THE TINOPENER'S ART "OBSERVATIONS IN A TIME OF CHANCES" VS. CASSETTER "ROBOT ERA": AUS DER VERGANGENHEIT, FÜR DIE ZUKUNFT - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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THE TINOPENER'S ART "OBSERVATIONS IN A TIME OF CHANCES" VS. CASSETTER "ROBOT ERA": AUS DER VERGANGENHEIT, FÜR DIE ZUKUNFT

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Manchmal sind es ganz abstruse Momente, die Künstlern die erhoffte Inspiration liefern. Im Falle von Maximilian Lückenhaus, dem Vordenker von The Tinopener's Art, war es ein Hochwasser in seiner Heimatstadt München. Dieses hatte das Kiesbett der Isar deutlich verändert, sodass sich kleine Kiesinseln an ungewohnter Stelle gebildet haben, die nun als Reservat für Wasservögel dienen.

Veränderungen bringen neue Chancen, so seine philosophoschen Überlegungen - "Observations In A Time Of Chances" lautet daher auch das zweite Album des Projektes, das in seine Grundfesten natürlich Synthie-Pop propagiert, aber dazwischen doch einigen Raum für kreative Entfaltungen lässt, die frei von Berührungsängsten sind. Am Beispiel von "Kingdom Of The Lost Crown (Dream 2)" lässt sich dies besonders veranschaulichen. Maximilan setzt nicht nur auf einen Pizzicato-House, der an Faithless' etwas vergessene Nummer "Salva Mea" erinnert, sondern bringt auch den geliebt-gehassten Autotune-Effekt ins Spiel. Dennoch funktioniert dieser Stil-Mischmasch einwandfrei und macht die Nummer nachhaltig.

Vor allem ist aber "Observations..." ein poltisches Album geworden, das sich bereits mit dem ersten Song "State Of Mind" zu positionieren versucht und vor allem bei "The Last Drop (Food Speculation)" - der Titel sagt es bereits - die Perversion der Lebensmittelspekulation zum Thema auserkoren hat und in "Forever (Benzin)" Machtstrukturen und Umweltzerstörung zusammenbringt. All das wird mit schweren, triphop-artigen Sounds unterlegt, die den Stücken eine noch stärkere Dringlichkeit verleihen.

In den anschmiegsamen Momenten wird natürlich auch über die Liebe gesungen. Doch diese rutscht in "Kiss My Lips" eher in eine verruchte Fetisch-Ecke. Damit bleibt sich der Mann aus der bayerischen Landeshauptstadt treu und widersetzt sich allen gängigen Topics für einen sofort ins Ohr flutschenden Popsong.

Ein einziges Mal übermannte ihn dann doch die Lust an der Eingängigkeit über alle Maßen. "#Follow Them" ist ein körniger Electroclasher wie er seinerzeit von Trans X (jaja, die mit dem "Living On Video") salonfähig gemacht wurde. Inhaltlich aber, auch das verrät der Titel, bleibt man schön gesellschaftskritisch und zieht hier über das Phänomen "Influencer" her - ein Auswuchs unserer Zeit, dessen Daseinsberechtigung zumindest in Frage gestellt werden muss.

Einmal mehr zeigt sich The Tinopener's Art in allen Belangen eigenständig und überraschend. So haben sie - wie bereits beim Vorgängeralbum "A Mode Of Reward" - zu jedem Song ein Cover gestaltet, die man auf ihrer Bandseite bewundern kann. Und sie geben ihre Musik immer noch gratis an den Hörer weiter - mit der Option, das Album regulär auf gängigen Streamingdiensten und Musikportalen zu erwerben. Schon der Anstand allein gebührt es, dass man sich, nachdem man "Observations In A Time Of Chances" kostenlos angehört und für gut befunden hat, einen entsprechenden Obulus für den Künstler entrichtet. Denn gerade diese Branche hat es ja momentan besonders schwer.

Bei Mateus Wajs verhält sich die Sachlage etwas anders. Denn der Mann aus Warschau ist erst seit drei Jahre unterwegs und muss sich - Corona hin oder her - in einem Genre behaupten, das derzeit derart en vogue ist, dass es schwer ist, sich bemerkbar zu machen: Synthwave. Mit The Weeknds Dauerbrenner "Blinded By The Lights" hat diese Sparte noch einmal einen kräftigen Popularitätsschub erhalten und weitere Musiker auf dieses Genre aufmerksam werden lassen. Doch der Mann, der sich Cassetter nennt, hat bereits mit seinem Debütalbum "The Fugitive" eine deutliche Duftmarke gesetzt.

Anlaufstelle Nummer eins, wenn es um den Vertrieb von Synthwave geht, ist FiXT, beziehungsweise FiXT Neon. In deren Hände hat sich Cassetter vertrauensvoll begeben und prdouziert nun wie am Fließband. Doch der Sound auf "Robot Era" klingt beileibe nicht nach Sound von der Stange.

Ganz klassisch synthwaveaffin, wie Cassetter nun mal ist, bleibt der Musiker auf seinem dritten Album einem Stil verhaftet, der sich durch fett produzierte Synthie-Betten auszeichnet, die von knalligen Beats durchschossen werden. Darüber finden sich hypermelodiöse Texturen, die nicht von ungefähr an John Carpenter erinnern. Vielen Produktionen aus dieser Sparte liegt nämlich die Eigenschaft zu Grunde, eine Science-Fiction-Kulisse aufzubauen. Für Cassetter spielt das Jahr 2080 seit Anbeginn seiner Karriere eine große Rolle, die er auch in seinem aktuellen dritten Album im Stück "Formula 2080" abahndelt.


Und ähnlich wie bei Carpenter, überwiegen bei Cassetter die Instrumentale, obgleich er unter anderem mit Haus- und Hofchanteuse Megan McDuffe ("Radioactive Rain") und Synthwave-Ikone D.Notive ("Introspection") durchaus talentierte Stimmen für seine Songs herangezogen hat. Besonders "Neon Pills" ist mit der Gaststimme von Voicians ein herrlicher Popsong, der einer eindrucksvollen Reinkarnation des Italo-Disco-Sounds gleicht.

Das Cover liefert die Kulisse für diesen neonfarbenen Trip. Die Songs sind eine Ton gewordene Lightshow in höchster Auflösung. Ähnlich wie leistungsstarke LED-Wände, die mittlerweile bei jeder besseren Fernsehshow zum Einsatz kommen, beamen die Stücke den Hörer in eine Welt "aus Chrom und Laserstrahl", wie es die Herren und Damen von Welle:Erdball einst in ihren putzigen Sci-Fi-Geschichten im Groschenroman-Format treffend beschreiben.

Während jene aber den Commodore 64 als unabdingbares Instrument, ja, sogar als Vollwert-Mitglied ansehen, bleibt Cassetter unüberhörbar in der Klangästhetik der Gegenwart verhaftet. Nur in wenigen Momenten bricht er aus dem vorgegebenen Schema heraus und gönnt sich bei "Unstoppable" ein Instrumental, das mit seinen rund 160 Bpm an die Hochgeschwindigkeits-Rave-Tracks der mittleren 1990er erinnert.

Mit The Tinopener's Art und Cassetter offenbaren sich zwei Interpretationsmöglichkeiten der elektronischen Popmusik - reduziert und nah an der analogen Frühphase dieser Sparte auf der einen, üppig instrumentiert und extrem melodieverliebt auf der anderen Seite. Beide haben die goldene Ära dieser Stilrichtung, die sich vornehmlich in der ersten Hälfte der 80er befand, vor Augen. Selbst 40 Jahre danach ist Synthie-Pop und dessen naiver Futurismus immer noch faszinierend, selbst wenn dieser uns bereits eingeholt hat.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 01.06.21 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 9/21>

Webseite:
www.tinopener.de
cassetter.bandcamp.com


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COVER © THE TINOPENER'S ART, FIXT NEON (CASSETTER

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