DOMINIK EULBERG "AVICHROM" VS. FEDERICO ALBANESE "BEFORE AND NOW SEEMS INFINITE": FARBEN UND ERINNERUNGEN
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Früher tönte es aus jeder Kinderkehle: "Alle Vögel sind schon da". Amsel, Drossel, Fink und Star haben damals in großer Zahl ihr Stelldichein gegeben. Doch was einst noch so selbstverständlich klang, ist heutzutage im Zuge der Klimaveränderungen und zunehmender Umweltzerstörung (an der auch das eine Jahr Pause aufgrund der Pandemie nichts ausrichten konnte) eine Seltenheit geworden.
Alle Vögel sind nicht mehr da! Dabei sind diese gefiederten Geschöpfe mit das Farbenfroheste, was die Natur je hervorgebracht hat. Deswegen (und wegen vieler weiterer Gründe) gilt es, die Vogelwelt besonders zu schützen. Dominik Eulberg geht es ebenfalls um Umweltschutz; dabei schafft er die Verbindung zwischen Natur und Mensch auf seine ganz eigene, zauberhafte Weise. Als studierter Biologe besitzt er das Wissen über die heimische Flora und Fauna, die er still beobachtet und von der er immer wieder fasziniert ist. Diese Begeisterung ist beispielsweise in seinem mitreißend geschriebenen Buch "Mikroorgsamen überall" deutlich spürbar. Darin beschreibt er die heimische Tier- und Pflanzenwelt auf sehr liebevolle, subjektive Weise.
Nun ist Dominik aber nicht nur Naturversessener, sondern auch Musiker. Nach seinem Erstling "Mannigfaltig", das ebenfalls das Leben auf unserem Planeten als Inspiration hatte, setzt der Mittvierziger seinen Fokus jetzt auf die Farbenpracht der Vögel. Das Kunstwort "Avichrom" beudeutet daher soviel wie "Vogelfarben". Unter den unzähligen Arten hat sich der Musiker elf ausgesucht, welche die Farbmerkmale bereits in ihrem Namen tragen: "Blaumeise", "Rotmilan", "Purpurreiher", "Grünfink" und so weiter und so fort. Sie sind die Fixpunkte, an die Eulberg seinen roten Faden spannt.
Vom roten Faden zur Roten Liste ist aber es leider nicht weit, denn wie eingangs erwähnt sind viele Vogelarten stark in ihren Beständen gefährdet. Ihnen widmet Dominik ihre ganze Aufmerksamkeit - so wie in "Braunkehlchen", dessen dringlicher Groove und die kratzigen Basslinien davon zeugen, dass diese Vogelart es von Jahr zu Jahr schwieriger hat, bei uns zu überleben.
Sicherlich kann man sich die Songs auch einfach so einverleiben, doch es ist bestimmt nicht im Sinne des Musikers und Naturschützers. Vielmehr verlangt "Avichrom" von seine Hörern, sich die fragile Schönheit dieses Planeten bewusst zu machen und diese zu bewahren. Dementsprechend vereinen die Songs sowohl die Faszination über die Wunder der Natur, als auch das Bewusstsein über deren allmähliches Verschwinden. In Noten transferiert bedeutet das: Dominik Eulberg lässt in jubilierenden Sequenzen mit einer deutlichen Moll-Note beide Pole aufeinandertreffen. Ein in allen Belangen nachhaltiges Electro-Album.
Feederico Albanese interessiert sich indes nur für eine Natur: die des Menschen. Und diese neigt gerne dazu, zwischen eigener Wahrheit und Realität Diskrepanzen zu evozieren. Oder wie es der französische Schriftsteller Marcel Proust einmal gesagt hat: "Die Erinnerung an die Dinge der Vergangenheit sind nicht notwendigerweise die Erinnerung an die Dinge, wie sie waren."
Unter dieser Präambel hat der Italiener für sein Album "Before And Now Seems Infinite" Songs kreiert, die tatsächlich etwas Erinnerungswürdiges besitzen. Das liegt am massiven Einsatz des Pianos, seit jeher Albaneses Lieblingsinstrument, auf der er sich Songs erträumt und in denen er so etwas wie Blicke zurück in die Vergangenheit versucht. Dabei durchkreuzt er seine von Jazz und moderner Klassik inspirierten Pianostücke (Assoziationen mit Yann Tiersen sind da durchaus nachvollziehbar) mit elektronischen Beigaben und orchestralen Zusätzen.
Hie und da darf auch ein Text die leicht triste Stimmung durchkreuzen. So schafft Marika Hackmann bei "Summerside" eine perfekte Symbiose mit den hüpfenden Linien Albaneses, während Obaro Ejimiwe alias Ghostpoet "Feel Again" mit seinem porösen Organ, der im ersten Moment gar nicht zum Stück zu passen scheint, die Nummer um eine ganz neue Dimension erweitert.
Ansonsten verlässt sich der Komponist auf die Stärke seiner Klavierbearbeitungen. Und er hat allen Grund dazu. Schließlich wandert der Mann ohne Mühe zwischen Klassik und Pop und baut an einigen Stellen im Album auch Anleihen vom Jazz in seine Kompositionen ein. In der Summe macht das "Before And Now Seems Infinite" zu einem überaus attraktiven Album, in dem die Erinnerungen mit sich selbst tanzen und reale Gegebenheiten in ihrer Existenz hinterfragt oder sogar bezweifelt werden. Nur, um einer Erinnerung Platz zu machen, die persönlich gefärbt ist.
"We Hold The Moonlight" erklärt alle Bemühungen, Albaneses Lieder zu beschreiben. Sein sanftes Klavierspiel scheint sich an Geschehenem abzuarbeiten. Wie ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto, das nur den Bruchteil einer Sekunde der Vergangenheit einfängt, dem Betrachter aber so viele Interpretationsmöglichkeiten und Ausschmückungsversuche ermöglicht, will auch dieses Lied eine ferrne Zeit aufleben lassen, die es vielleicht so gar nicht gegeben hat.
In dieser höchst spekulativen Welt mäandert "Before And Now Seems Infinite" mit einer großen Sicherheit umher. Das Album ist ein Ton gewordenes Gedankenspiel mit der Erinnerungsfähigkeit des Menschen. Vieles scheint nämlich mit zeitlicher Distanz dann doch romantischer, als es in Wirklichkeit war. "Before And Now Seems Infinite" verurteilt diese Schwäche aber nicht, sondern erhebt sie zum Stilprinzip. Absolut gelungenes Werk für die kontemplativen Momente.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 24.02.22 | KONTAKT | WEITER: WARM GRAVES "EASE">
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