6/20: IT'S FOR US, WINFRIED STRAUSS, KONTRAST, GLORIA DE OLIVEIRA, 6TH CROWD - SCHNELLE NUMMERN
Am Ende bleibt wenigstens bei drei der fünf vorgestellten Kurzvergnügen wieder einmal der Wunsch, dass da schnell und viel nachgeschoben wird. Denn diese EPs machen wieder viel Freude, aber sind auch wieder viel zu schnell vorbei.
Die Stockholmer Tristesse-Kapelle It's For Us hat es hierbei besonders eilig. In gerade mal etwas mehr als zehn Minuten frühstückt die Gruppe um die energetische Sängerin Camilla Karlsson vier Songs ihrer EP "Malax" ab. Dass die Eröffnung dieses extrem kurzweiligen Reigens "You're The One" macht, ist sicherlich kein Zufall. Unter flächigen Gitarrenriffs stößt die Frau einen melodiösen Schrei aus, der wie ein Schlachtruf klingt. Keine Frage: It's For Us sind auf Attacke gebürstet und zeigen sich extrem angriffslustig. Damit haben sie ihren Stil, den sie bei ihrer letzten LP "Stay" ausgearbeitet haben, an einigen Stellen neu justiert. Post-Punk und Pop schließen sich weiterhin nicht aus, scheinen sich sogar noch ein bisschen inniger in die Arme zu nehmen als zuvor. Gerade "Trouble" besitzt eine auffällige Leichtigkeit, die einen ein bisschen an The Birthday Massacre erinnert, allerdings ohne protzige Produktion. Bei den Skandinaviern herrscht immer noch das ungschliffene Moment. Besonders "The Good Life" arbeitet den Punk von Post-Punk gut aus. Das Schlagwerk pest nur so durch die Nummer, dass die Gitarren kaum hinterherkommen. Und Camillas alertes Organ zeugt von einer Dringlichkeit der Sache. Auch das abschließende "The Fight" nimmt keine Gefangenen. Die mit dezentem Hall versehenen Gitarren preschen durch dezente Synthielinien, ein knackiges Schlagzeug verleiht der Nummer jede Menge Druck. Am Ende der "Malax" EP kommt man einfach nicht umhin, die vier Songs gleich noch einmal zu hören. Das ist musikalisches Fast-Food, das man gewissenhaft zu sich nehmen kann, weil es so nahrhaft ist.
Ein bisschen wuchtiger nimmt sich dagegen Winfried Strauss' Kompositionen aus. Und als ob der Familienname dazu verpflichtet, fühlt er sich ganz und gar in der Klassik zu Hause. Doch während er gleichnamige Walzerkönig eher beschwingte Festivitäten musikalisch untermalt, geht es bei Winfried sehr dunkel zu. Hauptinstrument bildet das Klavier, welches er in direktem Kontrast zur Elektronik setzt. Diese Ambivalenz hat er bereits im vergangenen Jahr mit dem beeindruckenden Album "Textures Of Being" der Öffentlichkeit vorgestellt. Mit den nun vorliegenden "Resonance" EP, bestehend aus drei Varianten des Stücks "Resonant Berlin" und "Avantgarde Love" zeigt sich der Pianist durch und durch düster. "Resonant Berlin" beschwört in gruseligen Moll-Arpeggis eine Atmosphäre des Unbehagens. Duch die Hinzunahme pluckernder elektronischer Patterns im Laufe des Stückes nähert sich Winfried Strauss einem eigenen Klangkosmos, dessen Radikalität einzigartig ist. Fans klassisch ausgeprägter Schwermutsklänge wie sie beispielsweise bei Deine Lakaien zu hören sind, werden sich schnell mit Strauss' Musik anfreunden. Durch die Neubearbeitungen von Deus Ex Lumina und Pablo Saitua werden einzelne Facetten von "Resonant Berlin" verstärkt herausgearbeitet - experimentell bei Erst- und elektronisch-tanzbar bei Letzgenanntem. In "Avantgarde Love" experimentiert der Musiker nicht zuletzt mit dem Instrument selbst. Mutmaßlich verstimmen in den Flügel gelegte Gegenstände die Töne, was dem Stück eine surrealistisch-bedrückende Note verleiht. "Resonance" bringt die dunkelsten Seiten der Musik zum Leuchten.
Dunkel ist auch jenes Kapitel in der noch jungen Geschichte der Kernkraft, als 1986 der Reaktor in Tschernobyl explodierte. Das Elektroprojekt Kontrast hat sich diesem Thema in ihrem Song "Der Sarkophag" gewidmet, das bereits auf dem superben Album "Unaufhaltsam" veröffentlicht wurde. Dass nun dieses Stück gesondert ausgekoppelt wurde, ist angesichts seiner Kraft nur konsequent; dass die Veröffentlichung aber ausgerechnet während der Corona-Pandemie stattfindet, verleiht dem Song eine zusätzliche Bitterkeit. Schließlich gibt es einige Parallelen zwischen diesen Ereignissen. Beide eint die Angst und Ungewissheit ob der Zukunft, die sich in der Gesellschaft breit macht und mittlerweile unvorstellbare Blüten treibt und krude Verschwörungstheorien befeuert. Das Stück wird in einem hübsch aufgepeppten Clubmix präsentiert, die nachfolgenden Stücke "Unsichtbar", "Ewig" und "Hybris" bewegen sich thematisch nah am Titelsong, bleiben aber in Aussage allgemein gehalten. Nun hätte man sprichwörtlich den Deckel auf den "Sarkophag" drauflegen können. Doch Kontrast nehmen - zumindest bei der limitierten Auflage der EP - jetzt erst so richtig Anlauf: Elf weitere Remixe weiterer Stücke aus dem aktuellen Album und neue Versionen, darunter auch der Klassiker "Klang der Zukunft", lassen diese EP auf stolze 76 Minuten anschwillen. Vor allem "Nachtclub" könnte sich im EBM-lastigen Rework von Tension Control zu einem veritablen Tanzflächenknüller entwickeln, wenn die Düster-Clubs wieder ihre Pforten öffnen. Für Kontrast-Fans bietet diese EP im überlebensgroßen Format reichlich Abwechslung und bildet aber auch als reguläre Version einen stimmigen Nachschlag zum Album.
Über das zeitliche Ziel einer regulären EP hinausgeschossen ist auch "Fascination" von Gloria De Oliveira. Wobei wir es hier mit einer Zusammenführung zweier EPs zu tun haben. "La Rose De Fer" und "Levres De Sang", die De Oliveira im Eigenvertrieb vveröffentlichte, finden hier unter Hinzunahme einiger traumhaft schöner Remixe, unter anderem von Gudrun Gut und Box And The Twins, einen gemeinsamen Platz. Auch wenn es die Titel vermuten lassen, singt die deutsch-brasilianische Künstlerin in Englisch. Oder besser gesagt: Sie haucht zu nebulösen, mit viel Hall geknüpften Synthieteppichen ihre ätherisch anmutenden Texte, wobei ihr Organ aber nie wegbricht, sondern in ihrer Fragilität auch Stärke besitzt. Gerade "The Field Where I Died" wird jeden Coldwaver hellauf begeistern. Als Universalkünstlerin ist die 30-jährige eine interessante Persönlichkeit. Denn obgleich sie bereits in jungen Jahren mit der Musik in Berührung kam, hat sie sich vor allem als Hörspielsprecherin und Schauspielerin einen Namen gemacht (auch in der Megaproduktion "Babylon Berlin" ist sie als Tilly Brooks kurzzeitig zu sehen). "Fascination" beweist aber ganz deutlich, dass sie eine klare klangliche Vision hat: ultimativ mysteriös, einschmeichelnd elektronisch und vor allem bei "Ave Maris Stella" und im klerikalen "Angel Skin" mit deutlichen Hinwendung zur Transzendenz. De Oliveira gleitet gekonnt wie eine Elfe der Traurigkeit über die schummrigen Songs, die wie Albrecht Dürers Gemälde "Melencolia I" eine Absolutheit der Schwermut für sich proklamieren. "Fascination" ist als Titel sehr gut gewählt, denn die zehn Stücke (und auch die sieben Remixe) zaubern sich in einen ganz eigenen, faszinierenden Kosmos, dem man nur allzugerne auch betreten möchte.
Bei 6th Crowd muss sich der Autor dieser Zeilen ein bisschen schämen. Denn er hat sich selbst ertappt, wie er dieses Projekt automatisch einem männlichen Musiker zuschustern wollte. Doch ist es eine gewisse Dari Maksymowa gewesen, die sich diese fiebrigen Elektrotänze auf "Avoid The Void" ausgedacht hat. Dabei ist die Musikerin aus Kiew zunächst mit On The Wane, einer ansprechenden Post-Punk-Truppe unterwegs gewesen. Dass sie sich als 6th Crowd nun derart intensiv mit Soundstrukturen aus dem technoiden Bereich auseinandersetzt, haben wir einem altbekannten Deutschen zu verdanken: Thomas P. Heckmann. Sein Einfluss auf ihre Songs ist bei Stücken wie "Самозванцы (Samozvantsiy)" sehr deutlich herauszuhören. Hier fliegen einem die brodelnden Sequenzen nur so um die Ohren. Wiederkehrende Pattern werden nur durch Filterveränderungen moduliert und erhalten eine starke Trance-Wirkung, der man sich einfach nicht entziehen kann. Das gelingt übrigens auch, wenn die Bass Drum nicht im stoischen Viervierteltakt vor sich hinklopft. "The Day Is Over" und "You're Not An Island" zeigen sich bei aller vertrackten Rhythmik durchaus tanzflächenkompatibel. "Podil" zerfetzt ganz im Moderat-Stil erst einmal die Tieftöner der Heimanlage. Lange hat man nicht mehr so einen satten Bass gehört, der dann einer herumschwirrenden Alptraum-Melodie weichen muss. Zweifelsohne bringt 6th Crowd ihre EP zur Unzeit, denn "Avoid the Void" ist exquisites Clubfutter. Bleibt einem eben nichts anderes übrig, als die eigenen vier Wände zur Diskothek umzukrempeln. Wenn es sich einrichten lässt, muss diese Scheibe nach Grönemeyer-Art angehört: Musik nur, wenn sie laut ist.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 18.05.2020 | KONTAKT | WEITER: SIEBEN VS. ROBERT SCHROEDER>
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winfried-strauss.bandcamp.com
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www.gloriadeoliveira.com
6thcrowd.bandcamp.com
Covers © Novoton (It's For Us), Winfried Strauss, Danse Macabre (Kontrast), Reptile Music/Cargo Records (Gloria De Oliveira), 6th Crowd
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