7/20: ATTRITON+ALU, LES ANGES DE LA NUIT, HANSAN, MARE BERGER, STRIDULUM, BEAUTY IN CHAOS - VON OBSKUR BIS OPULENT - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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7/20: ATTRITON+ALU, LES ANGES DE LA NUIT, HANSAN, MARE BERGER, STRIDULUM, BEAUTY IN CHAOS - VON OBSKUR BIS OPULENT

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2020

Zugegeben: Es bereitet einem schon eine große Freude, wenn beim Leeren des Briefkastens kleine Päckchen mit superben Neuveröffentlichung uns entgegentrudeln. Doch noch größer ist die Freude, wenn man gar nicht mit solch einem Paket rechnet.

So hat uns vor einigen Wochen ein Brief des Labels Peripheral Minimal erreicht. Offen gestanden ist uns diese Plattenfirma gänzlich unbekannt gewesen, eine Vorankündigung gab es auch nicht. Das Album indes ist eine Zusammenkunft zweier Bands namens Alu und Attrition, deren Vitae mindestens genauso nebulös wie das Label selbst sind. Doch schon beim ersten Hören erweist sich die Scheibe als tiefer und authentischer Blick in die bundesdeutsche DIY-Szene. Wir schreiben das Jahr 1983, als diese beiden Projekte ihre Tapes auf dem Markt brachten. Ganz Deutschland ist im NDW-Fieber. Ganz Deutschland? Oh nein! Unter den ganzen Goldenen Reitern mit ihren 99 Luftballons auf dem Weg zu den Hohen Bergen, um dort ihre Sommersprossen zu kultivieren, gibt es einige subversive Gestalten, die mit aller Macht versuchen, diesem Flachsinn mit anspruchsvollen, genial dilletantischen Klangkonstrukten entgegen zu wirken. Das gelingt Attrition völlig problemlos, wobei sie bei "Day I Was Born" so etwas wie New Romantic zulassen, manifestiert durch ein schniekes Saxofon. Ansonsten regiert Genosse Zufall und die Unmittelbarkeit. So auch bei Alu, wobei ihr dekonstruierter Elektro-Pop an die wegweisenden Ata-Tak-Veröffentlichungen "Geri Reig" und "Normalette Surprise" der Dilletanten-Könige Der Plan erinnert und "Chi Chi" die Frühphase der Deutsch Amerikanischen Freundschaft eingedenkt. Beiden Gruppen ist erwartungsgemäß kein großer Erfolg beschieden gewesen, die Bundesrepublik hat sich zu diesem Zeitpunkt wieder auf gängige Schlagerparameter geeinigt.

In einer Zeit, als Future-Pop das große Ding für die tanzwütigen Schwarzkittel-Gemeinde und Bands wie Apoptygma Berzerk, Covenant und VNV Nation den Ton in den Diskotheken angaben, hat sich auch Les Anges De La Nuit aus Amerika auf dem Weg gemacht, mit ihrem Sound zu reüssieren. Besonders die ersten beiden Alben "Ruins Of Victory" (2005) und "Under God's Name" (2006) haben sich auch dank der Stimme von Milton Sanchez, der sich in der klanglichen Nähe zu Ronan Harris (VNV Nation) und Sigve Monsen (Pride And Fall) bewegte, ordentlich verkauft. Mittlerweile bestehen die "Engel der Nacht" aus Richard Abdeni und Anthony Stuart. Der Stellenwert von Future-Pop ist zweifellos gesunken, doch das hält LADLN nicht davon ab, weiter mit mysteriös-melodischen Songs mit druckvollen Beats zu hausieren. Ehrlicherweise muss man sagen, dass seit dem Weggang von Sanchez der Gesangspart deutlich an Charisma verloren hat. Musikalisch zeigt sich "The Witch" allerdings sehr aufgeräumt und auch nicht zu fein dafür, einen Clubkracher nach dem anderen rauszuhauen. Und bei "Voyage" kommt einen nicht von ungefährt der Globetrotter-Hit "Voyage Voyage" von Desireless in den Sinn. Musikalisch zwar völlig anders, finden sich vor allem im gleichsam französischen Text einige Parallelen. Sicherlich begibt sich das Zweiergespann mit ihrem Album auf bekannten Pfaden, will gar nichts anderes, als mit ihren verspielten Nummern zu unterhalten. Bei "The Witch" hat es auf jeden Fall noch seinen Reiz, allerdings müssen die beiden Musikern beim nächsten Album aufpassen, nicht zu stark in ein stilistisches Hamsterrad zu gelangen, bei dem es dann nicht mehr vorwärts geht.

Übrigens machen Stücke in anderen Sprachen als dem gängigen Englisch seh viel Sinn, weil sie die Exotik des Stücks befeuern. Und dass angloamerikanische Songstrukturen mit anderen Sprachen funktionieren, hat man bereits an vielen Beispielen gesehen. Die Schwedin Sofia Talvik hat sich zuletzt in unser Herz mit ihrem zauberhaften Weihnachtsalbum "When Winter Comes", das wir Ende letzten Jahres besprochen haben, gesungen. Zusammen mit dem deutschen Musiker David Floer begibt sie sich nun als Hansan zu ihren eigenen Wurzeln. "Nattflykt" strotzt nur so vor skandinavischer Melancholie und bringt Talviks leicht entrückte Zauberwäldchen-Stimme zum Leuchten. Hansan haben es bei Cello und Gesang belassen, dennoch klingt das Album vollmundig und tief. Das liegt auch an Floers Instrument, das um eine fünfte Saite erweitert wurde. Dadurch brummt es angenehm in den Tiefen, was einen wunderbaren Kontrapunkt zu Talviks elfenhaften Gesang bildet. Das liebenswerte Duo lässt sich natürlich von der schwedischen Natur, die von Weiten und Meer geprägt sind, zu ihren Texten inspirieren, zeigt sich aber nicht völlig weltfremd. "Hej då" beispielsweise behandelt die me-too-Bewegung, "Sjung Min Lilla Näktergal" hat das schwierige Thema der Einwanderung zum Inhalt. Und manchmal, wie bei "Livets Hårda Visa" fühlt man sich einfach nur wie in einer einsamen schwedischen Holzhütte, am Kamin sitzend, bei einem vollmundigen Glas Glögg und Haferkeksen, und erfreut sich am einschmeichelnden, umarmenden Klang von Sofia Talvik und David Froer, die als Hansan ein intensives wie kontemplatives Werk geschaffen haben, das uns die Schlechtigkeit der Welt vergessen macht.

Genau das Gegenteil bietet Mare Berger auf ihrem Album "The Moon Is Always Full": Sie besingt, ähnlich wie Hansan nur von Streichern begleitet (und hier und da taucht auch mal ein Piano auf), über den stetigen Wandel aus Verlust und Neuanfang. Schließlich bedeutet das Ende einer alten Beziehung auch den Anfang einer neuen. Dass der Moment des Verlassen oder Verlassenwerden schwer wiegt, aber auch die Zuversicht sich Bahn bricht, manifestiert sich auf wunderbare Art und Weise auf "The Moon Is Always Full". Der Musikerin gelingt eine emotionale Punktlandung, in dem sie beispielsweise in "Already Whole" mit neckischer Attitüde den Text vorträgt, um bei "Stardust" seltsam entrückt und ganz bei sich zu sein. Besonders im Titelsong taucht die Musikerin, die sich im stilistischen Spannungsfeld von Laura Marling, Kate Bush und Tori Amos bewegt, in eine schmerzvolle Emotion, die sich im Laufe in eine hoffnungsvolle Nummer entpuppt. "I pray, that the seed will grow" bildet das beschwörende Finale, und so wächst nicht nur die Saat, sondern auch das Lied durch überlagende Gesangsspuren. Ein schöner Effekt, dem "Praise The Fear" eine fast schon Baez'sche Einfachheit entgegensetzt. Bloß, um in "Wondering" einmal mehr mit atonal-experimentellen Geigenklängen zu hantieren, und im abschließenden "You Are Within" flirrend minimale Fiedeltöne in Anlehnung an Philip Glass zu produzieren. "The Moon Is Always Full" besticht auf ganzer Linie durch ein exzellentes Songwriting und spannede Arrangements. Kammer-Pop und Singer/Songwriter treffen zusammen in perfekter Harmonie.

Die dritte Frau im Bunde ist die Polin Marita Volodina. In Ausdruck und Stimmfarbe erinnert sie fatal an Anja Huwe von X-Mal Deutschland und Siouxsie Sioux. Da ist es fast schon unumgänglich, dass sie sich zusammen mit Musiker Arkadiy Berg als Stridulum in musikalisch ähnlichen Gefilden bewegt. Anstatt dem fatalistischen Post-Punk zu huldigen, arbeiten sich die beiden an einen elektronischen Cold-Wave aktueller Prägung heran. Ähnlich wie Hante., Boy Harsher oder Box & The Twins wabert es mächtig bei der ersten EP "Burial". "Retrofuturistic entity from the hopeless carbon fields of Southern Poland" definieren sie ihre Kunst und setzen damit die geografische Besonderheit ihres Heimatland als Bezugspunkt für ihre Musik auf die Agenda. Auch Polen hat seine Manchester-Orte, in denen es trostlos zugeht. Umrahmt von den zyklischen Istrumentals "A" und "Ω" füllen Stridulum die scheinbar graue Leere mit ihrer klanglichen Vision, die sich vor allem im letzten Song "Visceral" daramtisch niederschlägt. "There's no way out" singt Marita, während ein eher gemächlicher Elektronik-Beat den Hörer in die Tiefe der Sinnlosigkeit mitnimmt. Die erste Veröffentlichung dieses Duos ist ein kleines Glück, weil alle drei Songs "Burial", "Unreal" und "Visceral" klare Strukturen aufweisen und das Zweiergespann nicht den geringsten Zweifel daran hegt, in welche musikalische Richtung es gehen soll. An einem Album soll bereits auch schon fleißig gefeilt werden. Der erste Eindruck jedenfalls ist positiv. So harren wir also gespannt der Dinge, die da noch aus unserem Nachbarland im Osten kommen mögen.

Von Novizen zu alten Hasen: Beauty In Chaos, eine eigentlich unmögliche Zusammenkunft verschiedener Rock-Größen. Dem Gitarristen Michael Ciravolo ist es bereits vor zwei Jahren gelungen, mit "Finding Beauty In Chaos" ein All-Star-Album abzuliefern, bei dem unter anderem Wayne Hussey (The Mission), Al Jourgensen (Ministry), Robin Zander (Cheap Trick) und Ashton Nyte (The Awakening) als Gäste zu hören sind - um nur einige zu nennen. Und was einmal funktioniert hat, funktioniert auch ein zweites Mal. Das liegt weniger an den wieder illustren Namen, die sich für den Zweitling "The Storm Before The Calm" eingefunden haben, als vielmehr an den handwerklich exquisiten Rock-Songs, bei denen Ciravolo natürlich schamlos auf die Stilistik der kommerziell erfolgreichen Goth-Rocker der ausgehenden 80er Jahre schielt. Die fetten Produktionen der Sister Of Mercy oder Fields Of The Nephilim klingen in seinen Songs deutlich nach. Und warum auch nicht? Denn Stücke wie "The Delicate Balance Of All Things" schreien geradezu nach dem sonoren Organ Husseys. Aber auch "Temple Of Desire" hätte dem Mann aus Bristol gut zu Gesicht gestanden. Jedoch hat sich der hierzulande eher gering bekannte Rafe Pearlman um diesen Song verdient gemacht. Damit "The Storm Before The Calm" aber nicht zur reinen Männerwirtschaft ausartet, darf auch die charismatische Kat Leon mit der Schuhstarrer-Nummer "Stranger" ein würdiges Finale bestreiten. Nostalgiker werden bei diesem Album ohne Zweifel wieder voll auf ihre Kosten kommen. Und allen Junggruftis sei dieses Album als lebendiger Geschichtsunterricht nicht nur empfohlen, sondern verbindlich dargereicht.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 01.06.2020 | KONTAKT | WEITER: GRGR VS. ALTAR OF ERIS>

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Webseiten:
www.peripheralminimal.com
www.lesangesdelanuit.net
www.hansanmusic.com
www.marielberger.com
minoar.bandcamp.com
www.beautyinchaosmusic.com

Covers © Peripheral Minimal (Alu+Attrition), BOB Media/Echozone (Les Anges De La Nuit), Makaki Music (Hansan), Mare Berger, Batcave Productions (Minoar), 33.3 Music Collective (Beauty In Chaos)

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