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10/18: VNV NATION, THE BEAUTY OF GEMINA, THE WIDE, LYDIA LUNCH, MUSTA PARAATI - HOHER REIFEGRAD

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2018

Das geflügelte Wort des "Alten Eisens": Bei den folgenden Gruppen und Musiker(inne)n trifft es überhaupt nicht zu. Eher strotzen die fünf zu besprechenden Alben eine Selbstsicherheit und Spielfreude aus, hinter der man nur erfahrene Hasen vermuten kann.

So offenbart "Noire", das zehnte Studioalbum der Future-Pop-Legende VNV Nation, jene Synergien, die entstehen, wenn vom Projekt tradierte Klangkonzepte auf höchsten technischen Anspruch und offenkundiger Experimentierfreude treffen. Da darf dann neben pumpenden Bass-Drums und in aller epischen Breite ausgerollten Synthesizer-Sounds auch ein an Eric Satie angelehntes Klavier-Stück wie "Nocturne No.7" in seiner instrumentellen Einfachheit und emotionalen Direktheit strahlen, und "Guiding" verlässt sich auf langgezogene Streicher von der Platine, bedächtige Trommelschläge und einer weichgezeichneten Arpeggiolinie, die im Endergebnis das Stück extrem über den Wolken schweben lässt. Mastermind Ronan Harris, gebürtiger Ire und langjähriger Wahlhamburger, liebt cineastische Melodien - und die cineastischen Melodien lieben ihn. Nichtsdestrotz bleibt VNV Nation nach wie vor ein Projekt, das Tanzflächen zu füllen versucht. Das geschieht mal federleicht bei "God Of All", mal minimalistisch-technoid wie bei "Immersed" und unnachahmlich hymnisch im Refrain von "When Is The Future?", das bereits jetzt schon als Meilenstein und in einem Atemzug mit solchen unvegesslichen Stücken wie "Beloved", "Illusion" oder "Honour" genannt werden kann. Um die Frage des Songs zu beantworten: Die Zukunft ist jetzt - denn VNV Nation hat damit begonnen, sie für sich neu zu definieren. Selbst wenn Anhänger der ersten Stunde "Noire", entgegen des Titels, als zu poppig abtun werden, so müssen doch auch sie eingestehen, dass in puncto musikalischer Ausarbeitung, kompositorischen Ideenreichtums und poetischen Tiefgangs kaum einer Ronan das Wasser reichen kann.

Ähnlich konzentriert sich bei The Beauty Of Gemina alles auf Frontmann Michael Sele. Bereits Mitte der 90er trat der wasserstoffblonde Mann mit den weichen Gesichtszügen als Gitarrist mit der Goth-Rock-Truppe Nuuk in Erscheinung, blieb aber weitestgehend  - und zu Unrecht - von der Szenepresse unerwähnt. Das Ende der Band 2004 bedeutete für Michael, seine eigene musikalische Vision klarer herauszuarbeiten. War das Debüt "Diary Of A Lost" von 2006 (mit dem erfolgreichen Club-Stürmer "Suicide Landscapes") noch stark am ätherischen Düster-Sound von Nuuk angelehnt, lösten sich die nachfolgenden Werke immer stärker vom Image des sinnierenden Melancholikers - zumindest musikalisch. Bereits mit "The Myrrh Sessions" (2013) vollzieht Sele einen klanglichen Seelenstriptease, in dem er alte TBOG-Nummern bis auf ihr akustisches Mieder auszog und ihnen eine neue Deutungsmöglichkeit verlieh. Auf "Flying WIth The Owl" nun, das siebte Album, kristallisiert sich einmal mehr der intime Aspekt von Seles Kompositionen heraus. Den Gitarren wird größtenteils der Stecker gezogen, elektronische Effekte bleiben aus. The Beauty Of Gemina ist immer noch eine Goth-Rock-Band, was im hypnotischen "I Pray For You" klar auszumachen ist. Aber das Album überrascht mit einer musikalischen Bandbreite. So kommt "Tunnel Of Pain" - entgegen des schwermütigen Titels - derart beschwingt rüber wie einst Dire Straits mit ihrem "Calling Elvis". Und auch "Ghost" öffnet sich einem, in erster Linie als cool zu bezeichnenden, anglo-amerikanischen Akustik-Rock-Stil. Dass diese tönerne Vielfalt funktioniert, liegt am Mastermind selbst, dessen sehnsüchtiges Organ das Album zusammenhält und ihm eine klare Richtung vorgibt: in die Tiefen unserer dunkelsten Gedanken.

Sehnsucht prägt auch "Paramount", das erste Album von The Wide aus Mönchengladbach. Deren Bandmitglieder haben sich bereits als 12 Drummers Drumming und The Dead Guitars im Indie-Rock einen Namen erspielt. Doch erst als The Wide scheint ein Knoten geplatzt zu sein. Vielleicht hat es auch diesen langen Vorlauf gebraucht, um am Ende ein Werk zu schaffen, bei dem jeder einzelne bei sich ist und alle für die Sache zusammenstehen. Dank eines fantastisch aufspielenden Ralf Aussem, der schon bei früheren Engagements sein großes Gitarrentalent unter Beweis gestellt hat, löst das Album jenes Versprechen ein, das bereits das Plattencover auslobt: The Wide sind frei, und der Horizont ist nicht die Grenze. Ganz nach der Devise "Erlaubt sei, was Spaß macht", unternehmen die Musiker Ausflüge in alle Richtungen, ziehen beim Finale in "Stars" eine mächtige Gitarrenwand hoch, zitieren wie selbstverständlich in "So In Love" und "You" die späten Beatles oder David Bowie (dieser Vergleich wird vor allem durch Pete Broughs Stimmfarbe und Gesangsduktus evoziert), zeigen sich aber in "Girl" und "Eyes Are Close" extrem tiefenentspannt und souverän im Umgang mit schwelgerischem Wave-Rock mit ätherischem Einschlag, der nicht weniger will, als die Melodien in jeder Note voll auszukosten. Ähnlich wie das Spätwerk von The Mission, bewegen sich die Musiker von The Wide auf einem höheren Bewusstseinslevel. Sie müssen niemandem mehr gefallen, sie müssen niemandem mehr etwas beweisen. Aus dieser Freiheit entsteht schaffenskräftige Größe, die "Paramount" zu einem durch und durch lässigen Hörvergnügen avancieren lässt.

Ein fortgeschrittenes Alter muss aber nicht zwingend einhergehen mit weltanschaulicher Milde. Lydia Lunch ist das beste Beispiel dafür. Die Königin der New Yorker No-Wave-Szene der späten 1970er bleibt auch mit fast 60 Jahren immer noch angriffslustig und inszeniert sich als streitbare Künstlerin, die immer wieder nach neuen Ausdrucksformen sucht. Zuletzt zeigte sie sich zusammen mit Cypress Grove und dem Album "Under The Covers" als wunderbar scham- wie respektlose Neuinterpretin mehr oder weniger bekannter Gassenhauer (hier nachzulesen). Doch scheint dieses Album noch wie ein gut gemeinter Kompromiss, wenn man sich im Vergleich dazu "Marchesa" anhört. Lunch spielt abermals ihre Karte als unnachahmliche Spoken-Word-Künstlerin aus, wobei ihr kaputtes Organ in Verbindung mit teils dissonanten Klangcollagen wie aus dem Vorhof zur Hölle klingt. Mit diesem eindringlichen Werk huldigt sie einer ihrer größten Inspirationsquellen: Marquis De Sade, ein revolutionärer Freigeist zu Zeiten der absoluten Monarchie in Frankreich. Seine Schriften waren nicht nur pornografischer Natur, sondern auch extrem kirchenfeindlich. Die Ideen de Sades hat sich Lunch zu eigen gemacht, sie aber in eine neue Sprache gepackt und in die Jetztzeit verfrachtet (man höre sich nur das Gift und Galle speiende "Poor Pathetic Creatures" an). Lynch antwortet damit ihrem Land, das im Trump-Taumel laut und unappetitlich geworden ist. Sie tut dies aber nicht noch lauter, sondern agiert introvertiert und schwört wie eine reichlich angepisste Cassandra die Gesellschaft auf ihr Ende ein, das es selbst zu verantworten hat. Wie ein düsteres Sittengemälde verstört "Marchesa" zutiefst und wirkt wie der wirklich letzte Warnschuss vorm Bug durch einen Schalldämpfer.

Ganz selten geschieht es auch mal, dass eine Band, die ihre besten Jahre eigentlich schon weit hinter sich gelassen hat, wie aus dem Nichts wieder auftaucht. Bei Musta Paraati verkomplizieren zwei Tatsachen die ganze Sache jedoch. Erstens: Die Band war in den frühen 80er Jahren mit ihrem finnischsprachigen Wave eher eine regionale Größe. Zweitens: Das erste Studioalbum nach 36 (!) Jahren ist in leicht verändertem Line-Up entstanden. Der vielleicht größte Einschnitt markiert die Besetzung des Sängers. Dort hat man sich für Jyrki 69 von The 69 Eyes entschienden. Unter diesen Vorzeichen wird es zwar schwer sein, den alten Fan bei der Stange zu halten, aber das haben Musta Paraati wohl auch nicht vor. Eher wirkt das Album wie ein zweites Debüt. Die ersten Hinweise liefert bereits der Albumtitel. "Black Parade" ist die Übersetzung des Bandnamens und zudem der erste Longplayer mit englischem Titel. Folgerichtig wurde das Album auch in englisch eingesungen. Alles komplett auf Neuanfang also. Abgesehen davon, dass diese 2.0.-Version von Musta Paraati nichts mehr gemein hat mit der früheren Band, besticht "Black Parade" mit sortenreinem Gothic-Rock, der in seiner geradlinigen Klarheit überrascht. Irgendwo zwischen Fields Of The Nephilim und The Sisters Of Mercy tummelt sich "Black Parade" herum und wirkt dadurch zwar etwas anachronistisch, aber gleichzeitig auch angenehm unaufgeregt. Und mit Stücken wie "Nacht der Untoten" oder "The Race Is On" könnte es sogar zu massiveren Einsätzen in den schwarzen Clubs kommen, was Musta Paraati nach mehr als drei Dekaden über die finnischen Landesgrenzen bekannt machen würde. Alter schützt schließlich vor Bekanntheit nicht.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 22.10.2018 | KONTAKT | WEITER: CHRIS IMLER VS. CHRIS LIEBING>

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www.thebeautyofgemina.com
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www.lydia-lunch.net
mustaparaati.bandcamp.com

Covers ©Anachron Sounds/Soulfood (VNV Nation), TBOG Music/Al!ve (The Beauty Of Gemina), Echozone/Soulfood (The Wide), Rustblade/Broken Silence (Lydia Lunch), Cleopatra Records (Musta Paraati)

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