DIRK MAASEN "OCEAN" VS. NIKLAS PASCHBURG "SVALBARD" VS. ROOSMARIJN "INSIDE OUT": METAMORPHOSEN - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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DIRK MAASEN "OCEAN" VS. NIKLAS PASCHBURG "SVALBARD" VS. ROOSMARIJN "INSIDE OUT": METAMORPHOSEN

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Neuere Musik (und wir reden hier über eine Zeitspanne von rund 100 Jahren) streckte immer wieder ihre Fühler in die Klassik aus. Umgekehrt hat es jedoch eine lange Zeit gedauert, bis auch Komponisten und Interpreten sich der vermeintlich oberflächlichen Popkultur zu öffnen. Mittlerweile beschert diese Entwicklung beispielsweise dem Violonisten David Garrett, der in angemessener Rock-Pose und in Jesus-Optik von den Tourplakaten auf die Menschen blickt, volle Hallen. Und eine Lindsey Stirling gibt sich der groß angelegten Show mit textilen Verweisen auf Fantasy-, Piraten- und Steampunkträumereien mehr hin als ihrem durch eine Menge Elektronik gejagtem Geigenspiel.

Hier sind wir an einem Punkt der extremen Vermarktung angekommen, der zu einem Personenkult führt und die Musik im Allgemeinen und das Talent des Musikers im Besonderen in den Hintergrund treten lässt. In diesen Sphären befindet sich ein Dirk Maassen nicht. Der gelernte Elektrotechniker ist trotz seiner Kunst immer noch hauptberuflich als Softwarehersteller tätig. Es waren enge Freunde, die ihn dazu überredet haben, seine Kompositionen ins Netz zu stellen. Ein weiser Ratschlag, wie sich später herausstellen sollte.

Seine auf Soundcloud veröffentlichten Klavierminiaturen erreichten umgehend die Spitze der dortigen Klassik-Charts, was das Interesse nicht nur der Hörer, sondern auch der Plattenfirmen weckte. Zunächst bei Cargo Records unter Vertrag, erscheint "Ocean", sein zehntes Album in sechs Jahren, erstmals beim breitenwirksamen Sony Classical.

Ganz Neoklassiker, der Maassen nun mal ist, geht es bei ihm verträumt, sphärisch und vor allem kontemplativ zu. In seinen Stücken gibt der gebürtige Herzogenrather nicht nur einen Teil seiner Seele preis, sondern ermöglicht dem Hörer auch den eigenen Blick nach innen. Das Eröffnungsstück "Feather" hat der Pianist für seinen kranken Vater komponiert. In seinem perlenden Spiel vereinen sich Traurigkeit, Wehmut, aber auch eine hoffnungsvolle Ahnunug. Das Stück gibt den Tenor des ganzen Albums vor, das zuförderst - der Titel lässt es erahnen - den Ozean zum Mittelpunkt hat.

Diesem geht Maassen auf dem Grund, um beim Bild zu bleiben. Er taucht tief in seine Gedanken ein und vertont sie auf einfache aber wirksame Weise. So schwillt in "What We Are" aus den anfänglichen Pianoklängen ein jubilierendes Streichquartett an, das auch so etwas wie das Feiern des Lebens ist. Und dieses hat seinen Ursprung im Ozean.

Schließlich ist das Meer in seiner scheinbar unendlichen Weite auch Projektionsfläche für manch Phantastereien, die der Pianist im abschließenden Titelstück gebündelt wiedergibt. Die stürmische See als Inbegriff der unbändigen Natur, die sanft gekräuselte Wasseroberfläche an einem klaren Sommertag, die unheimliche, nicht enden wollende Tiefe des Gewässers: Der Ozean vereinigt viele Gemütszustände der menschlichen Seele in seinem Wesen, wird zum anthropologischen Sinnbild. Dirk Maassen schafft hierzu ein tönernes Äquivalent voller Emotionen.

In fast identischer Manier entstand vor rund zwei Jahren Niklas Paschburgs erstes Album "Oceanic". Wie auch Maassen diente dem Mann aus Hamburg das Meer als Inspirationsquelle. Für das aktuelle Album hat er sich den Namen seines temporären Aufenthaltsortes ausgesucht: "Svalbard", hierzulande besser bekannt als Spitzbergen.

Diese Inselgruppe zählt zu den nördlichsten besidelten Gebieten, ehe das arktische Eis beginnt. Die Menschen dort leben ein rauhes Leben, besonders in den Wintermonaten, wenn das Thermometer jeden Tag zweistellige Minusgrade anzeigt und die Sonne nur mehr zu erahnen ist. In dieser Zeit entstanden seine Stücke. Sowohl die unwirtliche Landschaft, aber auch die Ausmaße der Veränderungen, hervorgerufen durch den Klimawandel, beschäftigen ihn und lassen seine Stücke mal melancholisch, mal staunend und dann wieder völlig in sich gekehrt wirken.

Dabei verlässt sich der Opener "If" noch ganz auf neoklassische Tugenden. Doch die meditativen Klavierkadenzen weichen flächiger Elektronik mit porösem Rhythmus und lassen die eisige Landschaft Spitzbergens durch die Komposition aufleben. In seinen Stücken verarbeitet er das Erlebte seines Aufenthalts: "Cyan" beispielsweise entstand unter den Eindrücken eines arktischen Sturms, den Paschburg unerwartet traf. Aus der anfänglichen Ruhe entwächst ein musikalischer Blizzard mit schneidenden Beats, zischelnden Sequenzen und einem aufgewühlten Klavier. "Little Orc" hingegen ist dem kleinen Küstenvogel Auk gewidmet (hier wohl besser bekannt als Tordalk), wobei "Orc" ein versehentlicher Rechtschreibfehler ist, den Paschburg aber beibehalten hat. Das tippelnde Klavier zu Beginn erinnert tatsächlich an die etwas ungelenke, pinguinhafte Bewegung dieser Vögel an den Steilküsten.

Im Verlauf des Albums arbeitet sich der Musiker immer näher an atmosphärische Electronica heran, klingt in "Opera" gar wie ein dekonstruierter Yann Tiersen, der eines seiner Stücke aus dem "Amélie-Soundtrack" in schwere subbassige Flächen verhallen lässt, während nebelige Orgelklänge die scheinbare Unendlichkeit arktischer Weiten eingedenkt.


Alles scheint sich auf "Svalbard" wie in Zeitlupe abzuspielen. Selbst ein "Husky Train" könnte mit seinen leiernden Flächen und einem gleitenden Pianolinien als Untermalung für eine Superslowmotion-Sequenz von einschlägig bekannten Naturdokumentationen herhalten. Dem Titel nach sieht man die faszinierende Schönheit eines Hundeschlittens, der sich den Weg durch die eisige Wüste bahnt.

Zusammen mit Lamb-Musiker Andy Barlow entwirft Niklas Paschburg auf "Svalbard" ein tönernes Rubensgemälde eines Lebens nah am ewigen Eis, das aber gar nicht mehr so ewig scheint. Doch noch überwiegt Faszination, Respekt und Demut über die Kraft der Natur, die diese Region hat entstehen lassen. Auf seinem zweiten Album gibt der Hanseat authentisch seine Gefühle wider, welche in "Winterborn" ein fulminantes, ansatzweise sogar erlösendes Finale münden.

Am Ende dieser Metamorphosen von Klassik- zu Popstrukturen steht die Niederländerin Roosmarijn, die sich mit der Debut-EP "Inside Out" auf eine wundersame Reise begibt, bei der die Grenzen zwischen verschiedenen Genres aufgehoben werden und sich alles zu einem unfassbar schönen Ganzen vereint.

Im Mittelpunkt steht bei der gelernten Violonistin die Bratsche. Der Geige zum verwechseln ähnlich, ist ihr Tonspektrum aber tiefer angelegt, sodass das Spiel dieses Instruments zwar weniger prickelnd, dafür aber voluminöser und auch nebulöser klingt. Fürderhin bereichern Loopstation und Effektgeräte Roosmarijns Experimental-Folk, der bereits für begeisternde Auftritte gesorgt hat.

Für die EP erweitert sie das Instrumentarium um Klavier, Mandoline und Gitarre. Den Kern ihrer fünf Songs bilden aber nachwievor die wie zufällig entstandenen Rhythmen, die mit dem ätherischen Bratschespiel und einer Kapriolen schlagenden Stimme eine Atmosphäre von unendlicher Freiheit vermittelt, bei gleichzeitiger absoluter Intimität.

"Inside Out" sucht nicht nach dem Konsens, sondern will neue Wege beschreiten. In der Tradition von Anna Ternheim und ähnlichen skandinavischen Musikerinnen öffnet sich Roosmarijn ganz ihrer Kompositionen, verschmilzt regelrecht mit ihnen. Einen Unterschied macht es dabei nicht, ob die Gitrarre wie bei "Hollow Heart" oder das gezupfte Streichinstrument mit Electro-Begleitung im Titelsong die ungeteilte Aufmerksamkeit erhält: Es geht Roosmarijn in erster Linie darum, die selbst auferlegte Freiheit zu nutzen. Und sie tut es! Auf wundervolle Weise.

Bei aller Experimentierlust steht für sie aber laut Pressemitteilung ein Ziel fest vor Augen: In zehn Jahren will sie ihre komponierten Stücke mit einem großen Orchester aufführen. Man muss kein Prophet sein, um dieses Unterfangen angesichts ihres Talents als mehr als realistisch einzustufen.

Zusammen mit Dirk Maassen und Niklas Paschburg verkörpert Roosmarijn jene Musiker, die von der Klassik stammen und ihr Handwerk von der Pike auf gelernt haben - eine Grundvoraussetzung, um neue musikalische Sichtweisen zu öffnen. Ihre Metamorphosen sind allesamt gelungen
.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 17.02.2020 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 2/20 >

Webseite:
www.dirkmaassen.com
www.niklaspaschburg.com
www.roosmarijnmusic.com

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COVER © SONY CLASSICAL (DIRK MAASSEN), 7K! RECORDS (NIKLAS PASCHBURG), WHAT WE CALL/BELIEVE (ROOSMARIJN)

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