, beschwört das schutzlos alternde Gedächtnis hier ein letztes Mal visuelle Fragmente einer bewegenden Vita herauf; versammelt, nicht frei von erstickt seufzender Verbitterung und wahnsinnsdurchtränkter Resignation, die im unaufhaltsamen Verfall sich auflösenden Schauplätze von Einst in einer flüchtig herauf projezierte Seelen-Galerie der Schatten, die mit Eintritt des göttlichen Lichts, trotz aller Wehr, in ewiger Nacht vergehen muss.
Diese lose montierten Bild-Zeugnisse eines hoffnungsarm verglühenden Lebens tragen dabei immer auch den Reiz des Verbotenen in sich; ein nicht greifbar werdendes Moment zwischen fremd und vertraut, kühl berechnender Ratio und alles umarmender Intimität.
So deutet das Buch von Marcus Rietzsch zwar vieles an, spricht am Ende jedoch nur denkbar wenig aus.
Auch das Geheimnis sämtlicher hier portraitierten Orte wird erfolgreich gewahrt: Nähere Informationen zum Gezeigten wollen sich auch nach aufmerksamster Suche nicht finden, so dass ein flüchtiges Blättern oder oberflächlicher Bild-Konsum im Grunde unmöglich ist.
Um einen Zugang zu diesem Buch zu finden und Antworten auf seine Fragen erhalten zu können, braucht es auf Seiten des Betrachters nicht nur unerschütterlichen Mut, sondern auch den unbedingten Willen, sich ohne Netz und doppelten Boden auf einen emotionalen Tiefsee-Tauchgang einzulassen, der ohne Umschweife in die verborgenen Abgründe des ureigenen Seelen-Lebens dringt.
"Was ist der Mensch, der gepriesene Halbgott!", schließt Goethes Werther mit seinem finalen Brief. "Ermangeln ihm nicht eben da die Kräfte, wo er sie am nöthigsten braucht? Und wenn er in Freude sich aufschwingt, oder im Leiden versinkt, wird er nicht in beyden eben da aufgehalten, eben da zu dem stumpfen, kalten Bewußtseyn wieder zurückgebracht, da er sich in der Fülle des Unendlichen zu verlieren sehnte?"
"Schon unser Heut ein Gestern ist" zeigt das Thema der Vergänglichkeit in all seinen Facetten; bespielt mit tiefgründigem Tenor das weitgesteckte Persönlichkeits-Nirwana zwischen Reflektion und Reflexion. Ein sinistres Malbuch für die Seele, das mit seinen schwarzweißen Nicht-Farben Fantasie beflügelt – und, je nach Gefühlslage oder -situation, immer wieder neu erlebt werden muss.
||TEXT: ANTJE BISSINGER | DATUM: 04.02.15 | KONTAKT | WEITER: INTERVIEW MIT MARCUS RIETZSCH >
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