12/24: BILLY ZACH, VLIMMER, NO FILTER, PANIK DELUXE, NORMAL BIAS, DÚO EL MAR - KAPUTT HAUEN UND RUHE FINDEN
Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2024
Melancholie auf cool getrimmt. So kann man vielleicht das, was Billy Zach machen, bezechnen. Schließlich sind ihre Songs die berühmten 14 Tage Regenwetter in Noten gegossen. Allerdings gehen die Hamburger mit bayerischem Migrationshintergrund sehr lässig damit um. Mit ihrer neuesten EP "Interferer" vefolgt das Quartett ihren bedrückenden Mix aus psychedelischen Rocksounds, Punk-Versatzstücken und flüchtigen Shoegaze und Post-Punk-Verweisen weiter. Der kann bei "Fall" auch schon mal in existenzialistische Schreierei ausarten und bei "Russian Dolls" geradezu abgewichst groovy klingen. Unter dem Strich bleibt Billy Zach eine Traurigkeitscombo, die irgendwo zwischen Joy Division und Swans den Lärm des Rocks mit dem Weltschmerz einer verlorenen Generation gekonnt vebindet. Dabei geht das Vierergespann auch gerne mal den ungewohnten Weg und baut Nummern auf, die sich dem Trend, immer kürzer zu werden, komplett verweigern. Aber "I Am You" (sechs Minuten) und "Painted Nails" (sieben Minuten), welche die monolithenen Anfangs- und Endpunkte von "Interferer" markieren, leben von einer sich langsam aufbauenden, redundanten Bassfigur, über die sich verhallte Gitarren ausbreiten und teilweise lärmend über den Hörer zusammenfallen, sodass ein Korsett von radiofreundlichen drei Minuten der Stimmung in keiner Weise gerecht werden würde. "Interferer" ist ein kleines Meisterwerk geworden, bei dem sich Wut, Depression und eine grundlegend pessimistische Haltung gegenüber unserer Zeit derart ineinander verschränken, dass es unmöglich ist, sich von dieser Musik gewordenen Raserei anstecken zu lassen und - wenigstens in Gedanken - alles kurz und klein zu schlagen.
Ganz anders die Gefühlslage bei Vlimmer: Wenn das Projekt von Alexander Leonard Donat indviduell angefertigte Schwermutskompositionen veröffentlicht, möchte man sich in eine dunkle Kammer begeben, die im schwachen Kerzenschein nur zögernd seine Umrisse preisgibt, um kauernd an der Wand zu hocken, den "Sinkkopf" zwischen die Beine geklemmt und die Hände darübergeschlagen. Aber das neueste Werk "Bodenhex", das ein Jahr nach dem immer noch bewegenden "Zerschöpfung" erschienen ist, will sich einmal mehr den Erwartungen entziehen und neue Facetten des donat'schen Klangkosmos herausarbeiten. So knallt "Überrennen" und das abschließende "Fadenverlust" mit tonnenschweren Double-Bass, die sich Alexander aus dem Black-Metal-Fundus geborgt hat, aus den Boxen. Diese bewusst ungeschliffen gehaltenen Stücke kommen im richtigen Moment, denn das vierte Album des Projektes (und das abschließende einer Reihe von diesjährigen hochqualitativen Donat-Produktionen alias Assassun, Feverdreamt, Whole und Fir Cone Children) hätte den - zugegeben immer noch höchst anspruchsvollen - Vlimmer-Sound einvakuumiern und damit auf Nummer sicher gehen können. Der Berliner behält aber nur seine Trademarks wie die schaurigen Zitherklänge und seine cure-esquen Gesänge bei, zeigt sich sonst jedoch sehr offen, was sich im, für Vlimmer-Verhältnisse geradezu synthie-poppigen, "Lichtbruch" manifestiert. Nachwievor versucht das Projekt in seinen Liedern, der Existenz irgendwie beizukommen. Dieses muss in dem weltlichen Chaos, dargestellt in Vlimmers Soundästhetik, sich behaupten und formen. Denn eigentlich ist alles "Vielzuviel", doch was bleibt einem anderes übrig, wenn man zum Leben verdammt ist? "Ich wurde nicht gefragt". Jean Paul Sartre lässt grüßen.
Welch perfekte Überleitung auf No Filter. Denn wie der einflussreiche Philosoph, stammen auch No Filter aus Frankreich, geanuer gesagt aus Voignon, südlich von Lyon. Ihr erstes Album "Sans Filtre" ist ein eigentümlicher Hybrid aus räudigem Elektro und energetischem Oi-Punk, unterlegt mit französischen Texten. Eine gute Entscheidung der Jungs, die ihre ersten musikalischen Gehversuche anno 2018 noch in Englisch unternahmen. Das Nutzen ihrer Muttersprache und der zunehmende Einsatz elektronischer Instrumente formte einen spannenden, eigenwilligen Sound, den No Filter freudebringend auf ihrem ersten Album ausspielt. Zunächst 2023 als Kassette veröffentlicht, haben sich Avant! Records bereit erklärt, "Sans Filtre" nochmals als Vinyl auf den Markt zu werfen - inklusive neuem Artwork. No Filter haben die richtige Energie ins Studio gebracht, so dass Stücke wie "La Haine Nous Appartient" ("Der Hass hat uns auseinandergebracht") ebenso authentisch rüberkommt wie das Hochhalten der Freundschaft, sei es im (wohl authentischen) Nachruf "A La Mémoire de SHORT79" oder im liebevollen "Frère De Coeur" ("Herzensbruder"). Der druckvolle Gesang bildet dabei einen eigenwilligen Gegenpol zu dem schnellen, aber teilweise sogar sehr poppigen Synth-Punk (bei "Octogone" darf sogar der berühmte Orchester-Hit mitmachen). Das Album rauscht in nervenzerfetzender Geschwindigkeit an einem vorbei; nach rund 30 Minuten ist "Sans Filtre" schon wieder passé. Eine überraschende Platte, die zeigt, dass selbst eine so "romantische" Sprache wie Französisch dazu taugt, in aggressivem Ton vorgetragen zu werden. Darauf erst mal eine Gauloise ohne Filter.
Wie herbes Kraut klingt auch "I Was An Apple And I Got Peeled" der Wienerin Lily Elektra aka Panik Deluxe. Der Name ist Programm, denn auf ihrer ersten abendfüllenden Veröffentlichung begibt sich die Künstlerin auf eine fast schon selbstzerstörerische Reise, in der sie sich mit der Auflösung ihrer Identität beschäftigt. Selbst wenn es nicht zum Äußersten kommen muss, lebt in ihren Songs ein destruktiver Geist, der sich bereits in "Twigs" durch die krätzigen Synthesizerlinien manifestiert, denen verzerrt-rumpelige Beats dazugelegt werden. Selbst anfänglich fast schon lieblich anmutende Stücke wie "Sabotage" werden spätestens im Finale zu latent lärmenden Ungeheuern, die das destruktive Momente der Texte von Panik Deluxe weitertragen ("I have no wounds, I am one"). Das Projekt sympathisiert durch ihre elektronische Kantigkeit mit der momentan prosperierenden NNDW-Szene; es ist daher nicht verwunderlich, dass Lily mit seinem Musikerkollegen Lauenburg aus Kiel (unbedingt von ihm anhören: "Turmalin") auf "Shame" gemeinsame Sache macht. Panik Deluxe widersetzt sich allen möglichen Hörerwartungen, indem sie in jedem neuen Song eine weitere musikalische Facette preisgibt. So stampft es in "Kilohertz" ziemlich monoton und dreckig zwei Minuten lang aus den Boxen, während Lilys Stimme zu einem weiteren Instrument mutiert. Nur, um einige Stücke später in "Amends" mit einer engelsgleichen Intonation und gedämpftem Electrosound, der erst im Verlauf der Nummer auflebt, dem Weltschmerz Tür und Tor zu öffnen. Ebenso wirft das finale "A Simple Phrase" mit seinen wattigen Flächen und dem mit Echoeffekt angereicherten Gesang ein anderes Licht auf die Musikerin. Lily ist eben doch in erster Linie Melancholikerin der gehobenen Sorte.
Was bitteschön ist eigentlich gerade in New York los? Dort sprießen hoffnungsvolle Electro-Acts wie Pilze aus dem Boden. Nach Nation Of Language, die sich dem spröden New Romantic Sound von OMD annäherten, zeigt nun Normal Bias auf ihrem ersten Album "Kingdom Come", wie geil selbstreferentieller Electro sein kann. Matt Weiner und Chris Campion, beide schon zuvor musikalisch tätig, kredenzen uns einen überraschenden Sound, der irgendwo zwischen frühen EBM-Strukturen, New Beat und Pop hin- und herpendelt. Depeche Mode kann man sicherlich in den Ring der Vergleiche werfen (was auch an Weiners feinem Bariton liegt), aber auch die frühen Clan Of Xymox oder Propaganda oder Front 242 oder oder oder. Im Grunde genommen haben Normal Bias alle elektronische Spielarten der mittleren und späten 1980er in ihren Sound verwoben und nennen es nicht unpassend Industrial Body Funk. Das Erstaunliche ist aber ihre perfekte Reproduktion. Das sehnsüchtige "Burn Into Gold" oder die hypnotische Nummer "Embody Control" könnte man auch als verschollene und wiederentdeckte Clubsongs aus den Jahren um den Mauerfall herum durchwinken. Ein weiterer Pluspunkt für "Kingdom Come": Er ist geradezu prädestiniert für den europäischen Markt. Normal Bias wäre seinerzeit in solch kultigen Tanztempeln wie dem Dorian Gray in Frankfurt auf schwerer Rotation gelaufen. Wer sagt aber, dass dem Duo dieses Glück in ähnlicher Form nicht auch beschieden sein kann? Zweifelsohne erinnern Normal Bias aber mit ihrem Erstling an die unbändige Energie der frühen Elektronikproduktionen, als Bands nichts anderes wollten, als den Synthesizer wie einen Synthesizer klingen zu lassen. Immer noch spannend.
Abschließend verlassen wir die strombasierte Klangerzeugung und geniessen die Ruhe vernebelter Herbsttage, wenn der Sturm vorübergezogen ist und die bunten Blättern von den Bäumen getragen wurden. Für diese Momente scheinen die Lieder von "Tunes Of Tide And Time" von Dúo El Mar wie gemacht zu sein. Der stets unterschwellige melancholische Tenor dieses Albums harmoniert mit der typischen Stimmung dieser Jahreszeit, in der sich die Natur für den Winterschlaf bereit macht und sich das Leben entschleunigt. Zwar lässt der Bandname südeuropäisch-maritime Klänge vermuten (und tatsächlich finden sich auch einige spanische Stücke auf diesem Debütalbum), doch Ella Zlotos und Maria Nikola sind ganz Fans der keltischen Folk-Musik. Ihr Repertoire enthält demnach vor allem Instrumentals und Lieder schottischer, irischer und bretonischer Provenienz. Nikolas Solo-Album haben wir vor kurzem bereits bei UNTER.TON vorgestellt; im Verbund mit Zlotos Expertise für Tin und Low Whistles gelingt den beiden ein kontemplatives Werk, das wie bei "Brian Boru's March" eine - vielleicht auch über alle Maßen romantische - Vorstellung früherer Generationen und ihrer naturverbundenen Lebensweise vor dem geistigen Auge materialisieren lässt. Das abschließende "Rolling Down To Old Maui" gehört sicherlich zu den Höhepunkten des Albums. Die beiden Musikerinnen bilden feine Harmonien im gemeinsamen Gesang, während warme Harfenklänge von einem Harmonium begleitet werden. Mit weniger als einer halben Stunde Spielzeit fast schon ein wenig zu kurz, ermuntert uns "Tunes Of Tides And Time" die Wiederholungstaste zu drücken, um sich einmal mehr dem archaischen und liebevollen Zauber dieser Musik hinzugeben und innere Ruhe zu finden.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 11.11.24 | KONTAKT | WEITER: BERQ VS. STREICHELT>
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