17/21: AUDIOBOOKS, CREUX LIES, KRISTIAN NORD, THE HALO TREES, 10 000 RUSSOS - GEMISCHTE PLATTE
Am Ende steht man dann doch etwas ratlos da. Was war das gerade, was Audiobooks da auf "Astro Tough" veranstaltet haben? Man muss erst einmal die Gedanken und die Stücke ordnen. Schließlich kommt man zum Ergebnis: Künstlerin Evangeline Ling und Musikproduzent David Wrench haben eine veritable Freak-Pop-Sause aufs Parkett gelegt. Gerne läuft die Elektronik wie bei dem überdreht hedonistischen "LaLaLa It's The Good Life" und dem technoiden "Black Lipstick" extrem heiß, während "First Move" mit einer wunderbaren Cheesyness den Synth-Pop im Stil von La Roux feiert und "He Called Me Bambi" auch latent Trip-Hop-Einflüsse aufblitzen lässt. Das Hauptaugenmerk ist dabei auf die wunderbar abstrusen Texte zu legen, die wie in dem schummrigen "Blue Tits" schon fast bis zur Schmerzgrenze explizit sind. Audiobooks sind wie ein Wanderzirkus: ungebunden, frei, wild, humorvoll, traurig - und das alles zur gleichen Zeit. Erstaunlicherweise franst "Astro Tough" aber nie aus oder verliert den roten Faden. Das ist zum größten Teil Ling zu verdanken, die sich in die Songs förmlich reinschmeißt. Manchmal rezitiert sie im Stil einer Anne Clark ("Trouble In Business Class"), manchmal lässt sie ihr Organ wie wild Überschläge üben ("Driven By Beef"), manchmal zeigt sie sich geradezu unschuldig ("Farmer"). Jeder Song scheint aber nur unter der Prämisse zu entstehen, den Hörer nicht zu langweilen. Denn es gibt, selbst wenn man dem Album mit dem größtmöglcihen Maßan Skepsis begegnet, nicht einen Ausreißer nach unten. "Astro Tough" ist ihrem Titel mehr als gerecht geworden.
Ganz und gar nicht dem Titel ihres zweiten Albums werden Creux Lies gerecht. Und das ist auch gut so. Denn obgleich sie in "Goodby Divine" dem (oder der) Göttlichen den Laufpass geben, ist das, was die Jungs aus Sacramento, Kalifornien, abliefern, ziemlich nah an überirdischer Perfektion. Sie selbst geben sich ganz bescheiden und beschreiben ihre Musik als "Californian gazed-out romantic post-punk party-goth". Hinter dieser schelmischen Kategorisierung ihres Sounds steckt aber eine ganze Menge Arbeit, die während der Pandemie zusätzliche Hürden bereithielt. Denn "Goodbye Divine" hätte bereits früher erscheinen sollen. Doch wie sagt der Voksmund: "Was lange währt wird endlich gut". Und wie gut es geworden ist! Das aktuelle Werk schafft das Kunststück, mit seinen Nummern zwischen fluffigem Indie-Pop und schwermütigen Goth mühelos hin- und herzuwandern. Herasuragend ist vor allem die Sangesdarbietungen von Ean Elliot Clevenger, der mit seinem wuchtigen Bariton zwsichen dem jungen Dave Gahan und Roland Orzabal von Tears For Fears einzuordnen ist. Er veredelt die Stücke und macht sie zu dunkel funkelnden, schwarzromantischen Juwelen, die in einen ganz eigenen Kosmos zu weilen scheinen. Mit "Goodbye Divine" gelingt den Jungs ein außergewöhnliches Album, dass den Geist diverser schummriger 80er-Produktionen einfängt und sie mit ihren eigenen Vorstellungen von gut gemachter Musik überkreuzen. Am Ende stehen Stücke wie "Misunderstanding", "PS Goodnight" und "I Wish I Was You", die vor Eingängigkeit nur so strotzen und der Herbstdepression eine beschwingt-leichte Note verleihen.
Zeitlich passender hätte die Besprechung zu Kristian Nords "The Rest Is A Gift" nicht sein können, beginnt das Album doch mit dem getragenen "Durch Nacht und Wind". Als dieses Lied das erste Mal aus den Lautsprecherboxen der Redaktion erklingt, ist gerade der erste Herbststurm im vollem Gange. Besser hätte Mutter Natur diesen Song nicht kommentieren können. Allerdings sind Nords Neoklassik-Kleinode mit elektronischem Beiwerk einem traurigen Ereignis geschuldet. Hier verarbeitet er nämlich den frühen Tod seines Vaters. "The Rest Is A Gift" ist aber, und das verrät auch schon der Albumtitel, kein lamentierendes Requiem. Kristian Nord, leidenschaftlicher Surfer und seit 15 Jahren in L.A. lebend (wo er einer der erfolgreichsten Komponisten und Teil der Indie-Band The Great Escape sowie Jurymitglied des Grammy-Musikpreises ist, das nur nebenbei erwähnt), wendet sich zum Leben hin: Sein Vater ist vor 30 Jahren mit 42 verstorben, Kristian ist nun in dem selben Alter und empfindet all die kommenden Jahre getreu dem Albumtitel als ein großes Geschenk, das er dankend und demütig annimmt. So wandelt die Platte leichtfüßig zwischen den Emotionen, schafft in "The Adventurer" beschwingt-aufregende Momente, versinkt bei "Empty" in eine meditative innere Einkehr und schöpft Hoffnung im finalen "Nobody Ever Really Dies". Kristian Nord hat ein verträumtes, melancholisches, aber auch versöhnliches Werk geschaffen, dass das Leben feiert. Nicht mit viel Pomp and Circumstances, sondern mit der stillen Freude darüber, auf dieser wundervollen Erde weilen zu dürfen.
Das Prinzip einengender Scheuklappen war für Sascha Blach nie ein Thema. Der Mann liebt Musik in all seinen Facetten, und das hört man seinen verschiedenen Projekten an. Ob theatralischer Gothic bei Eden Weint Im Grab oder Trip-Hop-Spielereien bei Lighthouse In Darkness: Der in Berlin lebende 41-jährige hat sich in vielen verschiedenen musikalischen Bereichen ausgetobt. Doch mit The Halo Trees scheint er die perfekte Melange gefunden zu haben: Sonorer, brüchiger Gesang trifft auf ausgefeilte Dunkel-Rock-Konstruktionen mit der Liebe zu stilistischen Ausbrüchen. Das hat bereits auf dem Debut "Antennas To The Sky" gut funktioniert und wird nun auf "Summergloom" veredelt. The Halo Trees betreten dabei den erdachten Klangkosmos ihres Erstlings erneut, erweitern ihn aber um einige neue Aspekte. So zitieren sie flüchtig in Stücken wie in "Dark Clouds Over London" und "Algorithm" Shoegaze-Manierismen und zeigen sich in "Marihuana Kid" extrem indierockig. Fast scheint es so, dass Blach und seine Mitstreiter bei "Antennas To The Sky" erst einmal Anlauf genommen haben, um nun mit "Summergloom" den großen Sprung zu wagen. Nicht nur, dass The Halo Trees sich jetzt noch sicherer sind, wohin die musikalische Reise führen soll, sie beginnen damit, den Songs auch mehr Raum zu geben. Die Nummern leben von teilweise ausgedehnten Instrumental-Parts. Eine Wohltat im heutigen Musikzirkus, in der viele Stücke auf ihre Quintessenz eingedampft werden. "Summergloom" verfestigt den Nimbus von The Halo Trees als gehalt- wie stilvolle Weltschmerz-Gruppe.
Mit einer ordentlichen Portion Hypnotik ist "Superinertia", das fünfte Album der portugiesischen 10 000 Russos, ausstaffiert. Dass die Jungs aus Portugal stammen, mag man gar nicht so richtig glauben. Eher fühlt man sich an eine deutsche Band erinnert. Das liegt sicherlich am motorischen Beat, den der Schlagzeuger und Sänger João Pimenta hier zum Besten gibt und sich damit in die stilistische Nähe von Jaki Liebezeit hin bewegt. Über die Rhythmik entfalten 10 000 Russos einen Sog an Songs, die einen immer tiefer versinken lassen. Redundante Basslinien werden mit scheinbar frei improvisierten Gitarrenfiguren gekreuzt, im Vergleich zum Vorgänger "Kompromat" von 2019 konzentrieren sich 10 000 Russos jetzt noch mehr auf das Zusammenspiel zwischen Bass und Schlagzeug. Der Gesang, oft wie aus einer Flüstertüte stammend, schent eher schmückendes Beiwewrk zu sein, das sich dezent zurückhält, um den in die menschliche Psyche eindringenden Sound nicht im Wege zu stehen. Alles auf diesem Album klingt wie ein großer Rausch, der nur einmal unterbrochen wird: "A House Full Of Garbage" ist vielleicht das größte Zugeständnis des Trios an transparentere Pop-Konstruktionen, ehe "Mexicali/Calexico" als 14-minütiges Finale reichlich selbstebewusst die geballte Psychedelic-Rock-Pose zelebriert. "Superinertia" beweist einmal mehr, dass die Jungs von der iberischen Halbinsel zu den wichtigsten Vertretern des Psychedelic-Rock-Sektors gehören und mit ihren dystopisch-bizarren Klängen eine ziemlich eigene Vision von bewusstseinserweiternder Musik besitzen.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 26.10.21 | KONTAKT | WEITER: VARIOUS ARTISTS "MUSIK, MUSIC, MUSIQUE 2.0" VS. VARIOUS ARTISTS "THE SUN SHINES HERE">
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www.thehalotrees.com
10000russos.bandcamp.com
Covers © PIAS/Heavenly Recordings (Audiobooks), Freakwave/Membran (Creux Lies), Project C/Clouds Hill (Kristian Nord), Winter Solitude Productions/Al!ve (The Halo Trees), Fuzz Club Records (10 000 Russos)
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