6/19: GROTTO TERRAZZA, MEAGER BENEFITS, LOTUS FEED, LUCKY AND LOVE: ECKEN, KANTEN UND JEDE MENGE STAUB
Körnige Aufnahmen, auf fehlerhaften Bändern konserviert, strahlen etwas geradezu Geisterhaftes aus. Fast so, als würden paranormale Ereignisse eintreten. Heutzutage, wo selbst Independent-Produktionen dem perfekt-sauberen Klang nacheifern, sind diese staubigen Aufnahmen fast verschwunden. Es sei denn, man entscheidet sich bewusst für Imperfektion.
So könnte "Stumpfer Gegenstand", das erste Solo-Werk von Grotto Terrazza, genausogut aus einer Zeit stammen, als Berlin noch einen "Eisernen Vorhang" besaß und der Musiker, der mit bürgerlichem Namen Thomas Schamann heißt, dort in einem der vielen leerstehenden Häuser Musik gemacht hat. Verwunderlich ist das nicht, denn bereits mit der sinistren Post-Punk-Formation Bleib Modern nahm sich Terrazza dem schwermütigen Erbe Joy Divisions an und verbannte jeden noch so kleinen Hoffnungsschimmer aus ihren Moll-Esakapaden. Als Solist dient das bisher Komponierte nur als Startpunkt, um sich aus der Komfortzone wegzubewegen. Der Gesang wird verfremdet und mit ordentlich Hall unterlegt, die Gitarren tragen sämtliche Rockmanierismen zu Grabe, wirken geisterhaft leer und lechzen gleichzeitig nach Erlösung. Dazwischen finden sich surreale Collagen wie "Cyprian" oder "Exodus (Push Faktor)", die auf ihre seltsame Weise geradezu bedrohlich wirken, weil sie nicht zu greifen sind. Und manchmal entdeckt Grotto Terrazza dann auch so etwas wie Eingängigkeit. Doch "Gestalt Bondage" ist mit seinen rockigen Riffs schon das größte Zugeständnis an die Hörer, die "Stumpfer Gegenstand" etwas Zeit einräumen müssen. Am Anfang verstört es einen, beim zweiten Mal macht es neugierig, und nach dem dritten Durchlauf versteht man, dass dieses Album nichts weniger will, als eine eigenständige Post-Punk-Interpretation abzuliefern, die sich vor allem an der Experimentierfreude der ersten Generation orientiert und damit einen regelrechten Trip durch die dunkelsten Ecken unserer Emotionen unternimmt.
Vielleicht noch eine Spur minimalistischer in seinem Equipment zeigt sich Theo Parlier aus Lyon, der, so will es der Pressetext uns erzählen, mit seinem Instrumentarium bestehend aus Gitarre, Bass, einem Synthesizer und defektem Mikrophon in seiner Einzimmerwohnung die Stücke erdenkt und sie unter dem alias Meager Benefits veröffentlicht. Das ist "true independent"! Folgerichtig fällt das dritte Album "Crawling" auch so aus, wie eine Schlafzimmerproduktion eben klingen muss: nackt, dünn, aber auch irgendwie geheimnisvoll und energetisch. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass selbst technische Unzulänglichkeiten nicht störend wirken, sondern, wie im Falle des hochfrequenten Rauschens im Titelsong, als Teil der Komposition empfunden werden. Auf ein moderates Tempo beschränkt, zeigt Meager Benefits eine starke Affinität zu den Helden des 4AD-Labels, allen voran natürlich Dead Can Dance. Ähnlich wie das legendäre erste, selbstbetitelte Album von Suicide anno 1977, belässt es auch Meager Benefit bei einem sich wiederholenden Drum-Computer-Rhythmus, der nur wenige Facetten zulässt. Die gleichen Hi-Hats, die gleichen Snares, die gleiche Bass-Drum - umso erstaunlicher ist es, dass die Songs dann doch so variabel sind, dass man diesen Umstand gerne ausblendet. Das Ende ziert ein halluziogener Zehn-Minuten-Track namens "Isolation", der die größten Größen der frühen Post-Punk-Bewegung zitiert: Bauhaus und The Cure. Würde man einem erzählen, Meager Benefits wären vor rund 40 Jahren als Vorband dieser namhaften Gruppen aufgetreten, es gäbe nur wenig Gründe das nicht zu glauben.
Kaum anders dürfte die Meinung sein, wenn man sich Lotus Feeds neuestes Werk "Songs From The Silent Age" anhört. Wenngleich die Gruppe aus der Karnevalshochburg Köln stammt, erinnert die ungebundene Energie ihrer Post-Punk-Nummern eher an eine Combo aus dem industriell brachliegenden Manchester zwischen den 70ern und 80ern. All der Schmerz und die Hoffnungslosigkeit einer desillusionierten Jugend vor dem tristen Hintergund leerstehender Fabrikruinen rufen sich bei diesem Album, das bewusst auf eine schwülstige Produktion verzichtet, noch einmal in Erinnerung. Wobei der Titel aber eine andere Bedeutung haben könnte. Denn Lotus Feed geistern auch schon rund 20 Jahre im Musikzirkus umher, haben sich aber in den letzten Jahren rar gemacht. Aus dieser Stille ragen nun elf Stücke empor, die sich anfangs bei "Pressure" noch tröstend um unser Hörorgan legen. Doch die Wut und auch Verzweiflung brechen sich langsam Bahn und erreichen bei "Legacy" ihren ersten explosiven Höhepunkt. Alles, was Alexander Landsberg singt, meint er in diesem Moment auch. Sein alertes, flirrendes, von zartem Vibrato durchzogenes Organ setzt sich vom brodelnden Arrangement aus packenden Riffs, dominanten Basslinien und aufgewühltem Schlagwerk ab, wirkt wie der fahnenschwingende Anführer einer neuen, extrem fühlenden Generation. Denn "Songs From The Silent Age" ist entgegen des Titels laut und fordert die Menschen zum Nachdenken auf. Ob die Songs die eigenen Emotionen betrachten oder allgemeine gesellschaftliche wie politische Themen behandeln: Lotus Feed liefern den inoffiziellen Soundtrack für eine Welt, die aus den Fugen geraten ist.
Eine andere Möglichkeit, um mit dem wenig erfreulichen Status Quo unserer Erde umzugehen, wäre ein tönerner wie textlicher Eskapismus. Den liefert Lucky And Love aus Los Angeles mit ihrem zweiten Album "Transitions", zu deutsch etwa: "Transformation". Ein schlau gewählter Titel, denn tatsächlich bewegt sich im ohnehin schon herrlich fluffig wabernden Synthgaze etwas weiter. Eröffnet sich das Album mit fordernden Beats in "Soul Alive" und kommt bereits mit "Animal (I Wanna See You)" zu einem ersten, fulminanten Kleinod unterkühlten Synthie-Pops, entwickelt sich im Laufe der Platte eine zunehmende Abkehr von der Tanzflächenaffinität. Leidglich das noch programmatische "Dancing Alone Again" feiert sich und seine herrlich schroffe Leichtigkeit aus analogen Kästen und dringlichem Schlagwerk. Doch ab "Summertime Frolic" ändert sich die Stimmung. "Transitions" wird ätherischer, geradezu transzendental. Am Ende steht "Rosary", ein staubig wirkender Song, der sich wie ein mächtiger Monolith aus der sonst eher gleichmäßig-harmonischen Soundlanschaft von Lucky And Love erhebt. Das Ende wirkt umso kräftiger, weil die vielschichtige Stimme von April Love den basssatten Klangwiesen ihres Mitstreiters Loren Luck eine Symbiose eingeht, in den voluminösen Sounds geradezu eintaucht. In den übrigen Songs irrlichtert sie mal herrlich gekünstelt, mal glaubhaft unschuldig und dann wieder völliig bei sich durch die Kompositionen. All das erinnert in seiner Schwerelosigkeit an jene Nummern von Washed Out, aber auch Art-Synth-Gruppen wie Austra könnte man als Vergleich heranziehen, wenngleich Lucky And Love nicht Gefahr läuft, durch eine fette Produktion sich ihren eigenen Charme wegzunehmen. Denn in diesen Zeiten, wo eine technologische Perfektion die nächste jagt, haben bewusst heruntergefahrene Produktionen einen besonderen Reiz, denen man nicht entkommen kann.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 24.06.2019 | KONTAKT | WEITER: IM GESPRÄCH - KONTRAST ZU "UNAUFHALTSAM">
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lotusfeed.bandcamp.com
www.luckyandlove.com
Covers © Maple Death Records/Cut Surface (Grotto Terrazza), Solange Endormies (Meager Benefits), Icy Cold Records/Altone (Lotus Feed), SRD-Southern Records Distributors (Lucky And Love)
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