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NOYCE™ "LOVE ENDS": GROSSE HUMANISTEN

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Unter fulminanten Bläsern haben die Beatles einst "All you need is love" propagiert. Noyce™ drehen diesen Spieß jetzt um: "At the end when love ends, is the moment when life ends", beginnt das vierte Album des Düsseldorfer Vierergespanns unter zersetzter Elektronik, donnerndem Schlagwerk und synthetischen Streichern. Die von einer weiblichen Roboterstimme (sie wird im Laufe des Albums öfters noch zu hören sein) vorgetragenen Zeilen provozieren ein postnukleares Gefühl des Unbehagens. Es klingt wie die ernüchternde Folgerung des einstigen Banner der 68er-Generation. Alles was du zum Leben brauchst, ist Liebe. Wenn diese aber endet, endet auch das Leben.

Aber wir leben alle noch. Manche sind jedoch nachgerade verdammt dazu. Und sehen sich wie in "Heimat" einer ungewissen Zukunft, fern von ihrem einstigen Zuhause, ausgeliefert. Selbst die anschmiegsamen Sequenzen nehmen nur wenig Bitterkeit aus diesem Stück, das in Zeiten der globalen Flüchtlingsströme nicht nach Obergrenzen oder Verteilung der Gestrandeten auf die einzelnen Länder fragt. Es geht nicht um Flucht, sondern um Vertreibung. Das ist ein feiner Unterschied, den der Song aufzeigt. Denn die beiden Protagonisten darin blicken auf ihre Wurzeln zurück, "auf das, was einmal Heimat war" und werden sich bewusst: "Die heile Welt wird Nostalgie". Der Blickwinkel des Flüchtlings und seinen Gefühlen wird in den hitzigen Debatten oftmals außer Acht gelassen. Noyce™ verleihen ihm eine Stimme.

Wo zu wenig Heimat auf der einen Seite, da scheinbar zu viel auf der anderen. "Kaltland" reflektiert das verschwurbelte neue deutsche Nationalgefühl angesichts vermeintlich drohender Überfremdung. Auch hier vermeidet es das Ensemble, allgemeines AfD-Wähler-Bashing zu betreiben. Vielmehr seziert er diese neue Gesellschaftsschicht, die in den Internetforen und sozialen Medien ihre eigenen Wahrheiten verbreitet, die "Lügenpresse" verurteilt und auf den Pegida-Demonstrationen lauthals "Wir sind das Volk!" brüllt. "Verstehst Du nicht, dass die Parole einst für den Wunsch nach Freiheit stand?", fragt Florian und hofft dabei auf Einsicht.

Der Mensch steht im Vordergrund bei "Love Ends", stärker als je zuvor in der Bandgeschichte. Konsequenterweise haben sich Noyce™ dazu entschlossen, ihren Song "Mensch" aus ihrem Album "Coma" neu einzuspielen. "Mensch[en]" verweist einmal mehr auf die Fehler unserer Spezies, aber auch unseren Möglichkeiten, es in Zukunft besser zu machen. Das getragene Soundbett dazu verstärkt die Intensität des Schäfer'schen Wortes, das viel mehr gehört werden müsste. Im Gegensatz zur ersten Fassung wirkt das Stück nachdenklicher, introvertierter, wie ein Epilog auf die einstigen mahnenden Worte. Viel Zeit ist zwischen "Mensch" und "Mensch[en]" vergangen - gespickt mit traurigen Ereignissen.


Florian und seine geräuschvollen Kollegen zeigen sich als große Humanisten, die mit Sorge betrachten, was auf unserem Planeten vor sich geht. "Das Unglück der Welt geht von den Ungeliebten aus" verkündet die Roboterstimme einmal mehr in seltsam distanzierten Timbre in "Die Ungeliebten". Zuvor nennt sie verschiedene Jahrestage. Es sind jene, an denen sich terroristische Akte ereignet haben. "22.03.16" (Anschläge in Brüssel, 35 Menschen sterben), "23.10.02" (Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater mit 130 Toten), "11.03.09" (Amoklauf eines Schülers in der Albertville-Realschule in Winnenden, 15 Tote) und so weiter. Wie ein Koordinaten-Netzwerk des Schreckens breiten sich die Zahlen im Song aus; am Ende prangt das große "11.09.01" als immer noch präsentes Datum, das die Welt für immer verändern sollte.

"Love Ends" will bei aller Sicht auf die Schlechtigkeit der Welt vor allem eines: Liebe verbreiten. Auch wenn der Titel vordergründig das Gegenteil vermuten lässt. Die Band wendet sich mit ihren zwölf Songs an jeden fühlenden Hörer und ermutigt ihn dazu, selbst etwas beizutragen, um Hass und soziale Isolation einzudämmen. "Raise up your voice against the violence, create a better place" fordert Florian eindringlich in "Brave New World". Seine hoffnungsvollen Gedanken unterlegt er mit mollschwangeren Synthie-Klängen, die gleichzeitig zur Eile drängen. Viel Zeit bleibt nicht mehr, um die Welt zum Guten zu wenden. Denn was passiert, wenn man nicht die Stimme erhebt, lässt sich bei "The World Is Quiet" ableiten. "You feel the silence grow. Result of human error in the end".

Zum Schluss hat noch einmal die Roboterfrau das Wort. Der Sänger wendet sich zu ihr mit der Frage "Ist dies nun das Ende?". Ihre Replik: "Die Liebe endet...aber die Hoffnung bleibt." Die Ambivalenz aus dem zuversichtlichen Text, die von einer seelenlosen Maschine gesprochen wird, verdeutlicht noch einmal, wie sehr der Mensch sich von der Technik abhängig gemacht hat und auch sein Wohl und Wehe in einen unbeirrbaren Fortschrittsglauben steckt.

Dabei sollten wir unser Herz nicht den Smartphones oder Tablets, sondern den Menschen um uns herum, egal welcher Herkunft, schenken und ihnen mit Liebe entgegentreten. "Love Ends" will genau dies erreichen und versucht, die Welt ein Stück weit besser machen. Es braucht nicht viel für einen Anstupser: All you need is Noyce™.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 08.11.17 | KONTAKT | WEITER: A.R. & MACHINES "THE ART OF GERMAN PSYCHEDELIC 1970-74">

Webseite:
www.noycetm.de


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