SARA NOXX "ENTRE QUATRE YEUXX": VOM LEBEN ANGEFIX(X)T
Wenn ein Künstler mit stilbildenden Kollegen seiner Zunft verglichen wird, ist das für den Betroffenen meist Fluch und Segen zugleich. Schließlich legt eine solche Aussage nicht nur wohlwollende Anerkennung nahe, sondern schließt auch drastische Vorwürfe ein.
Beispiel gefällig? Sehr gerne natürlich. Werfen wir doch einfach mal einen Blick nach Bietigheim-Bissingen, wo unter dem fragwürdigen Prädikat der "schwäbischen Depeche Mode" die immer leicht verkannten Jungs von Camouflage den ewigen Schatten der renommierten Elektro-Pop-Giganten zu spüren bekommen. Dass das Oeuvre der Formation zwar nicht im britischen Basildon erdacht wurde, aber trotzdem zu den unstreitbaren Perlen des Genres zählt, interessiert hierzulande leider erschreckend wenige.
Auch Sara Noxx darf sich seit ihrem viel umjubelten Erstling "Noxxious" (1997) mit der leidigen Lob-Kritik herumschlagen, irgendwie doch ein wenig zu sehr wie Anne Clark, Grande Dame des lyrischen Synthie-Pops, zu klingen.
Diesen lästigen Vergleich dürfte das aktuelle Werk, erstes musikalisches Lebenszeichen nach mehrjährigem Schweigen, mit Sicherheit weiter befeuern: Auf "Entre quatre yeuxx" verleiht die Künstlerin aus dem Lande der Dichter und Denker dem gesprochenen Wort durch überraschend minimale Instrumentierung noch mehr Gewicht – und begegnet dem englischen Vorbild somit aus nächster Nähe.
Schon der Blick auf das Cover verrät: "Entre quatre yeuxx" ist etwas völlig Neues, ein echter Wendepunkt in Saras Schaffen.
Erstmals ziert das Gesicht der Sängerin im Halbprofil den Titel. Ihre Haare sind unter einem schwarzen Tuch verborgen, der Blick leicht gesenkt, leise in sich ruhend in ein undurchdringliches Dunkel gerichtet. Die Aufnahme fängt einen authentisch ungeschminkten, schutzlos entblößten Augenblick ein. Der Titel des Albums, der sich mit den Worten "unter vier Augen" ins Deutsche übertragen lässt, unterstreicht diese Intimität.
Wir erleben hier Sara Noxx, wie sie "wirklich" ist – mit Leib und Seele, völlig unverstellt, frei von jedem schmückenden Beiwerk. Und genauso schnörkellos intensiv klingen auch die neuen Songs.
Nach eigener Aussage sind es vor allen Dingen persönliche Erfahrungen und emotionale Erlebnisse, die Sara Noxx in ihr sinistres Liedgut webt. Der aktuellen Platte nach zu urteilen, waren die letzten fünf Jahre seit dem Vorgänger "Intoxxication" wohl nicht immer nur glücklich.
Die Lieder verzichten auf sämtliches Schlagwerk; bleiben minimal arrangiert. Ein dunkelromantisches Klavier, larmoyante Streicher oder tiefschwarze Synthesizer-Flächen sind die wenigen Zutaten, aus denen das Klang-Panorama von "Entre quatre yeuxx" seine erhaben reduzierte Atmosphäre gewinnt.
Ein sich selbst genügendes, uneitel zurückgenommenes Arrangement dieser Art hat natürlich zur Folge, dass das (in Saras Fall gesprochene) Wort an Schwere und Bedeutung gewinnt: Fast automatisch wenden sich Herz und Gehör der eindringlichen Lyrik zu.
"My World Doesn't Revolve Without You" bildet da keine Ausnahme: Hier begleitet ein ängstliches Piano, stets am manischen Abgrund einer drohenden Hysterie stehend, das Lamento der Sängerin, die einer verflossenen Liebe nachsinnt – und plötzlich einer für sie nicht mehr funktionierenden Welt, mit all ihrer unbarmherzigen Härte, gegenüber steht. "Let's Go Out Of My Hand" intensiviert mit seinen schnell gestrichenen Streicher und Pizzicato-Sequenzen diese innere Unruhe: Angst und Ungewissheit sind die unsichtbaren Mitspieler der Szenerie.
Aller Gegenwärtigkeit zum Trotz, gelingt es der Finsternis jedoch nie, den Noxx'schen Klang- und Wortkosmos völlig zu verschlingen.
"Exx Oriente Luxx" und "Back to Life" zeigen den unbedingten Willen zum Leben; im schwülstig-erotischen interpretierten "B.Low" klingt sogar die eindeutig-zweideutige Hinwendung zu irdischeren Sinnenfreuden an. Es sind die kleinen und großen Widersprüchlichkeiten des Lebens, an denen die menschliche Existenz sich laben kann: Kein Glück ohne Unglück, keine Einsamkeit ohne Verbundenheit, keine Liebe ohne Enttäuschung.
In diesem Spannungsfeld entfaltet sich die Lyrik von Sara Noxx: Auf "Entre quatre yeuxx" wird jedes Wort zu einem scharfen Pfeil, dessen mit mystisch schillerndem Gift wohldurchtränkte Spitze ohne jede Vorwarnung in das Bewusstsein des Hörers dringt – und fortan als bittersüßer Stachel in seiner Seele verweilt.
Ihre Poeme breitet Sara Noxx dabei lockend, wie einen bunt gewebten Teppich, vor ihren Hörern aus.
Selbst wenn die Frage nach der Authentizität nie wirklich verstummen will, kommen auch Zweifeler nicht umhin zu glauben, dass es tatsächlich Sara selbst ist, die hier aus dem (emotionalen) Nähkästchen plaudert.
Mag das Album auch einen zutiefst melancholischen Tenor besitzen, so bleibt Sara Noxx doch eine lebensbejahende Person, die sich seit einigen Jahren auch als fürsorgliche Mutter beweisen darf. Regelmäßige Einträge in den einschlägigen Netzwerken verraten, dass diese Rolle die Musikerin mit großem Stolz erfüllt.
Vom Leben angefix(x)t, sind die Alben allein den klanglichen Vorstellungen von Sara Noxx verpflichtet – ohne Rücksicht auf Wünsche oder Vorlieben einer mittlerweile nicht gerade kleinen Anhängerschaft.
So müssen Freunde ihrer Kunst erst einmal damit klar kommen, dass auf dem regulären Release von "Entre quatre yeuxx" keine fordernden Disco-Stampfer im Stile von "Society" oder "Colder And Colder" kredenzt werden.
Hier empfiehlt sich dann doch der etwas tiefere Griff in die (gotische) Geldbörse: Die auf 1500 Stück streng limitierte Deluxe Edition beinhaltet nämlich, neben dem Album und einem opulenten Booklet-Buch, eine Bonus-CD mit spannenden Neuabmischungen. Hier legen nicht nur alte Bekannte wie die Elektro-Popper !distain, People Theatre oder die Old-School-EBM-Senkrechtstarter NZ Hand an die Noxx-Songs; auch die chilenischen Vorzeige-Industrial-Rocker Vigilante verwandeln das lyrische Liedgut in heiß ersehntes Futter für die hiesigen Tanztempel.
Was das fünfte Album am Ende ausmacht, ist in erster Linie der glaubhaft vollzogene Seelen-Striptease einer herrlich unkonventionellen Sängerin, die sich nie den in sich verkrampften Vorgaben einer subkulturellen Schublade beugt, sondern in ihrer Kunst einzig und allein den eigenen Vorstellungen vom Leben verpflichtet bleibt.
Auch wenn vielleicht so mancher Kritiker Anstoß an der teils sehr deutschen Aussprache der englischen Worte nehmen dürfte, bleibt Noxx' eigenwillige Mischung aus Sprechgesang und elektronischer Musik ein reizvolles Thema, das von keiner anderen Musikerin auf derart stimmungsvolle Art und Weise dargeboten wird. Anne Clark läuft natürlich außer Konkurrenz...
||TEXT: DANIEL DRESSLER / ANTJE BISSINGER | DATUM: 01.02.15 | KONTAKT | WEITER: NOYCE™ "FALL[OUT]" >
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Website
www.saranoxx.com
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