PIRX "LAMINA" VS. WILDES "KLISCHEE": NATUR UND NACHTLEBEN
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Was für ein Auftakt von "Lamina": "Zone Null" beginnt mit einem leisen Grollen und Donnern. Aufgenommen wurde dies aber nicht in einer Gewitternacht, sondern es handelt sich um die Töne des Vulkans Cumbre Vieja auf La Palma, der 2021 mehr als zwei Monate aktiv war und seine Lava über die Insel ergoss. Gleichzeitig bilden die grummelnden Töne das Fundament für "Lamina", das stark von der Geologie geprägt ist. Denn der Albumtitel ist ein Begriff aus der Gesteinskunde und beschreibt die dünnste Sedimentsschicht. Und wo wir bei Begriffserklärungen sind: Der Bandname Pirx bezieht sich auf den Namen eine Kraters auf einem der Monde, die den Planeten Pluto umkreisen.
Die Liebe zu dieser Wissenschaft kommt nicht von Ungefähr. Lina Seyboldt (Gitarristin bei Candelilla) und Moritz Gamperl haben sich beide während ihres Geologiestudiums kennen gelernt, die Aufnahmen des Vulkans hat eine befreundete Forscherin den beiden zur Verfügung gestellt. Die auditive Darstellung unseres Planeten bildet die konzeptuelle Grundlage des Albums, das sich in erster Linie damit beschäftigt, sich wieder der Umwelt gewahr zu werden. Denn wie viel wissen wir eigentlich noch von unserem Planeten? Wir sehen Dokumentationen in hyperrealistischen Aufnahmen, blicken dank Raketentechnik auf den "Blauen Planeten" aus einer sicheren Entfernung. Doch wissen wir überhaupt, was uns umgibt, wenn wir es nicht selbst be-greifen?
"Lamina" will uns darauf aufmerksam machen, und sie scheuen nicht die brennenden Themen. So besingen Pirx in "Nowhere Water" vom Kampf um die überlebenswichtige Ressource. Auch die Koralle auf dem Albumcover (die auf der Rückseite nur noch als Skelett zu sehen ist) wird zum Sinnbild der fragilen Schönheit unseres Planeten, dessen Möglichkeit zur Bewahrung wir selbst in unseren Händen halten.
Pirx unterstreichen die Dringlichkeit ihrer Lieder mit einem Indie-Rock amerikanischer Prägung. Ein bisschen NoWave, kleine elektronische Spielereien, die bei "Makeshift Heat" auch mal den Song dominieren dürfen, und jede Menge Noise, der sich im sirenenartigen Auftakt von "Tremor" verdichtet. Musikalisch von einer wunderbaren Grandezza durchdrungen ist "Parvis-Pirx", dessen kompositorischer Aufbau zu den schönsten des Albums gehört.
Über die Geologie zum Umweltschutz. Was Fridays For Future in gemäßigter und "Letzte Generation" in radikaler Weise versuchen, klarzumachen, gelingt Pirx mit "Lamina" auf musikalischer Ebene: Es gibt keinen Plan(et) B.
Was ist also zu tun? Die Frage nach den "dos" und "don'ts", um dem unvermeidlichen Klimawandel so gut wie möglich abzufedern, werden seit Jahrzehnten erörtert, seit der Anhäufung extremer Wetterphänomene sogar mit größtem Druck. Eine Tatsache ist dabei unausweichlich: Ein "weiter so" wird das Problem nicht lösen; unser Wohlstand wie er jetzt ist, geht auf Kosten unserer Erde.
Angesichts solch niederschmetternder Analysen ist es dem Mensch eigen, sich entweder um 180 Grad zu drehen, um aktiv der Katastrophe entgegenzutreten, oder die Problematik komplett auszublenden und der Dekadenz zu frönen, weil: "is' sowieso egal". Und wenn die Welt die Arschbacken zusammenkneift, dann sollte man noch einmal Soaß gehabt haben.
Sicherlich ist "Klischee" der süddeutschen Formation Wildes nicht der Aufruf zum letzten Hallali, ehe 50 Grad heiße Sommer uns zu Rosinen eindampfen. Aber während bei Pirx die Erde und deren Urrkräfte in den Fokus rücken, fahren Wildes noch ganz altmodisch nach "Capri", begleitet von einem dekonstruierten Giorgio-Moroder-Synthesizerbasslauf und gegenläufig angeschlagene Stromgitarren, und beschreiben in "Steig ein" eine stylisch überhöhte Autofahrt in dunkler Nacht, während ein extem cooler Beat wie das Aufflackern der vorbeirauschenden Straßenbeleuchtung wirkt. Und in "Hitze" geht es zwar auch um zwischenmenschliche Wärme, einmal mehr dienen südeuropäische Touristenziele aber als Kulisse.
Wildes' Debüt kokettiert dabei mit den Klischees, die sie bereits im Albumtitel andeuten. "Konsum" eröffnet den Reigen der vermeintlichen Stereotypien, "ich lad dich ein" widerum ist die von Männern idealisierte Vorstellung, dass eine Frau sie anspricht und sie auf einen Espresso einlädt (auch wenn es in diesem Fall ein höchst unromantischer am Bahnhof ist, aber auch da kann die Magie passieren).
Dabei beherrschen Wildes die gesamte Klaviatur der Neuen Deutschen Welle, bringen in dem Partysong "Leger in Schwarz" eine punkige Frechheit, wie sie einst Ideal berühmt gemacht hat, erlauben sich aber auch in "Toccami" die alten NDW-Strukturen in die Neuzeit zu verfrachten und so einen nicht unspannenden Art-Punk-Song zu erschaffen. Das abschließende "Zone" ist angelehnt an Andrej Tarkowskis Film "Stalker", das monotone Hämmern am Anfang stammt aus der Überfahrt der Protagonisten in eben jene Zone. Wildes gelingt nach jeder Menge heißblütigem Nihilismus ein hypnotischer Schlusspunkt, der natürlich nicht frei von Ironie ist. "Jeder will auf den Thron" singen sie und finden so quasi en passant noch Platz für ein bisschen Kritik an der Ellbogengesellschaft.
Pirx und Wildes sind beide auf dem noch jungen Münchner Label kommando-84 beheimatet. Doch anscheinenden wissen sie dort ganz genau, was sie wollen. "Lamina" und "Klischee" bringen frischen Wind in der Ausarbeitung der so genannten "Independent-Szene". Sowohl von der Plattenfirma, als auch von den beiden Gruppen wird in Zukunft sicherlich noch zu hören sein.
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