4/22: VHS DEATH, ACHT EIMER HÜHNERHERZEN, ROME IS NOT A TOWN, MFMB, STELLA DIANA - DIE MUSIK SPIELT WEITER - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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4/22: VHS DEATH, ACHT EIMER HÜHNERHERZEN, ROME IS NOT A TOWN, MFMB, STELLA DIANA - DIE MUSIK SPIELT WEITER

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2022
Es ist purer Zufall, aber die Londonerin Natalie Ward hat für diese wirren Zeiten die richtige Musik geschaffen. Denn als VHS Death hat sie ebenfalls etwas sehr Wirres ersonnen - und das ist absolut positiv gemeint. Im Grunde genommen bringt sie eine Stilart wieder zum Vorschein, die in den letzten Jahren eher ein Schattendasein geführt hat: Sampling. Die fünf Songs auf ihrer aktuellen EP "Corrupted Geisha" bestehen aus hauptsächlich nackten Rhythmusgerüsten, um die sie Versatzstücke aus verschiedenen Geräuschen und Gesprächen ransetzt. Der Collagenstil ihrer tönernen Kunstgebilde, die sich allen gängigen Songschemata verweigern, machen sie bisweilen surreal und auch verstörend. Wenn dann auch noch wie bei "Snakes In The Grass" bedrohliches Hammondorgelpfeifen und monoton vor sich hinschrammelnde Gitarren einsetzen, kippt die Szenerie gar ins Albtraumhafte und wird durch die gepitchten Stimmen fast so schauderlich wie ein ausgeführter Exorzismus. VHS Death experimentiert mit Elektronik und bezieht dabei okkulte Ideen mit ein. Am Ende steht da ein recht kurzes Musikvergnügen (nach einer Viertelstunde ist der ganze Spuk schon wieder vorbei), das aber auch kaum länger hätte sein dürfen, denn Natalie fordert einen über Gebühr und ihre anspruchsvollen Nachtmahr-Kompositionen zerren an den Nerven und machen einen unbehaglich. Doch muss Musik nicht auch einmal weh tun? Immerhin schafft es VHS Death mit ihrer EP "Corrupted  Geisha", im Gedächtnis zu bleiben, gerade weil sie so anders, so unbehaglich und so radikal in ihrer Klangästhetik ist. Eine starke Nummer.

Vielleicht ist es so, dass die Gleichstellung der Frau in der Musik bereits in der Punkzeit ihren Höhepunkt hatte. Zumindest entstanden damals - auch in der BRD - eine Menge geiler Frauenbands, beziehungsweise Combos mit Sängerinnen an der Front, die sich gerne auch mit speziffisch weiblichen Themen auseinandergesetzt haben. Einen Hauch davon finden wir bei einem Gespann mit dem vielleicht genialsten Namen der letzten 15 Jahre: Acht Eimer Hühnerherzen. Der Bandtitel klingt ziemlich Banane, aber das Trio aus Sängerin Apokalypse Vega, sowie ihren musikalischen Begleitern Bene Diktator und Herrn Bottrop besitzt durchaus ernstes Sendebewusstsein. Der Punk und das Dagegensein findet sich immer wieder und vor allem im plakativen "Straße der Gewalt", während Stücke wie "Sartre", "Zack Zack Zack", "Hautproblem" und "Patientenverfügung" auch kleine humoristische Momente enthalten. Die Songs der Acht Eimer Hühnerherzen leben aber zuförderst von der klaren Stimme Vegas, die jene Coolness und Aufgekratztheit einer Andrea Mothes von Nichts besitzt - eben Attribute, die man sich beispielsweise bei einer Judith Holofernes gewünscht hat, um ihre Band Wir Sind Helden damals auch nur ansatzweise geil finden zu können. Nun kann Acht Eimer Hühnerherzen mit ihrem dritten Album dieses Vakuum füllen.Lakonisch haben sie es "Musik" getauft, aber es beinhaltet so viel mehr als nur das. Es ist ein in Töne gefasstes Ausrufezeichen: Der Geist des Punk existiert immer noch und es gibt gottlob noch Sängerinnen, die sich in erster Linie über ihre Haltung definieren und nicht über Gelnägel oder aufwändige Schminkereien.

Die selbe Definition passt auch zum schwedischen Projekt Rome Is Not A Town. Wobei es diese vier Frauen aus Schweden vielleicht noch ein bisschen abgefuckter mögen und mit wenig Humor an die Sache rangehen als vorher besprochene Gruppe. Ihre Songs riechen nach bierbesudelter Post-Punk-Disse, das macht bereits die einleitende quietschende E-Gitarre vom Opener "Dresses" klar. Rome Is Not A Town verkörpert die fast vergessenen Tugenden der Riot Grrrls der 1990er Jahre. Immerhin haben sie einen sehr prominenten Fürsprecher, der große Erfolge gefeiert hat: Thurston Moore, Vorsteher von Sonic Youth, hat die Band über seine Tochter kennengelernt und ist seitdem schockverliebt in das Frauenquartett. Es ist aber auch ein leichtes, sich in Stücke wie "Follow Me Home" oder "Poison" zu verlieben. Schließlich finden sie mit ihren ungezügelten und explosiven Gemisch aus Punk, Post-Punk und Noise-Rock den richtigen Ton für eine Zeit, die komplett aus den Fugen geraten ist. Da klingt das quäkende Saxofon beim abschließenden "Be A Good Kid" wie eine Rückbesinnung auf eine Zeit, in der die Welt bereits schon mal am Abgrund stand. Mit dem einen Unterschied, dass der damals Kalte Krieg heutzutage heiß geworden ist. Rome Is Not A Town kann natürlich nichts dafür, und es vielleicht auch ein bisschen gemein, sie im Kontext des Ukraine-Konflikts zu interpretieren. Aber leider haben sie ungewollt einen emotionalen Soundtrack für unsere Zeit geschaffen. In Zukunft werden die "Vier von der Punkstelle" aber weiterhin von sich Reden machen. Dafür besitzen ihre Songs eine zeitlose Eleganz, die über dieses bislang intensive Jahrzehnt Bestand haben wird.

Apropos Schweden: Geneigte Leser wissen, dass UNTER.TON nicht nur mit einem Auge auf die dort prosperierende Indie-Szene schielt, sondern jedes Mall basserstaunt ist ob der Fülle an guten und einfallsreichen Alben. Den nächste Kracher liefern uns MFMB mit "Sugar" ab, einem Quasi-Debütalbum. Denn die Band hat bereits als MF/MB anno 2013 "Colossus" eingespielt, dessen Titel beileibe nicht zu viel versprach: Zwei Drummer, dopelter Gesang und viel krachiger Alt-Rock. Dieser findet sich auch auf "Sugar" wieder, dessen Titel aber eher wie ein zynischer Kommentar klingt. Denn für MFMB war die Zeit zwischen "Colossus" und "Sugar" eben alles andere als süß. Nach vielen Gigs hatte die Band Auflösungserscheinungen. Das Line-Up war von einem Kommen und Gehen geprägt. Darüberhinaus befindet sich Sänger Vic in der Transition zu einer non-binären Identität. Alle diese Umstände sind in das Album eingeflossen, was es unglaublich sinnschwer macht. Der voranpreschende Titelsong ist gleichzeitig Blaupause für die weiteren Themen: "Sugar" ist von einem düsteren Existenzialismus durchzogen, und die Verlockung des geringsten Widerstands ist der größte Feind, denn bekanntermaßen trügt dieser Schein. Unter diesem Aspekt mäandern die Stücke zwischen düsterer Angst ("Harvest") und fast schon dekadenter Glam-Stimmung ("Hippy Shake (To Earn Your Love)"). Aber so intensiv und laut wie "Six-figure Income" einem Song über das Raubtier Kapitalismus, hat man MFMB noch nie gehört. Die Band hat diskutiert, ob sie diesen Song überhaupt auf "Sugar" draufpacken sollten. Gott sei Dank haben sie es getan, denn es rundet ein ohnehin perfektes Album genial ab.

In diesem Jahr wird wohl der Eskapismus seine große Renaissance erleben. Die Flucht aus der allzu harschen Realität gelingt sicherlich mit Stella Diana und ihrem so treffend betitelten Werk "Nothing To Expect". Erwarten se nix, aber staunen se Bauklötze. Denn die Band aus Neapel verdingt sich in einen sehr ätherischen Post-Punk mit psychedelischem Hippie-Einschlag, der auf sich selbst zurückgeworfen ist und gleichsam wohlig und melancholisch daherkommt - so wie bei "A New Hope", einem Stück, das natürlich nicht so gedacht war, aber in seinem Titel und der musikalischen Umsetzung so etwas wie den Wunsch nach Frieden und seelischem Ausgleich herbeisehnt. Insgesamt lassen sich die Songs von Stella Diana in sehr entspannten Tempo ansiedeln. Einige Ausnahmen wie das forsch daherkommende "Beleth" bilden da eher die Ausnahme. Wobei auch dieses Stück zwar durch eine nervöse Rhythmussektion und schrammelige Shoegaze-Gitarren besticht, aber durch die verhallte Atmosphäre kaum Aufbegehren anzeigt, sondern eher wie eine nach innen gekehrte Wut wirkt. "Nothing To Expect" bleibt in seiner gesamten Ästhetik ein Mitternachtswerk. Wie ein Spaziergang durch verlassene Straßen einer Großstadt, die in dichtem Nebel eingetaucht ist und die Lichter der Laternen diffus machen, wabert diie Platte scheinbar ziellos durch die Gehörgänge. Ein Ziel verfolgt es jedoch: die Hörerschaft in einen schwebenden Zustand zu versetzen, in dem sich Zeit und Raum aufzulösen scheinen. Und wenn die letzten Riffs vom Closer "Marianne" verklunge sind, ist die Versuchung groß, erneut die Play-Taste zu drücken, auf dass dieser rauschhafte Zustand nie enden möge und die Realität für immer verbanne.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 15.03.22 | KONTAKT | WEITER: THE SEARCH VS. PRINCIPE VALIENTE>

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