LAUT FRAGEN "AGE OF ANGST" VS. NEUSCHNEE "DER LÄRM DER WELT": WIEN GEGEN DEN REST DER WELT
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Es ist nur schwer in Worte zu fassen, was gerade abläuft. Wir stehen vor einem Kollaps unseres Ökosystems, Russland führt nachwievor Krieg gegen die Ukraine und zu allem Überfluss eskaliert der Nahostkonflikt auf brutalste Weise. In Deutschland verschieben sich die Machtverhältnisse; die ultrarechte AfD gewinnt an Einfluss als "Protestpartei". Kann unter diesen ganzen Vorzeichen Kunst überhaupt noch apolitisch sein? Oder muss sie sich zwangsläufig positionieren?
Letzen Endes wird ein Kunstprodukt zum Politikum, wenn es sich am Zeitgeist orientiert und diesen explizit oder auch metaphorisch verhandelt. Das österreichische Electro-Punk-Duo Laut Fragen ist aber schon von jeher politisch aktiv und bleibt mit ihrer antifaschistischen Haltung nicht hinterm Berg. Da Sängerin Maren Rahmann und Knöpfchendreher Didi Disko aber auch dem Bildungsbürgertum verpflichtet sind, mischen Laut Fragen Punkattitüde mit dokumentarischen Intellektualismus. Das gipfelte im exorbitanten "Facetten des Widerstands", einer Sammlung von Gedichten österreichischer Literaten, die während des Nazi-Regimes systemkritische Werke schrieben. Mit "Meine Schreie" huldigten sie überdies der großen österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, einer Punkerin des Literaturbetriebs zu einer Zeit, als es das Wort noch gar nicht gab.
Während diese Outputs sich noch um die vergangene Ereignisse drehten, ist "Age Of Angst" nun ein Statement zur momentanen Lage der Nation. Und dieser fällt erwartungsgemäß nicht besonders wohlwollend aus. Dafür ist es ein kraftvoller Rundumschlag, der sich jeden Themen pointiert widmet. "Arsch" nimmt den immer noch vorherrschenden Sexismus auseinander, der nach der Causa Lindemann wieder ordentlich befeuert wurde. Unter knarziger Elektronik erzählen zwei Frauen in einem fiktiven Dialog, wie sie misogyne Sprüche von der Männerwelt reingedrückt bekommen. Eine realistische Darstellung, die mit einer radikalen Ab- und Auflehnung dagegen endet - was in Wirklichkeit jedoch nie so einfach vonstatten geht.
Das toxische Verhältnis zwischen Mann und Frau begünstigt auch die Frage nach der Selbstoptimierung, die in Zeiten von Instagram und Konsorten zu einem Schaulaufen der gefilterten Eitelkeiten führt. Bitterböse und zynisch verhandelt Laut Fragen diese in "Supermenschensonderangebot", mit der traurigen Erkenntnis, dasss wir uns selbst und freiwillig zur Ware degradieren. "Ich stehe im Regal, geh' bitte nicht an mir vorbei", singt Didi, während die Synthies vor sich hinblubbern. Ein stimmiges Bild unserer Gesellschaft, die sich nur noch über das sehen und gesehen werden definiert, was besonders bei den Jugendlichen nicht ohne Folgen bleibt.
Daneben wird in "Beton" und "Grau" die voranschreitende Umweltzerstörung anhand des omnipräsenten Baustoffs Beton exemplarisch dargelegt. In "Grau" torkelt und wankt das Duo zu einer Brecht'schen Melodie und freut sich über ihr monochromes Habitat. "Beton" jedoch macht aus der anfänglichen Liebesbeziehung einen Pakt mit dem Teufel, weil das Material die Natur ins Abseits drängt. Die Haltung von Laut Fragen ist eindeutig. Nicht nur in diesem Bereich.
"Age Of Angst" funktioniert auf mehreren Ebenen hervorragend. Die Platte ist Punk ("Alle auf der Jagd"), aber auch expressionistisches Sprechtheater ("Zeit") und großes Gefühlskino ("Age Of Angst"). Beim abschließenden "Ausgang" taucht unter kratzigen Electro-Tönen ein naiver Pop-Charme auf, der mit Rahmanns kindlicher Freude kollidiert. Das Duo lässt bei dieser Abschlussnummer allen Groll hinter sich und kehrt der Schlechtigkeit unserer Gegenwart den Rücken. "Wo geht es hier zur Utopie?" fragen Laut Fragen jedoch eher leise. Dafür aber umso bestimmter. Die Suche nach einer besseren Welt - sie scheint in diesen Tagen so akut wie nie.
Die gesamtgesellschaftlichen Probleme wirken überlebensgroß, sie anzugehen erfordert eine große Menge Geduld, Weitsicht und Differenzierungsvermögen. Neuschnee, ein weiteres Wiener Projekt, versucht auf der aktuellen Scheibe "Der Lärm der Welt" aber gar nicht erst, irgendwelche Lösungen zu finden oder sich zu positionieren. Komponist Hans Wagner sucht sein Heil in der Flucht, die auf ganz unterschiedlicher Weise geschieht.
Doch der Wunsch, von dieser unsicheren Zeit Reißaus zu nehmen, klingt nicht nur im eskapistischen Kammer-Pop durch, sondern auch in seinen verschnörkelten Texten. "Die Welt ist schöner" setzt die Liebe in den Mittelpunkt des Lebens, die alle Parameter neu definiert und die eigene Existenz wieder lebenswert macht. In "U-Boot" geht er auf Tauchstation und verlässt diese digitalisierte Welt, in der man "mittendrin, doch nicht dabei" ist, wie es einleitend im Lied heißt.
Seinen Unmut über die Gesellschaft hat Neuschnee bereits vor der Pandemie in seinem Album "Okay" (2018) deutllich gemacht. "Der Zeitgeist macht buh" sehnte sich damals unter überraschender Deichkind-Elektronik die "Post-Postmoderne" herbei. Nun ist sie da. Aber sicherlich nicht im Sinne des Künstlers, sondern die dystopische Variante davon. Bleibt also nichts anderes übrig, als sich von dieser Welt zu verabschieden - und ins innere Exil abzuhauen.
Dann und wann aber scheint sie durch: Wagners Liebe zum Leben. "Metronom", ein im schleppenden Rhythmus vor sich hin stampfender Post-Rock-Brocken, feiert das Sein in all seinen Schattierungen und konzentriert sich auf das Leben als das große Geschenk, das es nun einmal ist. "Das Leben ist ein langer Kuss, der sich währt mit scharfen Zähnen" beschreibt Hans Wagner an anderer Stelle in "Auf hoher See". Besser kann man das ewige Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Existenz nicht beschreiben.
Neuschnee könnte eine der markantesten Deutsch-Pop-Alben werden, wenn da nicht der überaus große Anspruch Wagners ist, der sich nicht dafür interessiert, was marktkompatibel ist, sondern nur seiner eigenen künstlerischen Vision genügt. Nach seinen Aussagen habe er sowieso nun alles erreicht, was er mit Neuschnee erreichen wollte, weswegen "Der Lärm der Welt" auch das letzte Album sein wird, das die Gruppe veröffentlicht.
Wie und ob Hans Wagner der Musikwelt verbleiben wird, ist noch nicht bekannt. Ein herber Verlust ist es allemal. Den großen Abschied zelebriert er stilecht mit dem 16-minütigen Titelsong, der noch einmal eine kompositorische Meisterleistung darstellt. Beginnend mit dem Klang eines sich einspielenden Orchesters werden Fieldrecordings und Alltagsgeräusche den dissonanten Tönen beigemengt, ehe der Mittelteil mit einer gepflegten Rap-Passage und bombastischen Streichern aufwartet. Schließlich zirpen die Geigen in den höcchsten Tonlagen und bilden das perfekte Finale einer Band, die Zeit ihres Bestehens eigentlich viel zu wenig Anerkennung bekommen hat.
Natürlich können Laut Fragen und Neuschnee unsere Welt nicht zu einem besseren Ort machen. Keine Musikerin und kein Musiker vermag das. Aber sie können uns helfen, die Wahl, wie wir mit der Gegenwart umgehen, leichter zu treffen. Laut Fragen hat sich für den beißenden Spott und ätzenden Zynismus entschieden, Neuschnee für die innere Einkehr und mentale Isolation. Beide Ansichten sind legitim, vor allem weil sie zu großartigen Kunstwerken geführt haben.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 24.10.23 | KONTAKT | WEITER: THE VACANT LOTS VS. FEU FOLLET>
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Cover © Numavi Records (Laut Fragen), Las Vegas Records/Broken Silence (Neuschnee)
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Rechtlicher Hinweis: UNTER.TON setzt auf eine klare Schwarz-Weiß-Ästhetik. Deshalb wurden farbige Original-Bilder unserem Layout für diesen Artikel angepasst. Sämtliche Bildausschnitte, Rahmen und Montagen stammen aus eigener Hand und folgen dem grafischem Gesamtkonzept unseres Magazins.
© || UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014. ||
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