CARLO ONDA "STURM+DRANG" VS. STRIDULUM "SOOTHING TALES OF ESCAPISM": EINFACH MAL RAUS! - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

Direkt zum Seiteninhalt

CARLO ONDA "STURM+DRANG" VS. STRIDULUM "SOOTHING TALES OF ESCAPISM": EINFACH MAL RAUS!

Kling & Klang > REVIEWS TONTRÄGER > O > CARLO ONDA
Es sind rührende Zeilen, die Carlo Onda für sein neuestes Album "Sturm+Drang" übrig hat. "Die Platte ist als kleine Feier gedacht. Als Feier der vergangenen drei bis vier Jahre. Ein Weitermachen und sich vorwärts und rückwärts bewegen. Aus Trotz und mit Neugier." In diesen Worten stecken Krisen. Vielleicht persönliche, vielleicht auch gesellschaftliche. Denn durch die Corona-Pandemie ist man vor allem im vergangenen Jahr zur Untätigkeit verdammt gewesen. Besonders Musikerinnen und Musiker haben diese schwere Zeit sicherlich intensiver als manch Angestellter erlebt.

Keine Auftrittsmöglichkeiten bedeuten auch kein in die Kassen gespültes Geld. Staatliche Unterstützung ließ zudem lange auf sich warten. Das hat sicherlich bei dem oder der einen oder anderen Kunstschaffenden existentielle Ängste ausgelöst. "Sturm+Drang" klingt daher auch wie ein bewusstes Ignorieren der gegenwärtigen Lage. In den Stücken des Schweizers wimmelt es von Anspielungen auf frühere, ergo aus jetziger Sicht: bessere, Zeiten. Sein minimal gehaltener Synthie-Sound stellt Haltung vor Perfektion und wirkt mit seiner teilweise rumpeligen Attitüde herrlich anachronistisch.

In der Einfachheit seiner Stücke kristallisiert sich die Komplexität menschlicher Gefühlswelten, bis hin zur sexuellen Begierde, heraus. Von stoisch pumpenden Beats vorangetrieben, versprühen die Songs so etwas wie eine umarmende Melancholie. Exemplarisch mag da das teils in Deutsch, teils in Englisch eingesungene "Doubt" stehen, bei dem 90er-Jahre-Eurobeat-Manierismen auf eine sonore, leicht verzerrte Stimme treffen und so der gesamten Atmosphäre des Stücks etwas Unausweichliches verleiht.

"Sturm+Drang" besticht durch eine ungefilterte Energie, gepaart mit einem schelmischen Blick. Wenn er im Eröffnungsstück "Darker Days" unter einem Proto-EBM-Sound (der ein Stück weit auch die Klangästhetik von Krupps zweitem Album "Volle Kraft voraus" aufgreift) singt: "I've seen darker days", eröffnet allein diese Sentenz viele Interpretationsmöglichkeiten - angefangen von der fast zynischen Betrachtung der momentanen globalen Lebenssituation bis hin zu einer Abrechnung mit der aktuellen Szene.

Wie man die Songs von Carlo Onda auch verstehen mag: Der Mann berührt einen mit seinen Sounds, die wie in "No Tear" zwar den elektronischen Pop der 80er Jahre zur Vorlage hat, darüber jedoch eine fast blickdichte schwarze Gaze hängt. Der Nostalgiefaktor bei Ondas Album ist also ein großer, und das ist auch gut so. Immerhin bietet die Gegenwart nicht viel Erfreuliches, sodass man sich mit seinem Album in eine Zeit zurückträumt, in der (scheinbar) alles ein bisschen einfacher war.

Für das polnische Projekt Stridulum steht die Flucht im Zentrum ihrer Betrachtungen. "Soothing Tales Of Escapism" nennen sie ihr erstes beachtliches Werk - ihre Geschichten handeln also von der Weltflucht und sollen "soothing", also beruhigend und schmerzlindernd sein. Angesichts Stridulums klanglicher Ausrichtung kann dies nicht unkommentiert stehengelassen werden.

Denn beruhigend sind die Stücke nur im ersten Moment. Musiker Arkadiy Berg hat einen lebendigen Coldwave voller Tiefe erschaffen, über dem sich die mächtige und volle Stimme von Marita Volodina erhebt. In Stücken wie "Collapse" oder "Glass" wird aber eine klangliche wie gesangliche Spannung generiert, hinter der sich eine unheimliche, eine düstere Kulisse entfaltet.

Wenn Stridulum Songs kreieren, bleiben diese gerne vage und assoziativ. Das fällt bereits bei den Titeln auf, die nur aus einem Wort bestehen. Ihre Inspiration verorten sie aber ganz klar - weniger im gesellschaftlichen Kontext als in ihrer Herkunft: "Retrofuturistic entity from hopeless carbon fields of Southern Poland", beschreiben sie ihre Musik auf ihrer Bandcamp-Seite. Der Kohleabbau und die damit verbundene Zerstörung der Natur bilden also die stärkste Treibfeder für ihre Kunst. Tatsächlich klingen die Stücke des Duos wie ein Gang über diese unwirtlichen Felder, in der es nicht mehr einen Hauch Leben zu geben scheint.

Bereits mit ihrem ersten musikalischen Lebenszeichen, der EP "Burial", haben sie in der Redaktion für lange Ohren gesorgt. Das war vor rund zwei Jahren. Mittlerweile hat sich viel im Bereich Produktion und Komposition erhebliches getan. "Soothing Tales Of Escapism" ist sauber aufgenommen worden, der Gegensatz zwischen mechanischem Sound und der intensiv menschlichen und seelenvollen Stimme Maritas gehören zum Aushängeschild dieses Duos, das sicherlich noch von sich reden machen wird.

Schließlich gelingt ihnen, wie Carlo Onda auch, ein Album, das uns ermöglicht, für einen Moment aus dem wenig erfreulichen Alltag auszubrechen und in die Lust des Tanzes und der melancholischen Verausgabung einzutauchen. Das macht zwar nichts besser, aber doch einiges erträglicher. "Eine kleine Feier" eben, bei der man sich um nichts kümmern oder über irgendetwas nachdenken muss, sondern einfach den Moment genießt. Dafür kann man Carlo Ondas und Stridulums Werke gar nicht zu hoch bewerten.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 04.02.22 | KONTAKT | WEITER: MESH "TOURING SKYWARD - A TOUR MOVIE">

Webseite:


Kurze Info in eigener Sache
Alle Texte werden Dir kostenfrei in einer leserfreundlichen Umgebung ohne blinkende Banner, alles blockierende Werbe-Popups oder gar unseriöse Speicherung Deiner persönlichen Daten zur Verfügung gestellt.
Wenn Dir unsere Arbeit gefällt und Du etwas für dieses kurzweilige Lesevergnügen zurückgeben möchtest, kannst Du Folgendes tun:
Druck' diesen Artikel aus, reich' ihn weiter - oder verbreite den Link zum Text ganz modern über das weltweite Netz.
Alleine können wir wenig verändern; gemeinsam jedoch sehr viel.
Wir bedanken uns für jede Unterstützung!
Unabhängige Medien sind nicht nur denkbar, sondern auch möglich.
Deine UNTER-TON Redaktion


POP-SHOPPING












Du möchtest diese CD (oder einen anderen Artikel Deiner Wahl) online bestellen? Über den oben stehenden Link kommst Du auf die Amazon.de-Seite - und wir erhalten über das Partner-Programm eine kleine Provision, mit der wir einen Bruchteil der laufenden Kosten für UNTER.TON decken können. Es kostet Dich keinen Cent extra - und ändert nichts an der Tatsache, dass wir ein unabhängiges Magazin sind, das für seine Inhalte und Meinungen keine finanziellen Zuwendungen von Dritten Personen bekommt. Mit Deiner aktiven Unterstützung leistest Du einen winzig kleinen, aber dennoch feinen Beitrag zum Erhalt dieser Seite - ganz einfach und nebenbei - für den wir natürlich außerordentlich dankbar sind.

COVER © COLD TRANSMISSION (CARLO ONDA), MANIC DEPRESSION RECORDS (STRIDULUM)

ANDERE ARTIKEL AUF UNTER.TON
ST. MICHAEL FRONT "END OF AHRIMAN"

Rechtlicher Hinweis: UNTER.TON setzt auf eine klare Schwarz-Weiß-Ästhetik. Deshalb wurden farbige Original-Bilder unserem Layout für diesen Artikel angepasst. Sämtliche Bildausschnitte, Rahmen und Montagen stammen aus eigener Hand und folgen dem grafischem Gesamtkonzept unseres Magazins.



                                                    © ||  UNTER.TON |  MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014. ||


Zurück zum Seiteninhalt