ALICE COHEN "ARCHAEOLOGY" VS. GREG JAMIE "ACROSS A VIOLET PASTURE": HALBSCHLAFSCHÖNHEITEN
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Getreu dem Albumtitel betreiben wir auch ein bisschen popkulturelle Archäologie und stöbern in der Vita von Alice Cohen, die auch unter ihrem alias Alice Desoto unterwegs ist, herum. Und wir lesen ihren Namen bei einer Gruppe namens The Vels, die 1984 mit ihrem Song "Look My Way" zwar keinen riesen Hit gelandet hat, aber immerhin ein fester Bestandteil des damals aufsteigenden Musikvideosenders MTV war. Ihr Sangestalent hat sie bereits in dieser kurzlebigen Band - nach zwei Alben trennte sich The Vels bereits wieder - aber schon eindrucksvoll unter Beweis gestellt.Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Frau auf ihrem neuesten Album "Archaeology" immer wieder 80er-Sounds in ihre Stücke verwebt. Wenn man beispielsweise die fuzzigen Gitarren und die sanften Synthiestreicher im Hintergrund von "Ice Queen" hört, fühlt man sich sofort zurückversetzt in jenes Jahrzehnt, als Popmusik sich die größten Freiheiten erlauben konnte, weil alle äußeren Umstände gepasst haben.
Den ausgefeilten Arrangements merkt man aber an, dass die Musikerin, die übrigens die Tochter des in Philadelphia renommierten Jazzpianisten Robert Cohen selig ist, sich nie auf die Ebene der zwang- aber auch belanglosen Unterhaltung herabließ - das tat sie bereits bei The Vels und ihren nachfolgenden Projekten übrigens nie. Wie einst Kate Bush sucht Cohen in den scheinbar anschmiegsamen Songstrukturen eine neue Ausdrucksform.
So geraten Stücke wie "Cappuccino On Astroturf" und "Highways Of LA" zu ohrenschmeichelnden Popnummern, in denen sich teilweise nostalgisches 70s Flair breit macht, ohne aber in eine falsche Sentimentalität abzudriften. Dem gegenüber stehen "McGolrick Sunrise" und "McGolrick Sunset (Reprise)" als klanglicher Klammer des Albums. Bezugnehmend auf den gleichnamigen Park in Brooklyn vernehmen wir fernöstliche, meditative Klänge. Und auch "Hyacinth's Dream" arbeitet mit einer redundanten Bass-Linie und losen Klaviermelodien, über die Alice improvisierte Lautmalerei betreibt.
"Archaeology" beschreibt Alice als ihr persönlichstes und intimstes Album. Vor allem ist es aber eine Weiterführung ihrer beachtlichen Kunst, in der die Mittsechzigerin ihr gesamtes Wissen aus mehr als 40 Jahren in die Waagschale wirft.
So lange weilt Greg Jamie zwar noch nicht in diesem Zirkus, aber auch er hat sich bereits einen Namen machen können als Teil der Gothic-Country-Formation O'Death. Wie auch Alice Cohen, dürfte Jamie nur hartgesottenen Musikfans ein Begriff sein, da der Mann mit dem markanten Vollbart in seiner Heimat Maine sicherlich eine bekannte Nummer ist, weltweit aber nur wenig Notiz von ihm genommen wurde.Das könnte, nein, das muss sich nun mit seinem zweiten Soloalbum "Across A Violet Pasture" ändern. Denn dem Mann ist ein spannendes Werk gelungen, das einerseits an Folkgrößen wie Neil Young erinnert (was sicherlich auch an Jamies höherer Stimmlage liegt), aber in seiner ganzen klanglichen Ästhetik gar keiner Dekade zuzuschustern wäre.
Was bei den Songs des Musikers auffällig ist, sind die grobkörnigen Sounds, wie sie beispielsweise in "Wanna Live" und "I'd Get Away" zu hören sind. Die Gitarren ersterben in geisterhafte Tremolos, die Rhythmussektion wirkt wie auf Valium, dazu ertönt der Sänger teilweise wie bei einer alten Tonaufnahme. Das alles macht die Lieder auf "Across A Violet Pasture" amorph, hypnotisch und surreal. Und bei "When I Die" wird zudem sein Faible für die Thematisierung des Ablebens deutlich - aber nicht in romantisierter Gruftie-Pose, sondern fast schon nüchtern und unprätentiös. "When I Die...That's when I Die"-
Ohnehin beschäftigt sich "Across A Violet Pasture" oft mit Aufbrüchen. In vielen Stücken singt das lyrische Ich von verschiedenen Wegen, die beschritten werden. Sei es aus einem Freiheitsdrang heraus oder weil man nach Alternativen oder in letzter Instanz nach dem Sinn des Lebens sucht. Jedoch wirken diese Stücke nicht wie klare Lebensratgeber, sondern stets wie erträumte Pfade, die sich vor dem geistigen Auge auftun.
Das liegt natürlich an dieser schwer greifbaren Atmosphäre der Songs, die wie die Vertonung eines halbwachen Geistes klingen. Bei Stücken wie "Distant Shore" wirken die gedankenverlorenen Klänge sonderbar fern und doch gleichzeitig nah. So dringt auch "I Wanted More" (aus dem auch der Albumtitel stammt) aufregend unaufgeregt und wie eine Folk-Ballade von anno Tobak, jedoch mit einigen Effekten, die es damals so noch nicht gegeben hat.
Das gesamte Album ist wie der Übertritt vom Wachsein in den Schlaf. Klänge werden diffus, Lichter tanzen vor dem geistigen Auge und bilden neue, über der Realität schwebende Bilder. Damit hat sich Greg Jamie einen Stil definiert, der seinem künstlerischen Naturell in vollem Umfang gerecht geworden ist und der Hörerschaft eines der vielleicht bezauberndsten Alben dieses Jahres geschenkt hat.
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Cover © Crinoline Records (Alice Cohen), Orindal Records (Greg Jamie)
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© || UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014. ||