KLANGWIRKSTOFFE: ALLES SCHWINGT!
Zehn Jahre Klangwirkstoff Records bedeuten auch ein zehn Jahre langes Balancieren zwischen strenger Wissenschaft, freigeistiger Esoterik, tonaler Kunst und tiefenentspannter Unterhaltung. In der ersten Dekade ihres Bestehens schaffte die Berliner Plattenfirma einige höchst erstaunliche Veröffentlichungen auf die Beine, deren Soundästhetik ein probates Mittel gegen die Schnelllebigkeit unserer ereignisreichen Gegenwart ist, ohne an die schrecklich billig produzierten New-Age-Sampler, die den Markt teilweise überschwemmt haben, anzuknüpfen. Hier wird Musik zu einem multisensorischen Erlebnis, das sowohl kleine als auch große Zusammenhänge in ihren Klangkonzeptionen vereint – aber auch viele Gegner auf den Plan hervorruft.
PLATZ 5: MORPHON "OM MARS VENUS"
Nur all zu gerne wird das traditionelle Einstimmen zur fernöstlichen Meditation, das "Om", belächelt. Dabei wurde herausgefunden, das gerade dieser Ton parallel zur Schwingung der Erde steht. Wie geht das? Kurz beschrieben: Der Umlauf der Erde entspricht im Mittel einer Frequenz von 0,00000003168 Hz. Durch Oktavierung, sprich: multiplizieren der Zahl mit zwei, wird diese Schwingung parallel nach oben befördert. Ab der 30. Oktavierung erreicht die so errechnete Frequenz den für den Menschen hörbaren Bereich. In der 32. Oktave beträgt der Ton 136,10 Hz. Auf unser Musiksystem angewendet, welches sich nach dem Kammerton A mit 440 Hz ausrichtet, handelt es sich bei dieser Oktave um ein etwas tiefer gestimmtes Cis. Und dieser Ton entspricht wiederum dem bekannten Meditationssummen. Nicht umsonst haben Morphon, bestehend aus B.Ashra, Eru und Tommelon im Titel die Erde durch den Grundton ausgetauscht. "Om Mars Venus" ist eine knapp 75-minütige Reise zu den archaischen Prinzipien der Menschheit. Der Hörer durchläuft die beruhigenden Weiten der Klänge des Erdenjahres, wechselt zu den vitalisierten, mit dezenten Rhythmen versehenen Tönen des Marsumlaufs um die Sonne, um schließlich "das harmonische Prinzip und die Liebesenergie" der Venus, wie es laut Booklet heißt, zu spüren. Ob letzteres tatsächlich auch den Lustgewinn zweier Liebenden steigert, mag jeder für sich erkunden.
PLATZ 4: DEVAS "A VISION OF HYDROGENIUM"
Was im Großen mit den Planeten funktioniert, geht umgekehrt auch mit Molekülen. Im Fall von Devas' "A Vision Of Hydrogenium", handelt es sich um die Vertonung der Spektrallinien des Wasserstoffmoleküls, basierend auf der so genannten Balmer-Serie. Das mag sich sehr verkopft anhören, ist aber bei Devas ein sehr ein- wie tiefgängiger Ambient-Cocktail, der vor allem durch die stimmgewaltige Sängerin Jewel eine weitere Qualität erreicht. Ihre an Schamanengesänge erinnernde Performance reiht sich ein mit anderen Szenegrößen wie Lisa Gerrard von Dead Can Dance oder Gitane DeMone, weswegen besonders die Schwarzkittel-Gemeinde wenig Berührungsängste mit Devas haben sollte. Mehr noch bringen die warmen Elektronik-Flächen von Sigyn M. und Jewels tief bewegender und mystischer Gesang eine Saite beim Hörer zum Schwingen, die darauf bedacht ist, das Leben und was es im Inneren zusammenhält, zu erfahren. Auch wenn der wissenschaftliche Überbau dem einen oder anderen sehr "nerdig" erscheinen mag, ist das Ergebnis am Ende dann doch äußerst greifbar und inspirierend. Schließlich geht es um das Wasserstoff-Atom, dessen doppelte Ausführung in Verbindung mit einem Sauerstoffatom ja nichts weniger ergibt, als die Grundsubstanz, die unser Leben erst möglich macht: Wasser. Devas bringt uns diese Gedanken auf höchst entspannte Art und Weise näher.
PLATZ 3: AKASHA PROJECT "SOLAR SYSTEM"
Schon in der Antike ging man von so genannten "Ur-Tönen" der Planeten aus. Die heutige Naturwissenschaft widerlegt diese Thesen und bereits die heftige Diskussion zum Wikipedia-Eintrag über die Planetentöne verdeutlicht die ablehnende Haltung der Gelehrten gegenüber die Willkürlichkeit der Oktavierung. Gar eine Löschung dieses Artikels wurde erwähnt. Ob nun die Ideen Hans Coustos (der sich unter anderem auf das Werk "Harmonice mundi" von Johannes Kepler bezieht) zweifelhaft seien mögen oder nicht, sie inspirieren Menschen zu interessanten Klanggebilden. So wie beim Akasha Project, das sich ganz der kosmischen Oktave verschrieben hat. Barnim Schultze, der Mann hinter diesem enigmatischen Namen, macht seit den 1990ern Musik, anfangs noch im Psy-Trance-Sektor. Seit einigen Jahren stimmt er seine Geräte nach den mathematischen Prinzipien der Oktavierung ein. 2012 machte er sich daran, die Schwingung der Planeten sowie unseres Mondes zu vertonen. Auf gleichmäßig tiefe Flächen breiten sich zeitlupenartig sanfte Klangwolken aus, die den Hörer umschmeicheln und sanft von den Alltagsproblemen forttragen. Entspannender, beruhigender und konzentrierter können Planeten nicht auf unser Sein wirken. Selbst wenn die Herleitung der Klänge vielen Wissenschaftlern unseriös erscheint, so ist das Ergebnis doch über jeden Zweifel erhaben.
PLATZ 2: B. ASHRA "MUSIC FOR GROWING"
Bleiben wir noch ein bisschen beim Spielchen "Professor ärgere dich nicht". Denn nicht nur einzelne Moleküle, sondern auch Stoffverbindungen können nach Coustos Rechenmodell in Musik transponiert werden. Dass es nun Tetrahydrocannabinol, kurz THC, also jener halluzinogene Wirkstoff der Cannabispflanze, sein muss, der in Klang umgewandelt wird, dürfte für viele Kritiker Wasser auf deren Mühlen sein. Die unverhohlen liberale Einstellung des Mathematikers zum Drogenkonsum mag man sicherlich kritisch betrachten; das künstlerische Endprodukt aber sollte darunter nicht leiden. B.Ashras "Music For Growing" versucht zwar, wie der Name es erwarten lässt, das Wachstum der Cannabis-Pflanzen anzuregen, so man als passionierter Zimmergärtner diese sein Eigen nennen darf. Vielmehr noch aber könnte die Musik wie die Droge funktionieren. Immerhin warnt B.Ashra davor, das 75-minütige Konzeptalbum beispielsweise nicht während der Fahrt zu hören. Man ist sich der Wirkung dieser Musik also durchaus bewusst. Ob es der ständige Bass-Ton ist, die eingestreuten Windspiele oder das Auf- und Abbrausen der Synthesizerwellen und deren artifiziell erzeugter Nachhall sind: Das minimale, von jeglicher Rhythmik befreite Arrangement wirkt auf den Hörer, je nach Qualität der Soundanlage unterschiedlich intensiv. Man muss dafür nicht einmal Haschisch geraucht haben, um dieses ganz spezielle Gefühl zu erhalten. Bis dato B. Ashras ambitioniertestes Album.
PLATZ 1: ACTIVE AGENT OF SOUND-SAMPLER
Wie ein tönernes Buffet muten die beiden Folgen der "Active Agent Of Sound" an. Dabei präsentiert Klangwirkstoff-Records nicht nur Auszüge aus dem eigenen Programm, sondern lädt auch andere Künstler ein, die sich ebenfalls für die kosmische Oktave begeistern können. So vereinen die beiden Zusammenstellungen nicht nur die verschiedenen Ideen der Molekül- und Planentenvertonungen, sondern binden darüber Musiker ins Konzept ein, deren ursprüngliches Betätigungsfeld eher weniger Gemeinsamkeiten mit diesen Musikideen haben. Beispiel: Rainer Von Vielen. Bekannt für seinen schmissigen Deutsch-Indie-Rock, zeigt er hier sein Können als Obertonsänger. Auch Fanta-4-Rapper Thomas D. stellte seine Gesangsspur aus "Lektionen in Demut" aus dem gleichnamigen Soloalbum dem Brain Entertainment Laboratory zur Verfügung. Sie unterlegen seine philosophischen Betrachtungen mit der Vertonung der LSD-Spektren,was ein neues Licht auf Thomas' Text wirft. Auch die Grande Dame der elektronischen Avantgarde, Anne Clarke, arbeitete mit Tangerine-Dream-Mitglied Steve Schroyder den Song "Virtuality" aus, und Lutz Berger zeigt mit "Noiszense", das es auch eine Spur avantgardistischer zugehen kann. Das auf verschiedensten Samples beruhende Stück (darunter auch Auszüge vom bereits verstorbenen, begnadeten Hörspielsprecher Claus Boysen) geht in Eintracht mit molekularen Tonstrukturen einher und vermitteln ein durchaus künstlerisch hohen Anspruch. Zwei überaus gelungene Querschnitte durch die Philosophie dieser Toningenieure – und wie immer auch spannend entspannend.
||TEXT: DANIEL DRESSLER |DATUM: 15.08.16 | KONTAKT | WEITER: B.ASHRA VS PSYCHOTIKUM>
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