DEPRI-SCHLAGER: RISSE IN DER HEILEN WELT - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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DEPRI-SCHLAGER: RISSE IN DER HEILEN WELT

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Seit der atemlosen Helene Fischer hat der deutsche Schlager viele neue und vor allem junge Klienten gewonnen. Doch diese Musikrichtung als per se tumb und bis zum Erbrechen fröhlich zu umschreiben, stimmt nur zur Hälfte. Zumindest in den früheren Jahrzehnten gab es nicht wenige Stücke, wo die schonungslose Realität in die Heile Welt einbrach, beziehungsweise die Katastrophe ständig am kreisen war. Einige davon sollten ruhig noch mal bewusst gehört werden, sie sind thematisch nicht weit von üblichen Gothic-Topoi entfernt.

Bei Alkohol Hände weg vom Steuer! Was passieren kann, hat der Chansonnier Gunnar Welz in "Manuela" in recht drastischen Bildern beschrieben. Zunächst jedoch deutet nichts auf eine Katastrophe hin. Das lyrische Ich trifft auf einer Party jene besungene Manuela und beide verbringen eine schöne Zeit zusammen. Um halb vier verlassen sie die Feier als letzte, er gibt ihr die Wagenschlüssel. Auf der rasanten Fahrt passiert es dann: "Sie hat es nicht gesehen, ein Wagen schoss heran, die Welt begann sich zu drehen". Die nächste Strophe ist wie ein Schnitt nach dem Crash, als der Protagonist bemerkt: "Ich lag im nassen Sand und hielt noch ihre Hand, und ihre Augen sagten 'lebewohl'". Ein knallhartes Ende ohne eine Spur von Happy End, begleitet von einem leicht melancholischen Song mit verhallten Chören im Hintergrund, was geradezu prototypisch für den deutschen Schlager der 1970er war. Zudem nimmt die Komposition die dräuende Gefahr bereits vorweg, wenn vor Beginn der Autofahrt schwere Orgeltöne erahnen lassen, dass dieses erste Kennenlernen das letzte sein und das zarte Band der Liebe bereits wieder jäh durchschnitten wird. Gunnar Welz hatte mit diesem Song einen kleinen Achtungserfolg und blieb in der ersten Hälfte der 70er Jahre eher eine Randnotiz. Seine "Manuela", die später von den Flippers und Peter Orloff nochmal neu eingesungen wurde, spiegelt auch die damalige präsente Gefahr im Straßenverkehr wieder, denn bis 1976 war die Gurtpflicht noch nicht eingeführt.

Bevor Franz Reuther, wie Frank Farian bürgerlich heißt, als Musikproduzent mit Boney M richtig durchstartete und zum Aushängeschild für perfekt produzierten Disco-Sound made in Germany wurde, verdingte sich der Pfälzer als Schlagersänger der ernsteren Sorte. Seine Songs erzählten kleine dramatische Geschichten, eine davon war die von "Rocky", die deutsche und textgetreue Coverversion des Songs von Austin Roberts. Natürlich hat er nichts mit dem Spiefilm-Boxer zu tun. Rocky ist eine vierminütige Coming-Of-Age-Story, bei dem besagter Protagonist ein Mädchen kennenlernt, seine erste Liebe, mit der er zusammenzieht. Auch hier meint es das Schicksal nicht gut mit den beiden. Sie wird, wohl eher ungewollt, schwanger. "Rocky ich habe noch nie ein Kind bekommen, ich will es dir gerne geben. Und damit ist die Zeit der Träume vorbei in unserem Leben", so die nachdenkliche namenlose Protagonistin. Rocky steht als unreschütterlicher Optimist an ihrer Seite, das sich wiederholende "Kopf hoch, Baby" strahlt Zuversicht aus. Doch in der letzten Strophe schlägt das Schicksal erbarmungslos zu. Die junge Mutter stirbt, wohl an einer Krankheit, und Rocky bleibt mit seiner Tochter zurück. "Nur manchmal muss ich weinen, viel zu ähnlich sieht sie ihr" erklärt er dem Hörer. Die Tochter ist der mehr oder weniger letzte Rettungsanker in seinem Leben, das völlig aus den Fugen geraten ist. Sein an sie gerichtetes "Kopf hoch" kommt umso schmerzhafter rüber, da der anheimelnde Country-Pop-Sound genau das Stimmungsgegenteil zum düsteren Text bildet. "Rocky" wurde Frank Farians einziger Nummer-Eins-Hit als Sänger.

Als die Neue Deutsche Welle in ihren letzten Zügen lag, war Purple Schulz ein Wandler zwischen den Welten. Für Schlagermusik zu nachdenklich und für Neue Deutsche Welle zu seicht, konnte er sich Mitte der 80er Jahre mit einigen Songs in den Charts positionieren, von dem "Sehnsucht" sicherlich zu den schönsten, aber auch traurigsten Stücken gehört. Manfred Schmidt, damals Manager der Band, wollte dieses Lied aus dem Album "Hautnah" unbedingt als Single herausbringen. Doch die Band sträubte sich. Purple Schulz hat bei diesem Song seinen Emotionen derart freien Lauf gelassen, dass er während der Aufnahme zu weinen anfing und die letzten Strophen kaum noch herausbringen konnte. Ein derartiger Gefühlsausbruch ließe sich bei einem Fernsehauftritt nicht wieder herstellen. Deswegen wurde das Stück noch mal neu eingespielt. Der Song ist natürlich auch in dieser Version immer noch berührend, da es, ohne konkret zu werden, innere Gefühlszustände von Angst und Orientierungslosigkeit textlich perfekt auf den Punkt bringt. Jedoch übersteigt die emotionale Intensität des Originals die Single-Version bei weitem. Man muss schon ein gefühlskalter Klotz sein, wenn man beim schluchzenden Schulz nicht zumindest einen Kloß in seinem Hals verspürt. "Sehnsucht" ist sicherlich einer der melancholischsten und authentischsten Schlager, der jemals zu Papier gebracht wurde und der auch fast 40 Jahre später nichts von seiner Gänsehautwirkung eingebüßt hat.

Es lohnt sich immer, auch den Schlager der ehemaligen DDR genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn abseits von linientreuer Sozialismusglorifzierung besitzen nicht wenige Songs mehr oder weniger versteckt kritische Texte, die musikalisch von der Melancholie russischer Folklore geprägt sind. Besonders hervorzuheben ist dabei "Als ich fortging" der Gruppe Karussell aus ihrem 87er Meisterwerk "Café Anonym". Der metaphorisch gehaltene Text beschreibt das Ende einer Beziehung, bei der beide Partner aber unsicher sind und die Trennung nicht akzeptieren wollen. Am Vorabend des Ende der Deutschen Demokratischen Republik wurde das von Dirk Michaelis komponierte Stück zum Sinnbild des Zerfalls eines Landes. "Nichts ist unendlich, so sieh das doch ein" ist die zentrale Sentenz, die für den Fall der Mauer und eines ganzen Regimes so passend war. Und ähnlich wie bei der ursprünglichen Intention trifft "Als ich fortging" exakt die Stimmung eines gesamten Landes, das einem unvermeidlichen Ende entgegenblickt, aber damit auch ein neues, ungewisses Kapitel aufschlägt. Im Laufe der Jahrzehnte wurde das Lied von vielen anderen Künstlern aus unterschiedlichsten Genres gecovert. Staubkind, Elif, Sarah Connor, Heinz Rudolf Kunze...sie alle haben sich an "Als ich fortging" versucht. Letzten Endes schafften sie es aber kaum, den tiefen Weltschmerz des Originals auch nur annähernd zu transportieren, wie es Karussell geschafft haben. Nicht umsonst wurde das Stück bei der ZDF-Sendung "Unsere Besten" auf den vierten Platz der größten DDR-Hits gewählt.

In einer Zeit, in der Umweltschutz noch gar nicht existierte, sang Alexandra die berührende Geschichte eines Baumes, den sie seit ihrer Kindheit besucht hat und der einem Hausbau zum Opfer fällt. Die dramatische Orchestrierung des Stückes und die tiefe, wehmütige Stimme Alexandras zeigen die große Liebe der Sängerin zu französischen Chansons eines Jacques Brel oder Yves Montand. Hier wird nicht nur der Verlust der Kindheit thematisiert, sondern der vermenschlichte Baum als Teil unserer Gesellschaft verstanden, den es zu achten gilt. Alexandra selbst hat in Interviews gesagt, dass sie ihren Sohn Alexander so erzieht, dass er Respekt vor der Schöpfung hat. Genauso geheimnisvoll und enigmatisch wie Alexandras Stimme war auch ihr Tod im gleichen Jahr, als "Mein Freund der Baum" erschien. Die Sängerin starb bei einem Autounfall mit gerade mal 27 Jahren. 2004 wurde, initiert von Regisseur Marc Boettcher, der eine Dokumentation über die Musikerin drehte, die Ermittlungen zu ihrem Tod noch mal neu aufgenommen. Das änderte schlussendlich aber nichts an der Tatsache, dass Deutschland damals eine der außergewöhnlichsten Stimmen ihrer Zeit verloren hatte. Nicht auszumalen, wie viel wunderbare Musik und anspruchsvolle Texte sie der damals jungen Republik noch hätte schenken und damit den Schlager hin zu einer chansonesken Virtuosität sicherlich entscheidend beeinflussen können. So bleibt nur die Erinnerung an eine besondere Frau, die mit ihren Liedern mehr "gothic" ist, als manche Band heutzutage.

||TEXT: DANIEL DRESSLER| DATUM: 31.01.23 | KONTAKT |WEITER: DIE SAUNA VS. BILLY ZACH>

Covers © Metronome (Gunnar Welz), Hansa (Frank Farian), EMI Electrola (Purple Schulz und die neue Heimat), Amiga (Karussell), Philipps (Alexandra)

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