HACKEDEPICCIOTTO "THE SILVER THRESHOLD" VS. CHRIS LIEBING "ANOTHER DAY" VS. ROBERT GÖRL & DAF "NUR NOCH EINER": ZUSAMMENKUNFT DER TITANEN - Kopieren - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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HACKEDEPICCIOTTO "THE SILVER THRESHOLD" VS. CHRIS LIEBING "ANOTHER DAY" VS. ROBERT GÖRL & DAF "NUR NOCH EINER": ZUSAMMENKUNFT DER TITANEN - Kopieren

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Es ist das geballte Musikwissen, das hier zusammenkommt. Alexander Hacke ist als Bassist und Gründungsmitglied der Einstürzenden Neubauten bekannt, Danielle de Picciotto hat unter anderem die Love Parade ins Leben gerufen, auf der Chris Liebing als DJ aufgelegt hat. Und Robert Görl gilt als präziser Schlagzeuger der Proto-EBMler von DAF. Die lange Erfahrung merkt man ihren neuesten Werken an.

Frei von irgendwelchen selbstgesteckten Grenzen und scheinbar nur der Intuition folgend, beeinflusst Alexander Hacke seit rund vier Jahrzehnten die deutsche (Sub)Kultur. Neben sein Engagement bei den Neubauten trat er auch bei anderen Gruppen in Erscheinung, die vor allem die Neue Deutsche Welle vor ihrem Ausverkauf definierten. Im Laufe der Jahre erweiterte er seine musikalische Palette, wurde Filmmusikkomponist und tritt auch gelegentlich vor die Kamera.

Hacke hatte einige Beziehungen hinter sich, unter anderem mit der Schauspielerin Meret Becker, als er auf seine jetzige Lebensgefährtin Danielle de Picciotto traf, die ihrerseits mit Matthias "Dr. Motte" Roeingh liiert und Mitinitiatorin der Love Parade in Berlin gewesen ist. Auch sonst gestaltet sie in allen Bereichen der Kunst das Berliner Kulturleben aktiv mit. Der Zusammenschluss als HackedePicciotto hat Synergien freiwerden lassen, die auch im aktuellen Album "The Silver Threshold" immer noch faszinierend sind.

Natürlich ist es auch die Pandemie gewesen, die das Künstler-Ehepaar zu diesem Werk inspiriert hat. Doch während andere über die Themen Einsamkeit und Isolation sinnieren, greifen HackedePicciotto einen universelleren Punkt auf. Wie es der Titel erwähnt, sehen sich die beiden an der Schwelle zu etwas Neuem. Diese Aufbruchsstimmung gießt das Duo in urwüchsige Klänge von unbändiger Kraft und einer gewaltigen Wucht. Ein von donnernden Trommeln untermaltes, drohendes Geigenspiel hier ("Meteor's Reign"), religiös anmutende Anrufungen dort ("The Silver Threshold") sowie von Obertongesängen begleitete biblische Rezitationen ("Babel") verleihen dem Album etwas Feierliches und zugleich Dystopisches.

Pulsierende Elektronik und wütende Riffs stehen sinnbildlich für die diffuse Emotionslage einer Gesellschaft, die nach fast zwei Jahren pandemischer Lage müde geworden ist. Da wirken die mittelalterlichen Sackpfeifen-Klänge in "Trebbus", die perfekt mit basslastiger Elektronik und Stahlgeklimper harmonieren, wie ein inneres Brodeln und der Wunsch nach dem Ausbruch aus dieser misslichen Lage. HackedePicciottos Musik ist der Versuch, "ihre Leben und ihre Erfahrungen in einen künstlerischen Ausdruck zu überführen", wie es der Pressetext uns mitteilt. Tatsächlich finden sie auf "The Silver Threshold" eine musikalische Sprache, die das fragile gesellschaftliche Gesamtgefüge in unsicheren Zeiten sehr gut widerspiegelt.

Wenn es ums kollektive Ausrasten geht, hatte Chris Liebing in den Anfangsjahren des neuen Jahrtausends den passenden Sound kreiert: Schranz, eine Technospielart, die mit harten, verzerrten Bassdrums und Maschinenklängen einen kompromisslosen Industrielärm in die Clubs brachte. Vor allem das Frankfurter U60311 wurde auch dank seiner Techno-Abende zum "place to rave".

Von diesen tanzwütigen Sounds ist er seit langem schon abgekommen. Bereits der Vorgänger "Burn Slow" zelebrierte die Traurigkeit in der Maschinenmusik mit breit angelegten Sounds und knackiger Rhythmusprogrammierung. Dieses Konzept transferiert er eins zu eins und ohne Qualitätsverlust in das neue Album "Another Day". Beim Titelsong treffen wir sogar auf eine alte Bekannte: Polly Scattergood. Sie hat "And All Went Dark" auf der vorherigen Platte stimmlich unterstützt und mimt auch dieses Mal mit ihrer Sprechgesangseinlage eine junge Anne Clark.

Wieder einmal gelingt Chris Liebing, sein altes Image als König des Schranz hinter sich zu lassen. Vielmehr erkennt man in den komplexen Klängen seine Liebe für eine tiefergehende Elektronik, die zwar das archaische Moment fest im Blick hat, sein langjähriges Wissen aber in die Finessen der Kompositionen legt. Wenn zum Beispiel "Whispers And Wires" wie ein dekonstruierter Track von Niels van Gogh klingt, der von der souligen Stimme von Ladan getoppt wird, dann sagt das sehr viel über die musikalische Erfahrung des Mannes aus dem schönen Hessen aus.

Trance bedeutet für ihn nicht mehr die rein monotone, redundante Melodieführung, sondern ist ein sogähnlicher Prozess. Die Sounds wabern unter der Oberfläche, spritzen kurzzeitig wie eine Fontäne nach oben, um sich dann zurückzuziehen und weiter vor sich hinzuköcheln. Vor allem die Kollaborationen mit den Sängerinnen und Sängern (eine kleine Sensation ist die stimmlooche Leistung von Tom Adams bei "Circles" und "Hollow Town") verleihen den Liebing-Kompositionen eine weitere Dimension.

"Another Day" liebt das monumentale Moment und suhlt sich förmlich in den schwebenden Klängen, die von massivem Schlagwerk und breiten Bassläufen die entsprechende Erdung erhalten. Intelligent gemachter Elektro, der den DJ und Musikproduzenten auf der Höhe der Zeit und dem Zenit seines Schaffens präsentiert.

Das Ende bei der Deutsch Amerikanischen Freundschaft (DAF) kam dagegen völlig überraschend, als Sänger Gabi Delgado ganz unerwartet im März vergangenen Jahres mit 61 Jahren verstarb. Zu diesem Zeitpunkt haben er und Robert Görl an neuen Songs gearbeitet.

Wie eng verbunden die beiden waren, und wie unmöglich ein Weiterführen der Band ohne seinen "partner in crime" ist, merkt man bereits im umformulierten Bandtitel: Robert Görl & DAF. Das impliziert ein sich Herauslösen des verbliebenen Musikers aus dem Gefüge einer Band, die in ihren besten Momenten Songs für die Ewigkeit geschaffen hat, deren Mitglieder aber eine, wie es im Neudeutsch heißt, toxische Beziehung geführt haben. Görl selbst bezeichnet die Liaison Dangereuse mit Gabi als "Hassliebe".

Für das neue Album haben sie sich aber erneut zusammengerauft und alte, wiederentdeckte Tapes aus den 80ern als Grundlage genommen. Traditionsgemäß improvisierte Gabi die assoziativ gehaltenen Texte im Studio, während Robert für die Musik verantwortlich ist. Da dies aber nicht mehr möglich war und kein anderer diese Rolle einnehmen konnte, hat Robert selbst die Texte eingesungen.

Es ist das vermeintlich letzte Album, das gleichzeitig Hommage an Gabi Delgado angelegt ist, aber auch als Zeitreise in die frühen Tage der Band fungiert. Mit "Erste DAF Probe", Görls liebevolle Rekonstruktion der ersten musikalischen Gehversuche im Keller des Ratinger Hofs, und "Ein Kind aus dem Ratinger Hof", blickt Görl auf die wilde Aufbruchszeit zurück und skizziert in "Holland Drive" den Versuch der damals fünfköpfigen Band, sich in England einen Namen zu machen.

Robert Görl hat im Vorfeld bereits erklärt, dass er Gabis Gesangsstil nicht kopieren kann und will. Dementsprechend besitzen die Songs eine andere Energie, auch wenn sie deutliche Parallelen zu einigen Songs aus ihrer porduktiven Phase aus den frühen 80ern aufweisen. "Wir sind wild" treibt mit seinen Sequenzen so sehr voran wie "Alle gegen alle", während "Im Schatten" eine Schwüle wie "Sato Sato" besitzt. Aber es wird deutlich: DAF wird nie wieder so sein wie früher.

Deswegen fühlt sich das Album auch ganz anders an - manch beinharter Fan könnte mit diesem unfertig wirkenden Album gar fremdeln. Für Robert Görl ist es nach eigenen Aussagen ein "Übergang". Auf "Nur noch einer" nimmt er Abschied von Gabi Delgado und bereitet sich nun darauf vor, den Weg alleine weiterzugehen. Sicherlich wird Gabi aber ein Auge auf ihn haben, wie es das Albumcover prophezeit.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 30.11.21 | KONTAKT | WEITER: MIN T "SHOT TO PIECES">

Webseite:
www.hackedepicciotto.de
www.chrisliebing.com
www.robert-goerl.de

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