"ELECTRICAL LANGUAGE-INDEPENDENT BRITISH SYNTH-POP 78-84": ALS POP-MUSIK SICH SELBST ENTDECKTE
Der Synthesizer ist heutztage aus den modernen Musikproduktionen nicht mehr wegzudenken. Ob nun als analoges Instrument oder als digitalisierte Version auf dem Rechner: Kaum eine Pop-Produktion möchte auf den Klang (und mittlerweile auch auf die technische Einfachheit) der elektronischen Apparate verzichten. Doch der Weg aus der Avantgarde-Ecke zum Mainstream dauerte einige Zeit. Wie jede Innovation zunächst müde belächelt oder gar vehement angefeindet wurde, durften auch die Pioniere elektronischer Klangerzeugung während der Nachkriegszeit sich damit begnügen, einen ähnlichen verqueren Status wie beispielsweise Free-Jazzer zu genießen.
Es war aber auch zu sonderbar. Viele dieser Künstler wirkten gar nicht wie Komponisten. Eher wie Alchemisten oder Physiker. Schließlich kamen die ersten undefinierbaren Klängen aus Rausch- und Ringmodulatoren, die durch verschiedene Filter gejagt worden sind. Frühe primitive elektronische Instrumente wie Theremin, Trautonium oder Melochord ließen aber schon erahnen, dass die nächste Stufe der Kompositions-Evolution erklommen wird.
Doch bis aus den schrankgroßen Modularsythesizern die kleinen, handlichen und auch erschwinglichen "Brotkästen" wurden (allen voran dem Mini-Moog gelang eine schnelle Verbreitung), sollte noch einige Zeit vergehen - und es dauerte noch mal ein paar Jahre, bis die synthetische Klangerzeugung sich zum Massenphänomen mauserte. Dass "Electrical Language" nun ausgerechnet 1978 als Startpunkt ihrer musikalischen Dokumentation definiert, kommt nicht von ungefähr. Es war das Jahr eins nach der großen Punk-Explosion, die kaum einen Stein auf den anderen ließ. In dieser Zeit fingen viele Musiker, aber auch Nichtmusiker, damit an, sich einen kleinen Synthesizer zu kaufen und ihm ein paar Töne zu entlocken. Und dann war da auch noch Kraftwerks "Die Mensch Maschine" - ein Album, das wegweisend für den elektronisch generierten Pop sein sollte und mit "Neonlicht" oder "Das Model" zwei Songs mit Max-Mustermann-Charakter für die späteren New Romantics besaß.
Ausführlich hat das Label bereits die Ursuppe aus skurrilen Elektronik-Miniaturen in ihren früheren Samplern und nach geografischen Gesichtspunkten dargestellt: "To The Noise Floor" betrachtete den britischen Werdegang des Synthesizers in der alternativen Szene, "Noise Reduction System" blickte auf den Rest von Europa, und "Third Noise Principle" wagte den Sprung über den großen Teich. Der Zeit der einfachen "Geräusche" ist vorbei; elektronische Musik fängt an, eine "Sprache" zu entwickeln - "Electrical Language" eben. Wo zunächst noch das kindliche Vergnügen an ungehörten Sounds dominierte, schafften sich spätere Musiker schon einiges mehr drauf und orientierten sich auch an gängige Pop-Schemata, um sie bisweilen auch zu karikieren.
Das Selbstverständnis jedoch war oftmals, sich als avantgarde zu verstehen. OMD zum Beispiel mochte zunächst nicht in ihre Köpfe gehen, dass man ihre Stücke als poppig bezeichnet hat. Sie selber haben sich in ihren Anfangstagen als unglaublich "independent" angesehen. Doch das beigesteuerte "Red Frame/White Light" von 1980 weist ihren ausgeprägten Sinn für Melodien aus. Auch The Human League konnten, trotz ihres anfangs noch latent sinistren Klanges (hier durch das wunderbare "Circus Of Death" vertreten), den Wunsch nach Eingängigkeit nicht leugnen.
Dass es übrigens The Normals "Warm Leatherette" und Fad Gadgets "Rickys Hand" auch in dieses Kompendium geschafft haben, obgleich diese beiden Stücken schon ziemlich durchgenudelt sind - geschenkt. Im Gegenzug beherbergt die Zusammenstellung dafür eine vergessene Perle aus Daniel Millers frühen Produzententagen: "Stay With Me Tonight" von Alex Fergusson erinnert in seiner ganzen kompositorischen Handschrift und im spröden Klang an eine andere Band aus Bristol, die Miller nur kurze Zeit später auf seinem Mute-Label und nur per Handschlag unter Vertrag nehmen würde.
Der discoide, gleichzeitig aber auch kühle Sound aus der Depeche-Mode-Frühphase mit seinem Melodien-Vorarbeiter Vince Clarke bildet nicht selten die Blaupause für viele Stücke auf "Electrical Language". "Baby Won't Phone" von Quadroscope ist so ein Paradebeispiel dafür, wie sehr sich die elektronische Musik den ihr innewohnenden Pop-Appeal nach außen kehren will. Dennoch haftet den Stücken immer noch ein experimenteller Charakter an. So wandelt Plays "You Don't Look The Same" zwischen den Polen populärer Noblesse und bewusst unperfekter Technik hin und her.
Manchmal lassen die Stücke aber keinen Zweifel mehr an ihrer Mainstream-Qualität. Um so erstaunlicher ist es daher, dass "Our Little Girl" von David Harrow oder "I'm Your Man" von Blue Zoo nie zu höheren Weihen vorgestoßen sind. Denn beide Nummern sind geradezu prototypisch für den einzigartigen Klang der 80er: funkige Gitarren, treibende, leicht nervöse Rhythmen, ein eingestreutes Saxofon und so weiter.
Der unbedingte Wille zum Pop nimmt dann besonders groteske Züge an, wenn man sich an Standards aus dem Kanon moderner Unterhaltungsmusik versucht. Ob nun zitatweise bei "Good Times" von Drinking Electricity, der den Lollipop-Evergreen "The Loco-Motion" textlich geschickt eingebaut hat, oder als schelmische Coverversion, von denen es auf "Electrical language" gleich mehrere zu hören gibt. The Fast Set, deren Veröffentlichungen die ersten auf einem gewissen 4AD-Label waren, zogen "The Children Of The Revolution" von T.Rex bis auf das Rhythmus-Gerippe aus. Ein stoischer Keyboard-Beat mit scheppernden Snares trägt die körnigen Bassläufe und verwaschenen Melodien, über die David Knight mit somambuler Gleichgültigkeit die "Revolution" in einen passiven Fatalismus umdeutet. Ähnlich verspult klingt "Paint It Black" von einer Band mit dem sinnigen Namen Techno-Pop. Sie modeln das Lied in eine Musical-Nummer im Rocky-Horror-Picture-Show-Stil um und schaffen es, den Klassiker völlig für sich zu vereinnahmen.
Den Abschluss der Compilation bildet übrigens eine weitere Coverversion, die nur unter Einfluss von viel Glühwein entstanden sein konnte. "Happy Xmas (War Is Over)" der Hybrid Kids macht den Friedenssong von John Lennon und Yoko Ono zu einer völlig überdrehten Tanz-Nummer inklusive hochgepitchter Stimmen - ganz so, als hätte Vader Abraham mit seinen Schlümpfen schlechtes Zeug geraucht und dann das Musikstudio gekapert.
So Banane auch "Happy Xmas (War Is Over)" sein mag: Dieser Song dampft die komplette Anfangszeit der elektronischen Pop-Musik, die zwischen ironischer Unbeschwertheit, punkigem Freigeisttum und einer zunehmenden klanglichen Dekadenz aus dem vollen Schöpfen konnte, auf seine Quintessenz ein. Folgerichtig schaffte der Synthesizer, dass Pop sich in seiner Künstlichkeit selbst entdeckt hat. Das führte in letzter Konsequenz dazu, dass die Chartstürmer nie wieder so frisch und vielfältig klingen sollten wie in den frühen 80ern. "Electrical Language" komplettiert nun mit ihren teilweise vergessenen Nummern das Bild einer Zeit, die für Musiker wohl das gewesen ist, was Spandau Ballet in einem ihrer vielen Hits gesungen hat: "Gold!"
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 03.06.19 | KONTAKT | WEITER: NOSEHOLES VS: BUNTSPECHT>
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