6/23: HANGING FREUD, THE LIVELONG JUNE, VOGON POETRY, ACUD, MARTIN DUPONT - TOUR D'OBSKUR
Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2023
Normalerweise versucht UNTER.TON am Puls der Zeit zu bleiben und aktuelle Veröffentlichungen zeitnah zu präsentieren. Bei Hanging Freud müssen wir eine Ausnahme machen. Denn tatsächlich ist diese Band schon seit mehr als zehn Jahren unterwegs, "Persona Normal" - bereits im Mai 2021 veröffentlicht - ihr mittlerweile sechstes Album. Ein absolutes Unding, denn das aus Glasgow stammende Duo bringt mit ihrem suppigen Dark-Wave, den sie mit verstimmten Synthesizerflächen kreieren, eine trüb-nebelige Stimmung hervor, in der sich das Individuum verloren in seiner Existenz wiederfindet. Der erste Song "Too Human" ist rein vom Titel her blanker Zynismus, denn allzu menschlich ist an diesem Sound nicht mehr viel. Sängerin und Musikerin Paula Borges trägt ihre Texte mit einem Timbre vor, das irgendwo zwischen "Leck mich am Arsch" und Siouxsie Sioux angesiedelt ist, während Jonathan Skinner breite Flächen und wabernde Sequenzen übereinanderschichtet und die Songs auf diese Weise derart breitwandig macht, dass man sich wie von einer musikalischen Dampfwalze überrollt fühlt ("Puzzles" empfieht sich da als Hörbeispiel). Der Einfachheit halber lässt sich das, was Hanging Freud machen, als Dark Wave bezeichnen, doch der künstlerische Anspruch der beiden Musiker verbittet eine all zu gängige Interpretation. Denn ein Stück wie "Look" würde sich besser bei einer Vernissage trister Bilder machen als auf der Tanzfläche. "Persona Normal" ist erst spät in die Redaktion geflattert, erfreut sich aber sehr schnell großer Beliebtheit. Das Album verdient viel mehr Bewunderung. Darum: Portemonnaie gezückt und "Persona Normal" in die (virtuelle) Albumsammlung hinzufügen.
Das Prädikat "sträflich unterbewertet" trifft für The Livelong June aus Schweden in vollem Umfang zu. Seit rund acht Jahren geht das Projekt den Weg des größten Widerstands, indem es elektronischen Pop mit jeder Menge Schmutz und Kanten produziert. Die anarchische Attitüde ihrer Kompositionen ist deutlich Punk, der Sound wagt sich an die ungebundenen Elektronikpioniere der frühen 80er, die glasklare Produktion jedoch lässt keinen Zweifel, dass The Livelong June ein Kind des 21. Jahrhunderts ist. Aufgrund der markanten Stimme von Benny Gustavsson kommt einem ständig eine elektronische Version von Placebo in die Überlegungen zur Beschreibung des Sounds von The Livelong June ins Hirn. Bei Stücken wie "Betrayal" oder "Escapism" sind die Parallelen besonders frappant - man denke sich einfach nur die ganze Elektronik weg und füge ein paar krachige Gitarren dazu. Apropos "Escapism": Der Titel passt wie Hinterteil auf Kübel, um die Grundatmosphäre vom aktuellen Album "Self Oppressor" zu charakterisieren. Ihr Sound ist Klang gewordene Flucht aus dem Alltag, wobei sich Stücke wie "Self Oppressor", "Not So Good At Being Me" und "I Am Destruction" insbesondere textlich wohltuend von den üblichen Thematiken, die sonst in Pop-Songs verhandelt werden, abhebt. Ihr aktuelles Album verfeinert die klangliche Vision des Duos, sodass die Songs den schwierigen Balanceakt zwischen massenkompatibler Eingängigkeit und subkulturellem Anspruch sehr gut und scheinbar mühelos meistern. Bleibt nur zu hoffen, dass The Livelong June weiter an Fans und Zuhörer gewinnt. Sie haben es verdammt noch einmal verdient!
Und noch einmal Schweden, die ja in Sachen elektronische Musik sowieso in ganz eigenen Sphären mäandern. Stehen The Livelong June eher für einen herausfordernden Synth-Pop, sind Vogon Poetry, ihr Name deutet es ja bereits an, an Science-Fiction-Themen interessiert, die sie in hochenergetischen, eingängigen Electro packen. Damit stehen sie in direkter Nachfolge zu ihren Landsleuten S.P.O.C.K., die sich ebenfalls an den Themen aus dem "Star Trek"-Universum abarbeiteten. Doch bei Vogon Poetry steht auch immer der Spaß im Vordergrund, was sie bereits mit dem 2018er Album "Life, The Universe And Everything" deutlich machten (allein für diesen Titel gebührt ihnen ein Humor-Fleißsternchen). Auf "The Guide" nun geht es nicht weniger augenzwinkernd zu. Bereits das atmosphärische Intro wird durch den Titel "Rocinante" gebrochen. Dieser geht auf den gleichnamigen Klappergaul zurück, mit dem Don Quijote seine Abenteuer erlebt. "Atomic Skies" indes wird jeden Commodore-64-Fan in Verzückung geraten lassen. Die markane Melodie könnte aus einem der legendären Weltraum-Spiele stammen. Der großzügige Einsatz von Samples, sowohl bei "Rocinate" als auch bei "Visitors" verleihen den Stücken einen Hauch Anachronismus. Schließlich spielen sie mit einem Stilmittel, das in den 1980ern ihren Anfang genommen hat und heutzutage als selbstverständlich gilt. Wie sehr Vogon Poetry das Sci-Fi-Leben verehrt, zeigt sich nicht zuletzt bei "Gargle Blaster", einer liebevollen Verbeugung vor dem angeblich besten Cocktail seit Menschengedenken ever, glaubt man "Per Anhalter durch die Galaxis". "The Guide" kann man wörtlich als kurzweiligen, launigen Führer durch extrem anschmiegsam produzierten Synth-Pop mit Weltraumkante verstehen.
Auch Lasse Winkler kann lustig elektronisch. Unter seinem Moniker Acud vermengt er knarzigen Großstadt-Techno mit feingeistigem Humor. Kleines Beispiel gefällig: Während in "Orthopäde" ausgeleierte Pads und knorrig angezupfte Synthie-Bässe eine verschrobene Atmosphäre erschaffen, singt Lasse: "Der Orthopäde hat gesagt, Barfuß laufen ist gesund. Ich trinke ein Helles auf Ex, und mach mich dann auf den Weg." Diese kleine verbindliche Handreichung veranschaulicht den Tenor von "Verdammt nochmal" recht plakativ. Das ganze Album ist ein einzig großes Augenzwinkern unter smoothen Clubbeats. Textlich so vage und schwer greifbar wie Peterlicht in seinen Anfangstagen (wir erinnern uns: "Sonnendeck"), gibt Acud aber auch den Melodien sehr viel Raum - vor allem wenn sie wie bei "Unter Bäumen" die gesamte Komposition auch ohne Lasses Texte tragen. Aber natürlich sind die assoziativ gehaltenen Poeme das Sahnehäubchen, welches die Stücke veredeln. Wenn in "Supermarkt" (das musikalisch fatal an "Blue Monday" von New Order erinnert) sich ein guter Tag über den Einkauf von Zitronen und Quark definiert oder in "Schnabelgaul" eine in Dada-Manier gehaltene Systemkritik zum Besten gegeben wird, merkt man Acud an, dass sie noch vom alten Techno-Geist zehren, der auch immer Punk und Nonkonformismus propagierte. Lasse Winkler, der sich zur letzten Generation dieser Ära zählt, die in Berlin noch illegale Rave-Parties organisiert hatte, packt in "Verdammt nochmal" das längst verloren gegangene Gefühl von absoluter künstlerischer und musischer Freiheit in zehn swingende und groovende Club-Tracks, die den Dancefloor zum Diskurs-Parkett avancieren lässt.
Als New Wave in England groß wurde, hat Resteuropa natürlich unvermittelt mit der Übernahme dieses Trends begonnen. Doch jedes Land brachte ihre eigene Pophistorie in die Interpretation dieser Bewegung ein und hatte auch ihre (unbesungenen) Helden. In Frankreich stehen vor allem Martin Dupont (trotz des Namens tatsächlich eine mehrköpfige Gruppe) an der Front avantgardistischer und experimentierfreudiger Musikerinnen und Musiker. Zwischen 1982 und 1987 prägten sie in ihrem Heimatland die Klangästhetik der hiesigen Subkultur, Berührungen zu anderen Länder erfolgte eher sporadisch. Die Liste an Bands und Musizierende aber, die sich am dupont'schen Kanon bedienen, ist beachtlich. Unter anderem Madlib, Tricky und der leider ziemlich abgedrehte Kanye West sampleten in den 2010ern einige Songs für ihre eigenen Werke. Um die Faszination von Martin Dupont zu verstehen, muss man aber nicht den ganzen Backkatalog durchforsten, sondern einfach die neue Platte "Kintsugi" hören. Denn hier verdichtet sich das komplette Können der Musiker um Sänger Alain Seghir aus Marseille, die man aufgrund der mysteriösen Aura ihrer Songs gerne mal mit New Order verglichen hat. So richtig passt das aber nicht, denn der Duktus von Martin Dupont ist ein anspruchsvollerer. Allein der Einsatz von klassischem Instrumentarium wie Klarinette in die, in eine elektronische Surrealität abdriftenden, Stücke ist bemerkenswert. Eher wäre ein Vergleich mit Blancmange sinnvoll. Stücke wie das unverschämt eingängige "Love On My Side", die Post-Punk-Fingerübung "Top Of The Pyramids" (Siouxsie & The Banshees lassen grüßen) oder "Nice Boy" bleiben in Erinnerung und belegen die bestehende revolutionäre Kraft dieser Musik.
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© || UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014. |