JEAN DELOUVROY "WAR DRONE" VS. TOTENGELÄUT "ALEPPO": DEM UNAUSSPRECHLICHEN EINEN KLANG GEBEN - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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JEAN DELOUVROY "WAR DRONE" VS. TOTENGELÄUT "ALEPPO": DEM UNAUSSPRECHLICHEN EINEN KLANG GEBEN

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Spätestens mit dem Ende des zweite Weltkrieges wird die Frage nach sprachlicher Darstellung eines solchen Unglücks immer in Zweifel gestellt. Kann das Wort an sich die unbarmherzige Grausamkeit eines derartigen Ereignisses überhaupt gerecht werden und das traumatische Moment künstlerisch aufarbeiten? In der Musik scheint diese Frage nicht so vehement präsent zu sein, da Töne viel mehr interpretatorischen Spielraum besitzen als Worte.

Der belgische Komponist Jean Delouvroy verlässt sich daher nur auf die Kraft unterschwelliger Klänge, die sich wie zäher Nebel in seinem aktuellen Werk "War Drone" breit machen. Das Album dient als Soundtrack für den britischen Film "The Northern Paradigm", der indirekt den zweiten Golfkrieg zum Thema hat, direkt aber ein in London angesiedelter Polit-Thriller ist, bei dem es um die Aufdeckung von Waffengeschäften im großen Stil geht.

Hauptakteur ist ein Irakkrieg-Veteran, der auf der Suche nach den Mördern seines Bruders ist. Dieser ist aufgrund einiger delikater Informationen umgebracht worden. Während seiner Recherchearbeiten erinnert er sich an seine Einsätze, die Delouvroy nicht mit schmetterndem Arrangement ausschmückt, sondern bedrohlich leise aufbaut. Der Krieg ist auf den Feldern bereits ausgefochten, aber im Kopf des ehemaligen Soldaten bauen sich die Geräusche, die er damals wahrnahm, immer wieder auf.

Der Multiinstrumentalist vermeidet es, plakativ und effekthascherisch zu komponieren. Wie es der Titel schon erahnen lässt, arbeitet Jean Delouvroy mit zurückhaltenden Drones, langgezogenen Flächen und einer unheimlichen Stimmung, die den Krieg als solches nicht zum Thema hat, wohl aber die Spätfolgen dieses Ereignisses in Noten zu verpacken versucht - mit Erfolg.

"War Drone" wirkt wie ein unscharfer Blick auf die Gefechtsszenerien, teilweise in Zeitlupe, teilweise ohne den ohrenbetäubenden Lärm von Raketen und Schusswaffen. Man fühlt direkt, welch irreparable mentale und emotionale Schäden die Teilnahme an einem Krieg zur Folge hat.

Der Mensch ist ein Meister im Verdrängen - bis zu einem gewissen Punkt. Das zeigt uns dieses Album auf eine anspruchsvoll-künstlerische, aber gleichzeitig klare Art und Weise auf. Es heißt, dass die Zeit alle Wunden heilt, doch bei "War Drone" bleiben diese Wunden immer noch unter der Kruste aktiv und drohen, wieder aufzureißen.

Seine avantgardistischen Miniaturen machen begreiflich, dass ein zurückgekehrter Soldat auch immer ein gebrochener Mensch ist, über dessen Seele dunkle Schatten wandern. Diese werden bei Delouvroy zu amorphen musikalische Gebilden, die mit teilweise spitzen Tönen hantieren und das Gefühl vermitteln, dass der Protagonist auch ein menschliches Pulverfass ist, dessen psychische Labilität schlimmste Konsequenzen haben könnten.



Absoute emotionale Kälte scheint sich dagegen bei "Aleppo" von Totengeläut breit zu machen. Das Projekt um Musiker Björn Peng und Sängerin Nogood Luna blickt mit Resignation und versteinerter Mine auf die Stadt, die sinnbildlich für das sinnlose Treiben der verschiedenen Lager im syrischen Bürgerkrieg steht.

Ihre Inspirationsquellen sind aber nicht die Berichterstattungen in den Medien (die stets auch nur einen Teil der Wahrheit abbilden), sondern das persönliche Erleben dieser unsagbaren Trauer. Nogood Luna arbeitete unter anderem im türkischen Grenzgebiet und hat sich mit den Frauen und Kindern von Aleppo über ihre Situation unterhalten. Die zusammengetragenen Geschichten bilden das Fundament für ihre Texte.

Nogood Luna erzählt aus der Perspektive einiger weniger und macht auf diese Weise den Krieg als große humanitäre Katastrophe in seiner Ganzheit deutlich. So sind es in "Haram" die Mütter und Frauen, die ihren Kindern, Schwestern und Brüdern Mut zureden. Und "Hole" beschreibt die Leere eines Flüchtlings, der alles verloren hat und nur noch durch den Schmerz und einem erschütterten Glauben an die Menschlichkeit fortlebt ("Nothing But My Pain Will Guide Me, As My Spirits Walks Beside Me").

In sieben Songs beschreibt "Aleppo" jene unsägliche Trauer der Zivilisten, die ohne ihr Verschulden in eine Misere existenzialistischen Ausmaßes geraten sind. Es scheint fast so, als sei all dieses sinnlose Sterben um sie herum kaum mehr selbst zu ertragen. So wird im letzten Song "Siblings" auch die zentrale Strophe in Deutsch gesungen. "Der Tod, er ist mein Bruder. Er bleibt mir immer treu. Das Leben meine Schwester, doch ich folge ihr nur scheu." Pointierter kann man das, was diese Menschen erleben, poetisch wohl nicht darstellen.

Björn Peng, sonst eher ein Freund wuseliger EBM-Songs mit Rave-Kante, schafft hier mit einem Cold-Wave moderner Prägung wie es beispieslweise auch Lebanon Hanover praktizieren, eine beängstigende, weil fast hoffnugslose Stimmungsgrundlage. Lediglich "Deprived" zeigt durch harte Beats und dem stakkatohaften Vortragen der Wörter die Perfidität des Lebens vieler Menschen auf, die vor allem durch die Wirren seelisch misbraucht worden sind. Meistens aber dominiert ein zurückgehaltener Sound, der das fast schon schmerzlich klingende Timbre Lunas in den Vordergrund schiebt.

In ihr mischt sich die Trauer über das Ges(ch)ehene, aber auch die Wut, wenig bis gar nichts dagegen tun zu können. Totengeläut bleibt nur die Rolle als mitfühlende Beobachter, die uns glücklichen, die wir in einem relativ friedlichen Teil der Welt leben, die Augen öffnen möchten. Und es gelingt ihnen, weil Luna wertfrei singt und niemanden an den Pranger stellt, sondern nur den Blick für all diejenigen hat, deren humanitäre Not am größten ist. Es liegt an uns, daraus zu lernen und Konsequenzen zu ziehen.

Natürlich können Totengeläut, kann auch Jean Delouvroy nicht, mit Kunst den Krieg beenden. Aber beide haben sie ihre Wege gefunden, dem Unaussprechlichen einen intensiven Klang zu geben - der eine abstrakter, die anderen konkreter. In beiden Fällen ist man erschüttert und berührt - und glücklich darüber, dass hierzulande bereits seit über 70 Jahren kein Krieg mehr stattgefunden hat. Eine verdammt lange Zeit.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 03.12.2018 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 11/18>

Webseite:
www.jeandelouvroy.com
jeandelouvroy.bandcamp.com/album/war-drone-soundtrack
totengelaeut.bandcamp.com

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Cover © Jean Delouvroy, Anette Records/Reach Another System (Totengeläut)

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