TEIL III – MUTMACHENDE PROGNOSEN
Ist die Geschichte der Popmusik an diesem Punkt also zu Ende erzählt? Wird nunmehr Stumpfsinn und gleichgeschalteter Mainstream unseren Nachkommen als ultimativ gustiöser Pop-Cocktail kredenzt? Mitnichten!
Das vorangegangene Wort nun wieder zu nivellieren mag zwar schizophren anmuten, aber Popmusik ist eben eine Gefühlsangelegenheit. Und nach traurig-melancholischen Momenten folgt auch wieder die Zuversicht auf wenigstens einige kleine Neujustierungen, die dem gesamten amorphen Gebilde eventuell einige entscheidende Impulse liefern könnten.
Über den rasanten Anstieg der Digitalverkäufe zu salbadern geht nicht eingedenk des ebenfalls wachsenden Vinylmarktes (und neuerdings auch Audio-Kassetten-Marktes). Die Schallplatte gewinnt deutlich an Bedeutung für die Musikbranche. Viele Insider prophezeiten ihr schon über 20 Jahre lang den unausweichlichen Untergang. Aber sie gingen erfreulicherweise fehl in ihrer Annahme.
Die Schallplatte hat als Medium aus drei Gründen überlebt. Zum einen kamen vor allem die Techno- und HipHop-Szene nie ohne sie aus: DJs schwören nachwievor auf die quarzgesteuerte Technik des 1210er-Schallplattenspielers der Marke Technics, die als einzige in den Großraumdiskotheken ihren Dienst ableistete, ohne unter den erschwerten Bedingungen für das Getriebe (scratchen, spinning usw.) einzuknicken. Erst 2010, nach fast drei Jahrezehnten, wurde die Produktion eingestellt – Rekord übrigens für ein Gerät aus der Unterhaltungselektronik: So lange wurde kein anderer Schallplattenspieler in Serie produziert.
Weitaus wichtiger allerdings ist die Digitalisierung der alten Schallplattenarchive für den Hausgebrauch. Die neuesten Plattenspieler verfügen über USB-Anschlüsse, die es den Vinylfetischisten ermöglicht, die gesammelten Werke digital zu konservieren.
Vordergründig sieht das nach einer weiteren Niederlage für das schwarze Kultmedium aus, entpuppt sich aber tatsächlich als dessen Rettung. Denn durch die modernisierten Abspielgeräte wird der Ruf nach aktuellen Alben in Form einer Vinyl-LP immer lauter. Und die Branche stellte sich darauf ein
Im Zuge der Retrowelle verklärte man die Nachteile der Schallplatte, allen voran das Kratzen der Nadel, als unabdingbaren Teil nostalgischen Charmes. Heutige Erwachsene sind groß geworden mit dieser unprfekten Technik und haben den Siegeszug der CD miterlebt. Sciherlich bedeutet die Wiedereinführung der Platte auch ein Stück Rückgewinnung ihrer Jugend und Kindheit.
Der dritte Aspekt bezieht sich auf die Wertetransformation des Vinyls. Denn bei aller Euphorie über die Renaissance dieses scheinbar nicht tot zu kriegenden Tonträgers, bleibt festzuhalten, dass es sich dabei um ein Prestigeobjekt für den musikalisch versnobten Connaisseur handelt, der gerne über die dynamische Klangqualität einer Platte schwärmt (allen voran die verbesserten 180g-Scheiben, die sich durch eine besondere Laufruhe auszeichnen). Gerne geben sie dafür auch deutlich mehr für die Platten nebst High-End-Equipment aus.
Hier entsteht eine – zugegebenermaßen attraktive – Gegenbewegung zum bloßen mp3-Musikkonsum. Es ist wohl eine nur zu menschliche Entwicklung, dem Fortschritt so lange sich hinzugeben, bis er die eigene Vergangenheit zu verdrängen versucht und das Individuum entwurzelt. In anderen Bereichen des Lebens finden diese Phänomene ebenfalls statt: den vielen Schnellrestaurants setzt die Slow-Food-Bewegung einen achtsamen Umgang mit Nahrung entgegen, und der Ruf nach den vertrauten Tante-Emma-Läden wird im Zuge uniformer Shoppingmalls mit den ewig gleichen Geschäften auch immer lauter.
Dieser nostalgische Blick zurück lässt sich auch seit einiger Zeit in der Popmusik beobachten. Als erfreuliche Alternativen zum ultraschluffigen Hipster-Techno orientieren sich die jungen Künstler wieder stärker an die "goldenen 80er" (während hierzulande bereits das nachfolgende Jahrzehnt mit vielen, teilweise höchst unnötigen Fernsehsendungen nochmal aufgewärmt wird).
Das englische Duo Hurts beispielsweise schaffte mit der Single "Wonderful Life" sowie den beiden Alben "Happiness" und "Exile" das Kunststück, die Noblesse des New Romantic in ein modernes Synthie-Pop-Gewand zu verpacken. Und Bruno Mars dürfte spätestens seit der Zusammenarbeit mit Mark Ronson, aus der die erfolgreiche Single "Uptown Funk" entstand, die Vorzüge analoger Synthesizer und vibrierender afroamerikanischer Rhythmen entdeckt haben. Seine Liebe zum funkigen 80er-Disco-Sound brachte er bereits auf wunderbare Weise in dem Song "Moonshine" auf seinem 2012er-Album "Unorthodox Jukebox" zum Ausdruck, das mit seinen breiten Synthieflächen den Powerballaden von Foreigner in nichts nachsteht.
Apropos "Uptown Funk": Dieser Song brachte auch eine gewisse Fleur East anno 2014 im Halbfinale der englischen Ausgabe von "The X Factor" zum Besten (kurioserweise war das Lied zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht von Mars und Ronson veröffentlicht worden). Gewonnen hat diese Folge der Casting-Show zwar ein gewisser Ben Haenow, aber Fleur East profitiert von der neuen Funk-Welle und bringt mit "Sax" einen Song heraus, der auf ihre voluminöse Stimme perfekt zugeschnitten wurde und im Aufbau natürlich sehr stark an "Uptown Funk" erinnert, alle voran die treibende Bridge, gefolgt von einem üppigen Bläaserchor. Aber wie heißt es so schön: Lieber gut geklaut als schlecht selbstgemacht.
Das gilt in gewisser auch für Walk The Moon. Zunächst waren sie eine von vielen Indie-Rock-Bands aus den Vereinigten Staaten. Doch dann kam quasi wie aus dem Nichts "Shut Up + Dance", der es zu einem weltweiten Hit brachte. Grund dafür dürfte vor allem die starke Rückbesinnung auf die Alternative-Pop-Szene der mittleren 80er sein, zu dem dieser Song offensichtlich tendiert. Einige wenige, an U2 erinnernde Gitarrenlinien als Intro reichen schon aus, um der Nummer das nötige "Retro-Flair" zu verpassen. Hier stimmt einfach alles, weil auch das Thema vergleichsweise unschuldig daherkommt. Es geht schlicht und ergreifend um das Glücksgefühl, das das lyrische Ich verspürt, wenn er mit seiner Angebeteten tanzen darf.
Allerdings macht eine Schwalbe noch lange keinen Sommer, und viele Bands und Sänger(innen) blieben bislang ein Strohfeuer. So konnte oben genannte Hurts mit ihrem dritten Album "Surrender", das den gedimmten Synthie-Pop durch einen belangloseren Disco-Sound auswechselte, nicht mehr an die Erfolge der ersten beiden Werke heranreichen. Das selbe Schicksal ereilte auch Imagine Dragons, deren Single "Radioactive" sowie die dazugehörige LP "Night Visions" vor rund fünf Jahren noch aufmüpfigen Pop versprach, den der Nachfolger "Smoke+Mirrors" (2015) nicht mehr einzulösen vermochte.
Die größten Erfolge haben diese Gruppen aber genau dann, wenn sie Pop kratzbürstig machen und mit Widerhaken versehen. Bereits 2011 konnte ein gewisser Alex Clare damit einen großen Hit schaffen. "Too Close" dealt im Refrain mit der damals virulenten Dub-Step-Musik, aber eben nur zitatweise, um den Hörer nicht zu sehr zu verstören. Ähnlich machen es momentan die 21 Pilots aus Columbus/Ohio. Sie verweben geschickt in ihre Songs jede Menge unterschiedliche Stile. Von Reggae über HipHop bis hin zu Electronica und Indie-Pop. Mit "Heathens" gelang ihnen ein wundervoller, weil an schlüssigen Ideen überbordender Song, der noch genügend "alternative" Züge aufweist, um sich dem aktuellen Trend – zumindest scheinbar – zu widersetzen.
Andere wiederum müssen sich erst noch beweisen. Die französische Sängerin Jain beispielsweise brachte im vergangenen Jahr mit "Come" einen herrlich transparenten, arabisch-afrikanisch angehauchten Popsong heraus, der in ihrem Heimatland durch die Decke schoss, es aber hierzulande bedauerlicherweise nur zu ein paar kurzen Radioeinsätzen im Sommer schaffte. Erfolgreicher ist da der gewichtige Rag'n'Bone Man mit seinem Nummer-Eins-Gospel "Human". Ihre Werdegänge dürften die spannendsten sein, weil sich hier klare Persönlichkeiten mit ebenso auffallenden Stimmen abzeichnen.
Und hierzulande? Die interessantesten Entwicklungen finden momentan unterhalb dem Radar der Massenmedien statt. Eines der verstörendsten wie eindringlichsten Stücke des letzten Jahres bescherte uns Rapper Casper. "Lang lebe der Tod" ist so grandios wie wahnsinnig. Anstatt muskelbepacktem Klischee-HipHop aufzufahren, vollführt Casper einen expressionistischen Abgesang auf den Menschen und seiner Sensationsgier. Dieses Stück kennt keine stilistischen Grenzen mehr und bedient sich druckvoller Indie-Riffs ebenso selbstverständlich wie morbider Synthie-Arpeggis. Überraschen auch die Gastsänger: neben dem Schweizer Dagobert und der deutschen Elektro-Band Sizarr konnte Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten ans Mikro geholt werden. Wenn dieser mit einer Knef'schen Grandezza den Refrain am Ende des Songs intoniert, scheint es so, als wolle der Altmeister sein lyrisches Zepter an die nächste Generation weitergeben. In Casper jedenfalls besitzt Deutschland einen der ausdrucksstärksten Musiker der letzten Jahre vom Format eines Rio Reisers.
Mehr noch aber könnte Pop, hüben wie drüben, wieder stärker in den politischen Diskurs eingreifen. Die wütenden Proteste einer Madonna bei der Amtseinführung von Donald Trump sind deutliche Hinweise auf die neue Rolle der Popstars. Hierzulande formieren sich bereits unter dem etwas schwammigen Begriff Zecken-Rap einige Gruppen und Künstler(innen), die in Zeiten zunehmender Ausländerfeindlichkeit ein klares Zeichen setzen wollen. Bereits 2014 brachte die Band Neonschwarz mit "Fliegende Fische" ein Album heraus, das zwar ebenso die ausgelassene Feierei propagiert, aber in nicht wenigen Momenten auch ihre linkspolitische und antifaschistische Gesinnung offen zur Schau trägt. Mit "2014" und dem nachfolgenden "2015" fungieren sie als kritisch-besorgte Chronisten unserer Gesellschaft, die sich deutlich in eine beunruhigend rechtskonservative Ecke verlagert hat.
Spannungen, politisch wie gesellschaftlich, bewirken immer eine Reaktion in der Kunst. Die Schaffenden leben in der Regel nicht in irgendeinem Elfenbeinturm, in dem sie über die schönen Dinge des Lebens sinnieren, sondern greifen das auf, was um sie herum geschieht und lassen es – mal mehr, mal weniger offensichtlich – in ihre Werke einfließen. Die absolute Freizügigkeit des 80er-Pop sowie der naiv-kindliche Spaß der NDW basieren nicht zuletzt auf eine zunehmend unsichere Zukunft im Zeichen atomaren Wettrüstens, sodass das mittelalterliche Motto "carpe diem" aktueller war denn je. Angesichts der bevorstehenden Umwälzung der weltlichen Ordnung durch das Erstarken rechter Kräfte in Europa und einer Neuausrichtung Amerikas durch den Wirtschafts-Hardliner Trump sind ähnliche Vorlagen gegeben, die der Popmusik eine neue, tiefergehende Qualität verleihen könnten.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 30.01.17 | KONTAKT | WEITER: QUO VADIS POPMUSIK? TEIL II: INTERNATIONALER POP>
Fotos © UNTER.TON/Daniel Dreßler
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