DELGRES "4:00 AM" VS. CHRISTINE SALEM "MERSI": AUS TIEFSTER SEELE
Um Vorurteile abzubauen, genügt es manchmal, dem anderen einfach nur zuzuhören, um seine Geschichte zu erfahren.
Und Delgres haben viel zu erzählen. Über alltäglichen Rassismus in unserer Gesellschaft, über moderne Sklaverei, über die Suche nach den eigenen Wurzeln, aber auch über das Älterwerden und die Probleme, die sich daraus ergeben. Frontmann Pascal Danaë singt tatsächlich über seine eigenen Erfahrungen und tut dies mit einem buchstäblichen Selbst-Bewusstsein. Der aus Guadeloupe stammende Musiker singt auf Patois, einer französisch-basierten Kreol-Sprache der Afroamerikaner, die als Sklaven im 17. Jahrhundert auf den Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen dort arbeiten mussten.
Ummantelt werden die Wörter von einem rumpeligen Blues-Rock, in die Elemente karibischer Musik eingeflochten werden. Mit diesem klaren und doch so erstaunlichen Rezept wurde bereits sehr erfolgreich auf dem Debüt "Mo Jodi" von vor drei Jahren gearbeitet - Preiseinheimsung und beste Kritken inklusive. Schon damals war auch UNTER.TON klar: Danaë, Schlagzeuger Baptiste Brondy und Rafgee, der das Sousaphon, eine Art Tuba, spielt, haben ihren Stil auf dem Erstling bereits gefunden. Nun galt es, diesen für "4:00 am" zu verfeinern. Es ist ihnen gelungen.
Besonders hervorzuheben sind die Bestrebungen des Trios, die Pole zwischen angloamerikanischer und traditioneller Musik nicht mehr so stark gegenüber zu stellen, wie es noch beim Debut der Fall war. Mittlerweile gleiten Rock, Blues und Volksmusik ineinander über, werden eins und zum musikalische Pendant einer utopischen Gesellschaft, in der alle ethnischen Schranken überwunden sind, wenngleich die melancholische Melodieführung immer noch das Leid der Jahrhuderte lang Unterdrückten eingedenkt.
Über diesen Aspekten sollte aber nicht vergessen, dass Delgres die Gabe besitzen, Schmerz und tiefste Seelenpein in anstachelnde Rhythmen zu verpacken, hinter der sich eine Unbeugsamkeit gegenüber allen Widerständen der Gesellschaft manifestiert. Dieser Umstand macht Stücke wie "Aleas", "Se Mo La" und "Lundi Mardi Mercredi" zu mitreißenden Nummern, die auch funktionieren, wenn man sie vom geschichtlichen Hintergrund löst. Und "L'ecole" zündet dank seiner druckvollen Rock-Riffs sowieso.
Der intensivste Moment bildet aber tatsächlich das 40-sekündige "Libere Mwen". In diesem Choral ohne instrumentelle Begleitung scheint sich die gesamte Leidensgeschichte eines ganzen Volkes zu konzentrieren. Es ist ein kurzer kontemplativer Augenblick, in dem Pascal Danaë scheinbar jenen gedenkt, die vor ihm für Freiheit und Gleichberechtigung gekämpft haben, was Delgres ja auch durch ihren Bandnamen unmissverständlich markieren. Schließlich verweist er auf einen afroamerikanischen Truppenführer, der um 1800 gegen die Sklaverei zur Wehr setzte und dafür mit seinem Leben bezahlen musste.
Christine Salem teilt als Bürgerin der Stadt Saint-Denis auf der Insel La Réunion ein ähnliches historisches Schicksal. Auch hier wurden unter Napoléon afrikanische Sklaven für Plantagenarbeiten verschleppt. Mitte des 19. Jahrhunderts schaffte man die Sklaverei ab, und auf der Insel entstand eine homogene Gesellschaft, die als "Métissage" das Idealbild eines friedlichen Zusammenlebens aller Kulturen (auf Réunion finden sich neben Franzosen und Afrikaner auch Inder und Chinesen) abliefern.
Vielleicht klingt "Mersi" deswegen nicht so gepeinigt wie Delgres' Album. Vielmehr findet die Frau mit der wunderbar anheimelnden Altstimme ihr Selenheil in der Spiritualität und tiefen Dankbarkeit gegenüber ihren Vorfahren, die sie in "Anou" an den Anfang von "Mersi" stellt. Salem ist, wie der Albumtitel es sagt, dankbar. Aber sie ist auch besorgt.
Besorgt über den Hass in der Gesellschaft, die sie in "Why War" zwar verklausuliert vorträgt, in den Liner-Notes aber an ein für Frankreich schicksalsträchtiges Datum knüpft: den 13. November 2015. An diesem Tag haben islamische Fundamentalisten an verschiedenen Orten in Paris, unter anderem das Theater "Bataclan", in dem zum Zeitpunkt ein Konzert der Eagles Of Death Metal stattfand, wahre Blutbäder angerichtet, indem sie sich entweder in die Luft sprengten oder mit Maschinengewehre in die Massen schossen. Es war nach dem Anschlag auf die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" der zweite terroristische Akt in der Metropole innerhalb dieses Jahres.
Auch die immer noch schwierigen Verhältnisse, in der Frauen zum Teil leben, prangert sie vor allem in "Tyinbo" an, hält aber in "Mama Africa" stolz die Weltoffenheit der afrikanischen Frauen hoch. Es gehört anscheinend zu Salems tiefster Überzeugung, dass das Leid sichtbar gemacht werden muss, aber auch die Hoffnung im selben Atemzug genannt wird. Dieses Spannungsfeld baut sie ständig und stabil auf ihrem Album auf.
"Mersi" ist dabei ein eher leises, wenngleich nicht weniger intensives Plädoyer für eine tolerante Gesellschaft. Dies unterstreicht sie nicht zuletzt imschrankenlosen Sound, der sich auf der Platte wiederfindet. Die Basis bildet Maloya, die traditionelle Musik auf La Réunion, zu der sich aber von Blues über Jazz bis hin zu Rock alles frei dazugesellen und seinen Beitrag für einen globalen Sound, einer World-Music im besten Sinne also, leisten darf. Vor allem der verstärkte Einsatz der Geige als stilbildendes Instrument verbindet die traditonellen Elemente mit den europäischen Hörgewohnheiten.
Ebenso weltoffen zeigt sich die Sängerin auf textlicher Ebene, singt in der Sprache der früheren Herrscher, aber auch der Unterdrückten. Sie macht keinen Unterschied mehr, sondern führt sie mit ihren Liedern an einen Tisch. Ein tröstlicher Gedanke.
Eine Parallele zu "4:00 am" von Delgres lässt sich dann doch ausfindig machen. Und zwar in Salems Titelsong, das ebenfalls als A-Capella-Nummer ein ganz privates Momentum eröffnet, in der sie sich bedankt, am Leben zu sein und das Leben zu spüren.
Zusammen bilden Delgres und Christine Salem ein vielschichtiges Stimmungsbild, das abseits aller Black-Lives-Matter-Bemühungen einen authentischen Blick auf die Gefühlswelt afroamerikanischer Mitbürger zulässt. Frei von jeglichen aufgheizten Debatten zu diesem Thema, tragen diese beiden Alben zur besseren Völkerverständigung und zum Verständnis bei. Man muss ihnen eben nur zuhören!
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 06.04.21 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 6/21>
Webseite:
www.delgresmusic.com
www.christinesalem.com
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Cover © Pias/le Label/Rough Trade (Delgres), Blue Fanal/Broken Silence (Christine Salem)
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