ULTRAVOX UND "MR. X": KOPFKINO MIT GÄNSEHAUT-FAKTOR
Als das Synthie-Pop-Opus „Vienna“ im Juli 1980 in den Handel kommt, ist die englische Ausgabe des Krimi-Brettspiels „Scotland Yard“ noch nicht erschienen. Trotzdem wandelt Ultravox-Drummer Warren Cann mit seiner ersten Solo-Nummer auf den Spuren von „Mr. X“ und sucht im Großstadt-Dschungel nach dem flüchtigen Fremden.
Bis zum Schlusstakt der Sechseinhalb-Minuten-Hymne gelingt es den nüchtern gehaltenen Erzähler-Lyrics nicht, die Phantom-Fassade zu durchbrechen: Monoton tröpfelnd, perlt das Wort an der Oberfläche ab, verliert sich im rhetorischen Fragen-Labyrinth – und verhallt, am Ende seiner Kräfte, im akustischen Nirwana. Wer ist der mysteriöse Herr X, dieser vollkommene Unbekannte aus den 1940er Jahren, dessen perfekt anmutendes Bild den Sprecher verfolgt und fasziniert?
Cann spricht seine ausdruckslosen Worte wie im Trance: Ganz im Bann der fotografischen Vision stehend, gibt er die Geschichte einer rastlosen Suche zu Protokoll. Dabei erscheinen die Sätze als einsame Fragmente eines größeren Zusammenhangs, der sich im Rückblick nicht mehr rekonstruieren lässt: „Right now, it’s impossible to tell.“ Nur der Hörer ist Zeuge, während der Monolog mit Unterbrechung vom Tonband spult; als stummer Beobachter einer psychologisch anmutenden Hypnose-Sitzung vernimmt er die emotionslose Stimme Canns, die sich am Ende als leiser Wahnsinn in die Gehörgänge schleicht.
Mit Brücke und Flughafen wählt Warren Cann zwei klassische Übergangsorte für seine Szenerie, die bald vom Versuch des Konkreten ins gänzlich Surreale kippt. Das Trugbild von Mr. X erscheint dem Sprecher zunächst in Gestalt des munter pfeifenden Spaziergängers (der sich dann doch nur als Pseudo-Doppelgänger entpuppt); als ihm der Fremde zum letzten Mal begegnet, sitzt dieser auf einem Flugzeug-Flügel und ignoriert sein Winken aus der Ferne. Die augenscheinliche Leere der Sprecher-Realität wird zur Projektionsfläche, die das Gedankenkarussell in raren Momenten mit Leben füllen darf – um den Erzähler am Ende doch wieder auf sich selbst zu verweisen. In akustischer Endlosschleife spult er schließlich den Namen des Unbekannten ab und wiederholt sein trauriges Sehnsuchts-Mantra: „I’m still searching, I’m still searching.“
Während der Sprecher in seinem Text gefangen bleibt, geht die melancholisch schimmernde Musik von Warren Cann einen Schritt weiter – und entwirft mit düsteren Klangfarben und flirrendem Synthie-Pinsel eine Charakterstudie in bestem Stereo-Sound. Gut eine Minute, bevor der Erzähl-Part beginnt, ist das atmosphärisch dicht gewebte Klangnetz scheinbar mühelos gespannt: Herr X sitzt hilflos in der Falle. Gespenstisch rauschende Minimal-Sounds erzeugen einen akustischen Tiefensog, der dem Phantom den Tarnmantel entreisst. Elegante Klang-Linien verleihen dem gezeichneten Ich Kontur, während mystisch flimmernde Elektro-Wogen das Bild des Unbekannten schließlich aus der Fläche spülen und in die dritte Dimension befördern. Wie eine Erkennungsmelodie taucht dieses Thema im Rahmen der Cann-Nummer immer wieder auf. Kopfkino mit Gänsehautfaktor, in dem der Hörer schnell die Herrschaft des Klangs über das Wort zu spüren bekommt: Mr. X muss nicht mehr gefunden werden. Er ist bereits da, und das von Anfang an. Was dem Erzähler der Geschichte verwehrt bleibt, wird für den Hörer dank plastischer Melodieführung am eigenen Leibe erleb- und erfahrbar: Die Begegnung mit dem vollkommenen Fremden, lösgelöst von Zeit und Raum – im vollkommenen Ultravox-Sound.
|| AUTOR: ANTJE BISSINGER // DATUM: 27.04.2014 ||
FOTOS/COLLAGE © ANTJE BISSINGER.
© || UNTER.TON 2014 |