MARKUS GÖRES, MAURICE SUMMEN "WAS ERSCHEINT, IST GUT, WAS GUT IST, ERSCHEINT - STAATSAKT STORIES" - BERLIN, ALTERNATIV, LOS! - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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MARKUS GÖRES, MAURICE SUMMEN "WAS ERSCHEINT, IST GUT, WAS GUT IST, ERSCHEINT - STAATSAKT STORIES" - BERLIN, ALTERNATIV, LOS!

Exlibris
Natürlich hätte Maurice Summen zum 20. Geburtstag seines Labels Staatsakt einfach mal ein bisschen ausder Plattenkiste plaudern können. Wie er auf die Idee gekommen ist, jenes Label zu gründen, das mit zu den aussagekräftigsten und experimentierfreudigsten gehört, wenn es um die deutsche Indie-Szene geht. Er hätte so richtig auf den Putz hauen und prahlen können, dass er mit Andreas Dorau und Dieter Meier zwei großartige Avantgardisten der 80er Jahre in seinem Roster hat, sowie mit Isolation Berlin oder Die Kerzen stilprägende Gruppen verpflichtete, deren Einluss auf die deutsche Alternativszene bis zum heutigen Tag anhält.

Wie gesagt: Das hätte er machen können! Hat er aber nicht. Denn erstens wäre das unsympathische Selbstbeweihräucherung eines Mannes gewesen, der selbst als Musiker viel zu sehr mit seinen "Vertragspartnern" verbandelt ist und somit auf Augenhöhe interagiert, und zweitens würde es auch schnell langweilig werden, die Geschichte eines so hoch angesehenen Labels aus nur einer Perspektive zu erzählen.

Denn das Label, das ist nicht nur der Firmenchef, sondern das sind die Bands, deren Mitglieder sich mit Hingabe den Allerwertesten aufreißen, um tolle Musik zu produzieren. Deswegen ist das zum Jubiläum erschienene Buch "Was erscheint, ist gut, was gut ist, erscheint" wie ein großes Familientreffen. Jeder der rund 40 Künstlerinnen und Künstler, die hier zu Wort gekommen sind, haben von PR-Chef Markus Göres einen umfasssenden Fragebogen erhalten, den sie ausfüllen sollten. Bereitwillig gaben sie ausführlich Auskunft über ihre Werdegänge, der schließlich ins Hier und Jetzt - und natürlich zu Staatsakt - führen.

Nach Vorbild von Jürgen Teipels immer noch herausragenden NDW-Chronik "Verschwende Deine Jugend", haben Summen und Göres die verschiedenen Aussagen (laut Nachwort mehr als zwei Millionen Zeichen) collagenartig zusammengeführt. Der Leserschaft ergibt sich so nicht nur ein dichtes Bild der einzelnen Künstlerinnen und Künstler. Der Zeitgeist von mehr als 30 Jahren Subkultur in Ost- und Westdeutschland wird plastisch vor Augen geführt. Denn die Jugend eines Tilman Rossmy (Sänger bei Die Regierung, Jahrgang 1958) unterscheidet sich dann doch von der eines Felix Keiler (Sänger von Die Kerzen, Jahrgang 1991) deutlich.

Wobei im ersten Kapitel "Öde an die Freude", die das Heranwachsen der Interviewten beleuchtet, eine Gemeinsamkeit schnell auszumachen ist: Ob auf dem Dorf oder in der (Klein)Stadt - Musik wird zum Epizentrum der Selbstfindung und des sich ausformenden Selbstbewusstseins. "Anders, irgendwie besser als der Ist-Zustand, die meiste Zeit", fasst Locas-In-Love-Sängerin Stefanie Schrank ihr Gefühl als junge Erwachsene zusammen und dürfte damit so ziemlich allen am Buch beteiligten aus der Seele sprechen.

Und wo, wenn nicht in Berlin, kann man sein Unangepasstsein kultivieren. Schließlich besitzt die ehemalige Mauerstadt immer noch einen ganz eigenen Vibe, den Seeed 2001 bei "Dickes B" und Peter Fox solo acht Jahre späterin "Schwarz zu Blau" perfekt eingefangen hat. "Berlin fand und finde ich spannend, weil es schrofff und dreckig ist, man überall hin wahnsinnig lange braucht und die Schrippen einfach in jeder Bäckerei nach Pappe schmecken." Hanitra Wagner aka Vaovao beschreibt punktgenau den Charakter der deutschen Hauptstadt, die trotz Gentrifizierung immer noch das Etikett "arm aber sexy" mit Stolz tragen kann. Für Kunstschaffende bleibt die Metropole weiterhin ein Leuchtturm und Schmelztigel.

Und so erzählen die Befragten über ihr Leben in beziehungsweise mit Berlin, reißen (und auch das ist äußerst sympathisch) nur kurz den ersten Kontakt mit Maurice Summen respektive Staatsakt an, um schließlich sich in den allgemeinen philosophischen Diskursen zu ergehen: Der Wert der Musik in Zeiten der Digitalisierung, die realen Ängste in einer von Umweltzerstörung und Kriegen gebeutelten Welt, der fast unauflösbare Spagat zwischen alternativem Künstlerleben und notwendigem Borterwerb. Das Ende, ein Blick in die nahe Zukunft, zeigt sich dann doch versöhnlich sowie hoffnungsvoll und gedenkt unter anderem auch jene ein, die bereits nicht mehr unter uns weilen, wie beispielsweise Francoise Cactus von Stereo Total, die 2021 dem Brustkrebs erlag.

285 Seiten, die vor prall gefülltem Leben nur so vibrieren, sind gespickt mit nachdenklichen Momenten, heiteren Anekdoten und launigen Kommentaren (Otto von Bismarck, unter anderem Space Cowboys: "In meinem Alter ist es ein Riesenerfolg, wenn man morgens aufwacht und keinen Zettel am Zeh hat"). Dass es eigentlich um das Staatsakt-Label geht, hat man am Ende fast vergessen.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM:12.09.23 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 14/23>

Webseite:

ISBN 9783957325693

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