ALICE BOMAN "DREAM ON" - FÜR UNS GANZ BEI SICH
Langeweile. Mit wieviel Abschätzigkeit und negativer Konnotation ist dieses Wort beschlagen. Besonders in unserer heutigen Zeit, das von einem Informations- und Freizeitüberangebot geprägt ist, scheint es gar nicht mehr möglich, sich zu ennuyieren. Die schnelle Abfolge von Ereignissen bis hin zur ihren zeitlichen Überlappungen führt zu schwerwiegenden Konsequenzen: Der "homo digitalis" bereist die Welt wie ein Wahnsinniger, springt auf jeden neuen Trend auf, den ihm die Sozialen Medien vor die Füße werfen und lebt in einer Blase der Zerstreuung, die ihn immer mehr von sich selbst entfernt.
Nicht umsonst gehören Lebensratgeber zu den beliebtesten Sachbüchern. Seelische Entrümpelungsseminare und Gruppenkuschelkurse erleben ungeahnte Zuläufe. Sie sind nur die Symptome einer Gesellschaft, die vergessen hat, sich selbst zu genügen und mit sich selbst zu beschäftigen - was eben nur durch Langeweile funktioniert.
Vielleicht hat auch Alice Boman den einen oder anderen Moment der Langeweile erlebt, als sie sich für einige Wochen aufs schwedische Land begeben hat, um "Dream On" einzuspielen. Laut Pressetext wollte sie einfach weg von allem, um in den richtige Flow zu gelangen. Zweifelsohne hat sie es in der skandinavischen Einöde geschafft, in sich reinzuhören und auf sich selbst zurückgefworfen zu sein. Denn bei den fast ausnahmslos ruhigen Nummern nicht Gefahr zu laufen, an Spannung zu verlieren, schafft nur, wer seine ganze Konzentration bündelt und sich von äußeren Einflüssen nicht mehr kirre machen lässt.
Zugegebenermaßen muss aber auch Produzent Patrik Berger bei dieser Besprechung ins Boot geholt werden. Denn obgleich er durch die Zusammenarbeit unter anderem Icona Pop und Robyn eher der Abteilung Tanzflächenbespaßung zuzuschreiben ist, hat er Bomans Idee einer intimen Schlafzimmer-Produktion verstanden und behutsam an dem einen oder anderen Stellrad geschraubt, um dem Album einen vollen Klang zu verleihen.
Die Elektronik nimmt bei "Dream On" die Rolle des Traumbefeuerers ein. Die warm-weichen Flächen und mellotronähnlichen Klänge im Wechselspiel mit dem rollenden Basslauf bei "Don't Forget About Me", die finale Orchestrierung am Ende vom herzergreifenden "This Is Where It Ends" oder das dem Gesang beistehende Bontempi-Orgelspiel bei "The More I Cry", lassen Bomans Texte über verlorene, verflossene und nicht erwiderte Liebe in einen merkwürdig somnambulen Schwebezustand gleiten. Nur am Ende reißt die auf eine Akustik-Gitarre reduzierte Schlussnummer "Mississippi" durch ein abruptes Ende den Hörer aus dieser Wohlfühl-Lethargie.
In diese wird man ohne Umschweife mit den ersten Takten von "Wish We Had More Time" versetzt. Der Song ist exemplarisch für das, was die Musikerin umtreibt. Bomans Dream-Folk versieht den Hörer mit einem sanften Weltschmerz, den sie mit einer wunderbaren Nonchalance vorträgt. Besonders bei "Who Knows" meint man fast, Alice sitzt neben einem und singt ganz sanft ins Ohr von den Ängsten, die sie vermeintlich besitzt.
So gräbt sich "Dream On" ohne Druck und doch beständig in unser Herz, um uns von innen heraus zu erleuchten. Dies funktioniert aber nur, wenn wir uns selbst von den Unmengen an Störfaktoren lossagen und uns auf das stille Abenteuer der inneren Einkehr einlassen. Das sind wir Alice Boman sogar schuldig, die sich für uns vollkommen geöffnet hat und während den Aufnahmen zu "Dream On" hörbar ganz bei sich gewesen ist, um uns die Möglichkeit zu geben, uns selbst zu spüren und zu finden. Dieses Album vermittelt Ruhe und Zuversicht inmitten der Wogen unserer aus den Fugen geratenen Welt.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 23.01.20 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 1/20>
Webseite:
aliceboman.bandcamp.com
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