4/18: SELTSAME ZUSTÄNDE, FATHER MURPHY, ROBERT GÖRL, TRISOMIE 21: DER EWIGE KREISLAUF
Am Ende dreht es sich immer ums Ende. Alles Existierende birgt dessen Verfall bereits in sich. Das ist zwar kein schöner Gedanke, verleiht aber den folgenden Tondokumenten eine besondere Spannung.
Die trauige Nachricht konnten Fans von Escape With Romeo bereits im Herbst vergangenen Jahres via Internet verehmen. Die Band hat ihren Abschied bekannt gegeben und tourt 2018 ein letztes Mal durch die Lande. Damit löst sich einen Gruppe auf, die maßgeblich das deutsche Verständnis von Gitarren-Wave in den 1990ern geprägt hat und sich mit "Somebody" dauerhaft in die Gothic-Annalen einschreiben sollte. Frontmann Thomas Elbern besitzt ein Gespür für das große Moment in den kleinen Melodien, wovon zuvor bereits Pink Turns Blue profitiert hat. Doch wie abgewichst dieser Poet - man sollte ihn ruhig so nennen - bereits in jungen Jahren war, zeigt das jetzt wieder veröffentlichte, selbstbetitelte Album seiner ersten Band Seltsame Zustände. Im Post-NDW-Jahr 1984 veröffentlicht, holt das Dreiergespann (Mitmusiker Karl Hamacher und Silvio Franolic sollten auch bei EWR eine nicht unbedeutende Rolle spielen) die deutsche Sprache aus der tumben Schlagerblase zurück in die Diskursfähigkeit (lange bevor es Tocotronic, Die Sterne, Blumfeld und so weiter gab). Das machen Seltsame Zustände bereits mit ihrem Kleinod der Glückseligkeit "Die große Chance" deutlich. Schneidiger Rhythmus, lässig gespielte Gitarren und Elberns alertes, entfernt an Stephan Eicher (Grauzone) erinnerndes Organ wenden sich ab vom unsäglichen Kaugummi-Pop mit Schlagerkante. Stattdessen wird "Fußball" zu einer existenzialistischen Betrachtung des Deutschen Lieblingssports, während "Signale" dezent den Zeitgeist des Kalten Krieges mit einer UFO-Story verwebt. History repeating: Man wird das Gefühl nicht los, dass wir es hier mit einer aktuellen Veröffentlichung zu tun haben. Das verdanken wir wohl auch dem Umstand, dass die weltpolitische Lage, wenngleich nicht derart angespannt wie '84, zumindest ähnlich besorgniserregend ist. Dem treuen wiewohl jetzt auch niedergeschlagenen Fan wird diese Veröffentlichung ein kleines Trostpflaster, dem Musikliebhaber aber ein großes Geschenk sein.
Beweinen werden wir auch Father Murphys Abgang. Doch bevor dies geschieht, tut es das italienische Folk-Kunstprojekt mit "Rising: A Requiem For Father Murphy" erst einmal selbst. Und wie bereits bei den Alben und EPs zuvor, spielt Religion und die christliche Prägung unseres Verständnisses von Jenseits und Ableben eine wichtige Rolle. Doch wie die martialischen Trommelschläge von "Introit" vermuten lassen, gelangt bei Father Murphy die katholische Glaubenslehre zu einer Urwüchsigkeit zurück, die sich auch von heidnischen Elementen inspirieren ließ und nicht mehr viel mit dem überbordenden Popanz verschiedener Kathedralen zu tun hat. Freddie Murphy und Chiara Lee mäandern auf eigenen Wegen fernab vom gotischen Klischeedenken und zeigen so die wahre Ästhetik der Vergänglichkeit auf. Die Aufnahmen wirken körnig, beinhalten beklemmende, undefinierbare Hörspielparts wie bei "In Paradisum", während Murphy und Lee mit sakral eingefärbten, langgezogenen Wörtern, den gregorianischen Gesängen nicht unähnlich, eine weihevoll-moribunde Atmosphäre erzeugen. Das Turiner Zweigespann geht damit einen bewussten Schritt, denn ihr Projekt war nie auf Ewigkeit hin konzipiert. Der Lebensweg von "Father Murphy", im Grunde genommen eine tönerne Auseinandersetzung mit dem Christentum, muss natürlich auch einmal enden. Einzige Frage: Wann? Immerhin zwölf Jahre lang wurde Murphys Leben erzählt, respektive besungen. Doch nun lassen bleischwere Mollakkorde, eiernd vorgetragen von modulierten Synthesizern und Streichern, keinen Zweifel mehr am Ableben des "Vaters" aufkommen. Dabei tauchen sie in "Agnus Dei" in tiefe klangliche Katakomben hinab, um gleich darauf mit dem choralen "Communion" ein weitaus sanfteres Bild zu zeichnen. Es ist das vielleicht intensivste Werk von Father Murphy, der unabdingbare Schwanengesang mit festem Blick auf das unausweichliche Ende seines Seins. Selten gelingt eine derart intensive und unkonventinelle Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit, wie in diesem tongewaltigen, von einer eigentümlichen Grandezza durchzogenen Requiem.
In welcher aufwühlenden Stimmung sich Robert Görl, legendärer Schlagzeuger der Deutsch Amerikanischen Freundschaft, beim endgültigen Bruch mit seinem langjährigen Weggefährten Gabi Delgado befunden haben muss, lässt sich anhand seiner jetzt veröffentlichten "The Paris Tapes" sehr gut erahnen. Es ist eine strenge Zäsur gewesen, die der eher erfolgsverwöhnte Musiker Mitte der 1980er erfahren hat. Bereits während den Aufnahmen zum größten Flop der Bandgeschichte, namentlich "1st Step To Heaven", hat es Dissonanzen gegeben, die schließlich zum Ende einer der wegweisendsten Bands geführt haben. Doch auch privat durchlebt Görl eine unstete Zeit. Zunächst in Amerika gelandet und mit einem Schauspielstudium begonnen, musste er das Land aufgrund nicht eingehaltener Aufenthaltsbestimmung schnell wieder verlassen. In Deutschland wiederum hatte er mit dem Problem zu kämpfen, für den Wehrdienst einberufen zu werden. In einer buchstäblichen Nacht- und Nebelaktion ist er schließlich mit dem Zug nach Paris gefahren, um dem Dienst an der Waffe zu entkommen. Quasi mittellos in der Metropole gestrandet, konnte er ein billiges Apartment in einem Vorort beziehen, wo er mit dem damals recht modernen Synthesizer ESQ-1 an neuen Stücken bastelte. Herausgekommen sind zehn Miniaturen, ohne sinnstiftende Namen, einfach nur in zehn "Parts" unterteilt. Vorbei der musikelbepackte, testosterongeschwängerte Maschinensound, den Görl präzise mit schweißnassen Trommelspiel unterfüttert. Stattdessen finden sich nun bewusst unvollendete, vom spärllichen Rhythmusprogramm begleitete Tongebilde, die nicht mehr den Macho-Musiker in Ledermontur, sondern einen introvertierten, verletzlichen und verletzten Künstler darstellen, der sich neu orientieren möchte. Seine Melodien wirken teilweise wie der Versuch, sich dem Disco-Pop anzunähern, wobei ihm die Einsamkeit und das Wissen um das Ende von DAF immer wieder in die Quere kommen und ihn melancholisch werden lassen. Knapp ein halbes Jahr hat er in Frankreich verbracht; die Klangskizzen sollten das Fundament für ein neues Solo-Album werden. Doch dann kam der Verkehrsunfall, und Robert verlor nicht nur fast sein Leben, sondern auch die Lust am Musizieren. Nach über 30 Jahren gewährt der Künstler mit seinen "The Paris Tapes" einen tiefen Einblick in die vielleicht schwerste Zeit seines Lebens.
Ob Robert Görl während seines Parisaufenthaltes auch mal etwas von Trisomie 21 gehört hat? Möglich wäre es, denn Mitte er 80er begann der schwarze Stern der Gebrüder Lomprez zu steigen. Sänger Philippe und Musiker Hervé wurden mit ihrem, teils von elektronischen Experimenten unterfütterten, Cold-Wave zum französischen Aushängeschild der dortigen Szene und haben nachhaltig die "Grande Nation" beeinflusst. Doch auch ihre Geschichte ist von einigen Rückschlägen gekennzeichnet. Besonders in den 1990ern mochte den beiden nicht mehr viel gelingen, so dass eine Zeit lang sogar überhaupt nichts mehr von ihnen zu hören war. Trisomie 21 schienen also auch Geschichte zu werden. Doch 2004 kam ein erstes Lebenszeichen in Form einer Remix-Platte namens "The Man Is A Mix", gefolgt von "Happy Mystery Child" und dem fünf Jahre später erscheinenden "Black Label". Dann mussten aber noch mal weitere neun Jahre ins Land ziehen, bis mit "Elegance Never Dies" die perfekte Wieder-Wiederauferstehung vollzogen werden sollte. Denn endlich schwebt die Band über ihre eigene Geschichte, was die Songs herrlich uneitel und tiefenentspannt wirken lässt. Da darf es bei "Something Else" auch derart pop-psychedelisch zugehen, wie man es sonst von den Simple Minds her kennt, und "Tender Now" baut ganz allein auf die Redundanz synthetischer Beats und Melodien, was der Nummer eine geradezu hypnotsche Tiefe verleiht. Auch Shoegaze-Anleihen manifestieren sich mit der Selbstsicherheit einer Band, die bereits vier Dekaden durchlebt hat, im schwelgerischen Stück "Alice". "Elegance Never Dies" ist ein Statement, das Trisomie 21 mit Leichtigkeit untermauern. Es mag vieles vergehen und großartige Karrieren ein jähes Ende nehmen - das Geschaffene jedoch überlebt. Und lässt uns im Fall von Hervé und Philippe Lomprez hoffen, dass es noch weiter gehen wird.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 10.04.2018 | KONTAKT | WEITER: IM GESPRÄCH - MARK ROBERTS (WE ARE TEMOPORARY)>
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Webseiten:
www.escape-with-romeo.de
bandcamp.fathermurphy.com
www.robert-goerl.de
www.trisomie21.tv
Covers © Reptile Music (Seltsame Zustände), Avant! Records (Father Murphy), Grönland Records/Rough Trade (Robert Görl), Chromo Music Productions/Broken Silence (Trisomie 21)
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