KAERY ANN "SONGS OF GRACE AND RUIN" VS. ERRORR "SELF DESTRUCT": SCHÖNER SCHEITERN
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Philosophische Abhandlungen, besonders jene aus der griechischen oder römischen Antike haben höchst allgemein gehaltene Überschriften ("Über den Staat", "Über das Gemeinwesen" etc.). Wohl auch, weil die erst später wiederentdeckten Schriften unvollständig oder fragmentarisch vorlagen und man versucht hat, sie irgendwie sinnvoll zusammenzufassen. Und scheint es besonders in der italienischen Rockszene gerade auch nicht unüblich, Alben ähnlich formelle Titel zuzuschustern. Nero Kane nennen ihre Alben beispielsweise "Of Faith and Lunacy" und "Of Knowledge And Revelation". Kaery Ann nun bietet ihre "Songs Of Grace And Ruin" dar.
Wir haben es also wieder einmal mit der Gegenüberstellung zweier konträrer Begriffe zu tun. Da ist auf der einen Seite "Grace", die Anmut, das Schöne, die uns eine ästhetisch wertvolle Reise verspricht. Dem gegenüber steht "Ruin", die Ruine, der Verfall, das Scheitern. In diesme Spannungsfeld bewegt sich die ganze menschliche Existenz, die ein ewiger Kreislauf aus Entstehen und Vergehen ist.
Kaery Ann, die eigentlich Erika Azzini heißt, bricht diese grundphilosophischen Fragen und Beobachtungen auf ihre persönlichen Erlebnisse runter. Ausgangspunkt war eine Lebenskrise anno 2017, die sie dazu veranlasste, erste Songs zu schreiben. Über die Jahre hat sie Mitstreiter rekrutiert, die ihr unter die Arme gegriffen haben, um "Songs Of Grace And Ruin" zu dem zu machen, was es ist: ein dunkel funkelndes, opakes Juwel, in dem Licht und Schatten gleichermaßen eingefangen sind.
Psychedelische Gitarren entschleunigen die Stücke, die Zeit wird zähflüssig wie Honig, dazu singt Erika in teilweise somnambuler Manier, die bei "Moon Lies" Vergleiche mit Lana Del Rey erlaubt, auch wenn die Amerikanerin eher im Soul verwachsen ist, während Kaery Ann ihre musikalische Sozialisation ganz klar bei den Stromgitarren zu suchen ist.
"Songs Of Grace And Ruin" ist die Innenschau in die sensible Sängerin, die aber sich nicht dazu verleiten lässt, einen kompletten seelischen Zustandsbericht abzuliefern Mittels traumartiger Sequenzen, gespickt mit jeder Menge Symbolik, verklausuliert sie ihre Gedanken und schafft so Distanz zum Publikum. In Kombination mit den dunklen Bassläufen, den verschwenderisch eingesetzten Hall- und Distortioneffekten wirkt das Album wie ein Kaleidoskop der seelischen Zerrüttung, in der aber auch immer eine Prise Hoffnung auf Besserung mitschwingt.
Für ihr erstes Album "Self Destruct" überlassen Errorr aus Schweden wohl nichts dem Zufall. Für das Mastering hat man sich Frederic Kevorkian geangelt, der auch schon den letzten Schliff bei Größen wie The White Stripes oder Beyoncé verpasst hat - um nur zwei zu nennen. Anscheinend hat der Mann verstanden, was Errorr wollen. Ihr Album ist natürlich eine Reminiszenz an die Altheroen des Noise-Rock und Shoegaze. Sonic Youth, My Bloody Valentine oder auch The Jesus And Mary Chain dürften dem Vierergespann mindestens geläufige Namen sein. Eher befindet sich die eine oder andere Platte der genannten Bands im Besitz der Musiker.
Dementsprechend rumpeln die Jungs voller Energie und einnehmend unverblümt drauf los. "SIXXX" fährt das Energielevel bereits auf die höchste Stufe. Zusammen mit Nick Mangione und André Leo kreiert Leonard Kaage, kreativer Kopf von Errorr, eine Wall Of Sound, die so meterhoch und dick ist, das man das Gefühl hat, von ihr begraben zu werden. Wenn dann wie bei "Just Another" auch noch Schlagzeuger Adriano Redoglia aufs Gaspedal drückt, wird einem der Grundgedanke des Rock'n'Roll nicht nur vage in Erinnerung gebracht, sondern mit dem Vorschlaghammer regelrecht eingedengelt. Oder nehmen wir "8 Hours 5 Days": Das ist die Wiederbelebung des Punkspirits. In zweieinhalb Minuten einfach alle Wut auf alles reinpacken, das ganze mit rückgekoppelten Gitarren und berserkerartigem Schlagwerk vermengt, voilà: ein perfekter Song "auf die Fresse", wie Fernsehkoch Frank Rosin sagen würde.
Dass Errorr sich aber auch im Zaum halten können, beweisen sie mit "Deep Blue", das erst in den finalen Takten zum Schuhstarrer-Sound greifen. Davor schleicht der Track wie ein nervöser schwarzer Panther in seinem Käfig hin und her. Auch "Something" lässt zwar die Saiteninstrumente wie Sirenen erklingen, doch der geschmeidige Groove macht die Nummer zahmer und handlich.
Insgesamt aber dominiert bei "Self Destruct" der Lärm, durch den sich Leonard Kaage durchbeißen muss und dies auch recht mühelos schafft. Schließlich sind seine Themen auch keine, die in sanftem Vobrato vorgetragen werden könnten. Auch Errorr lieben das Kaputte, was der Albumtitel ja bereits erahnen lässt. "Paranoia" oder auch "With Love From The Grave" zeigen die düstere, psychisch labile Grundhaltung des lyrischen ichs. Das Album verbrennt sich über die gesamte Länge an beiden Seiten, ehe das abschließende "I Don't Feel Like Talking" mit seiner redundanten Akustik-Gitarre und dem seltsam distanzierten Gesang wie das leise Nachglimmen nach einem zerstörerischen Lauffeuer.
Dieses Kleinod zum Schluss klingt so, als hätte Errorr für ihr Debüt alles gegeben, mental wie physisch. Der letzte Song ist die Vertonung des Ausgebranntsein, der innerlichen Leere, der man anheimfällt, wenn man sich zuvor in epischer Breite über die Schlechtigkeit der Welt echauffiert hat.
Hoffen wir mal, dass es sich dabei nur um eine kleine Pause handelt und Errorr zu einem weiteren Derwisch-Album ansetzen. Das Gleiche gilt auch für Kaery Ann, die in Zukunft weiter Seelenabgründe aufzeigt und dem Scheitern eine betörende Ästhetik verleiht.
Webseite:
errorr.bandcamp.com
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