ECKI STIEG: "JE TRENDIGER MAN HEUTE KLINGEN MÖCHTE, DESTO SCHNELLER WIRD DAS WERK ALTERN" - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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ECKI STIEG: "JE TRENDIGER MAN HEUTE KLINGEN MÖCHTE, DESTO SCHNELLER WIRD DAS WERK ALTERN"

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Gespräche mit Ecki Stieg sind von vornherein von sämtlichen Oberflächengefasel befreit. Der Mann lebt für die Musik. Und das sowohl als Journalist, als auch als Musiker. Mit "Hinterland" schafft er sein erstes Solo-Album, das die Kontemplation zum Stikprinzip entwickelt. Dementsprechend ist das zweite Aufeinadertreffen zwischen dem charismatischen Mann aus Reheren im Auetal und UNTER.TON einmal mehr von interessanten Ansichten geprägt, zum Beispiel, dass jedes "nein" ein "ja" in sich birgt und wie alte Beziehungen aus Radio-ffn-Zeiten immanent wichtig für die Realisierung von "Hinterland" gewesen sind.

Mit gerade mal 61 Jahren hast Du nun Dein erstes Solo-Album veröffentlicht. Hast Du Dir damit einen Lebenstraum erfüllt?
Das wäre etwas zu pathetisch ausgedrückt. Ich habe ja schon 1993, zusammen mit Marco Rosenkranz, Album "Ogrody" aufgenommen, zwei Jahre später dann mit Axel Machens das kurzlebige Projekt Accessoires ins Leben gerufen, was zum Album "Vendetta" führte. Von daher habe ich mich schon vor Jahrzehnten als Musikjournalist "auf die andere Seite des Zaunes" begeben. Eine in jedem Fall gute und heilsame Erfahrung. Vor allen Dingen in "Vendetta" hatte ich damals alles Herzblut nach einer zerschossenen Beziehung gegossen. Als die dann herauskam, hatte ich das Gefühl, meine intimsten Tagebücher veröffentlicht zu haben

Und wie haben die Menschen diese ersten musikalischen Gehversuche empfunden?
Aus dem Kollegenkreis bei radio ffn damals kam nach dem ersten Hören lediglich der lapidare Kommentar "ganz nett". Was als Kritik noch vernichtender ist als "was für ein Mist". Ab dem Zeitpunkt bin ich selbst mit der Beurteilung oder gar Verrissen der Werke anderen Künstler sehr viel vorsichtiger und respektvoller geworden.

Wann ging es mit "Hinterland" los?
Die Arbeit an "Hinterland" begann dabei eher zufällig. Die Initialzündung war 2020 die Bitte meines Freundes Erick Miotke, der, wie es der Zufall will, auch schon bei dem Accessoires-Album hinter den Reglern saß, das Stück "Digitizer" für ein Remix-Album seines Projekts Villaborghese zu bearbeiten. Da ich so etwas vorher noch nie gemacht habe, gab er mir einige einfache Tools und Tipps an die Hand, und aus dem Remix für sein Stück wurde eher ein Rework: Ich habe die einzelnen Bestandteile des Originals allesamt manipuliert, bearbeitet und völlig neu zusammengesetzt. Ich hatte also Blut geleckt. Der nächste eigenständige Versuch war dann das Stück "Shoreland", das wirklich sehr schnell innerhalb von nur zwei Tagen entstand. Das Stück ist im Original im Januar 2020 auf einer Compilation des Neotantra-Labels erschienen – ungefähr zeitgleich habe ich es meinem Freund George Kochbeck geschickt. Eigentlich nur zur Begutachtung. Ohne Aufforderung hat er das Stück editiert und mit einigen sensibel gesetzten Klängen veredelt. Zu meiner Zusammenarbeit mit George komme ich im Verlauf dieses Interviews noch ausführlicher,  aber nur so viel: Es war absolut perfekt und das fehlende Quantum Glück, das diesem Stück fehlte.  George hatte auch die Idee zu dem Video von "Shoreland 2", wie das Stück nun hieß, ebenso verfahren sind wir bei dem zweiten Stück "Path". Wer immer wissen möchte, wie groß der Einfluss von George auf diese Arbeiten ist, muss nur "Shoreland" und "Shoreland 2" vergleichen.  Ab diesem Zeitpunkt, also nach Vollendung des zweiten Stücks "Path" Ende März, reifte erst die Idee für ein komplettes Album, auch das Konzept, und dass das dritte Stück ein sehr episches sein sollte. Kurz nachdem ich die Arbeit für die "Hinterland-Suite" begonnen hatte, starb meine Mutter. Dies und die Tatsache, dass George 2021 anderweitig sehr eingespannt war, verzögerten die Arbeiten um fast ein Jahr. Da es für mich aber nicht wichtig ist, den "Zeitgeist" zu bedienen, war die Prämisse von Anbeginn "es ist fertig, wenn es fertig ist". Mich treibt ja niemand…

Du bist als Radiomoderator bekannt, Deine seit 2014 wieder stattfindende Sendung „Grenzwellen“ genießt weiterhin großes Ansehen. Wenn man von so viel Musik umgeben ist: Wie schwer fällt es da, eigene Musik zu machen? Schwirren da einem nicht auch immer das Gehörte im Kopf herum?
Danke für diese sehr gute Frage, denn sie umreißt tatsächlich ein Kernproblem, das aber im Grunde eher für zwei verschiedene Herangehensweisen steht. Es gibt Musiker, die saugen alles in sich auf, lassen sich davon inspirieren und lassen mit diesen eklektisch verarbeiteten Einflüssen etwas großes Neues entstehen. David Bowie wäre das Paradebeispiel. Andere hingegen versuchen bewusst, alles von außen möglichst auszublenden, um wirklich autark zu klingen. Ich glaube, Michael Rother hat mir mal in einem Interview gesagt, dass er so arbeitet. Mein leider verstorbener Freund Karl-Johannes Schindler sagte mir, dass er vor einer wirklich wichtigen Produktion drei Wochen gar keine Musik hört, um das eigenen Resultat nicht zu verfälschen.

Wie ist Dein Ansatz?
In der Tat stehe ich vor dem Luxusproblem, dass ich fast 24 Stunden am Tag Musik höre. So habe ich versucht, einen Mittelweg zwischen beiden Ansätze zu finden. Dabei hat mir geholfen, zunächst festzulegen, was ich nicht will. Meine Philosophie ist ohnehin, dass sich aus jedem "nein" ein neues "ja" ergibt.  Also war ein maßgeblicher Parameter, dass ich jedes "klingt so wie XY" so gut wie möglich vermeiden wollte. Dafür habe ich während der Produktion sogar einige Sounds und gute Ideen geopfert. Obwohl ich die Musik natürlich nicht neu erfinden kann, war mein Ansatz schon, Klänge zu kreieren, die noch relativ frei von gängigen Assoziationen sind und die man vor allen Dingen auch in ein paar Jahren noch hören kann. Wenn ich z.B. meine Produktionen, an denen ich bislang mitgewirkt habe, vergleiche, so kann ich mir das Accessoires-Album heute kaum noch anhören. Grund dafür ist, abgesehen von meinem Gesang, vor allen Dingen die Verwendung von einigen Sounds, wie das Panflöten-Sample, das damals schwer angesagt war, aber auch von anderen so exzessiv genutzt wurde, das man es heute nicht nur schwer ertragen kann, sondern die Produktion rückblickend auch zeitlich ziemlich exakt zuordnen kann. Bei "Ogrody" verhält es sich genau anders herum. Dieses Album hätte auch 2022 erscheinen können. Während "Vendetta" heute wie ein vergilbter Tagebuchausschnitt wirkt, ist "Ogrody" ein eher beständiges Gemälde, um mal den hochtrabenden Begriff "zeitlos" zu vermeiden. Je trendiger man heute klingen möchte, desto schneller wird das Werk altern.

Wie man dem Wikipedia Eintrag entnehmen kann, bezeichnet das "Hinterland" ein ländliches Gebiet, das einer größeren Stadt hintergelagert ist. Typisch sei eine einfachere Infrastruktur und eine dünne Besiedelung. Stand ein solch ländlicher, solitärer Ort, den Du vielleicht aufgesucht hast, Pate für das Album?
Nicht die schlechteste Assoziation. Das Wort schwirrte mir schon seit einiger Zeit im Kopf herum. Wichtig war mir, dass es ein deutsches Wort ist, das zudem in der englischen und französischen Sprache verstanden und auch verwendet und gesprochen wird. Mir ist es im englischsprachigen Kontext erstmals in "Red Sails" von David Bowie begegnet. Obwohl ich natürlich weiß, dass es Bücher und Filme mit diesem Titel gibt, ist es dennoch ein weitgehend unvorbelasteter, starker Begriff, der alle möglichen Assoziationen ermöglicht. Tatsächlich fühle ich mich hier auf dem Dorf, wo ich wohne, oft im "Hinterland" – im absolut positiven Sinne.


Das Album gleicht einem "chronologischen Triptychon". Es startet in den "Shorelands", über einen "Path" erreicht man das "Hinterland". Ist das Album tatsächlich so etwas wie eine akustische Wanderschaft?
Das kann man gerne so sehen. Es klingt wie ein billiges Musiker-Klischee, ist allerdings auch in diesem Fall wirklich so: Je freier und unabhängiger die Assoziationen jedes Hörers sind, desto besser. Die Titel sind allein ein Fingerzeig, wie ich die Atmosphäre der Stücke selbst beim Kreieren empfunden habe.

Die Stücke sind reine Instrumentals. Hattest Du auch daran gedacht, Texte zu den Songs beizusteuern?
Das ist eines der definitiven "neins", von denen ich weiter oben sprach. Durch die gemeinsamen Projekte mit George Kochbeck stehe ich mit Freude ab und an auch als Sänger auf der Bühne, aber das ist ein völlig anderer Pfad und eine andere Welt. Ich genieße es, beides tun zu können, aber für dieses Projekt war jeglicher Gesang von meiner Seite von vornherein ausgeschlossen. Ich denke, wenn man die Stücke hört, wird man wissen warum. Es sind akustische Landschaftsbilder. Wenn ich mich selbst in den Vordergrund gesetzt hätte, wäre die Landschaft nicht mehr sichtbar.  

Gerade das Titelstück fällt mit seinen 40 Minuten sehr episch aus. Wie bist Du an diese Komposition herangegangen? Was war der Ausgangspunkt?
Im Gegensatz zu "Shoreland" und "Path", die relativ schnell entstanden sind, hat sich die Produktion der "Hinterland"-Suite von Mai bis Dezember 2021 erstreckt. Ich habe das Stück so oft verändert, dass ich kaum mehr nachvollziehen kann, wo der Startpunkt war. Hinzu kamen die finalen Sounds von George – und als das Stück fertig war, konnte ich teilweise nicht mehr verifizieren, was von ihm und was von mir kommt. Ich denke, das nennt man Eigendynamik. Ich hatte dabei keine genau definierte Vorstellung, wie es am Ende klingen soll, aber schon den Anspruch, dass es zusammen mit den anderen Stücken eine einheitliche Atmosphäre schafft. Aufgrund der epischen Länge und der vielen mäandernden tonalen Wechsel in dem Stück hatte ich bis zum Schluss Bedenken, ob es so funktioniert, wie ich es mir vorstelle.Die positiven Reaktionen insbesondere auf die "Hinterland-Suite" geben mir dennoch das Gefühl, nicht alles falsch gemacht zu haben.

Du hat das Album mit George Kochbeck, einem Musiker, mit dem Du bereits früher gemeinsam Musik gemacht hast, realisiert. Wie habt ihr Euch kennengelernt?
Ich kenne George seit Anfang 2000. Wir haben früher sogar in demselben Haus gewohnt, in der berühmt-berüchtigten Hausgemeinschaft mit Dietmar Wischmeyer und Sabine Bulthaup, mit der George ja verheiratet ist. Richtig intensiv arbeiten wir aber erst seit 2013 zusammen, an diversen großen Projekten, wie z.B. einem Oratorium über Martin Luther, genannt der "Luther Code". George ist hauptberuflich Komponist und Produzent für Film und Fernsehen, so produziert er z.B. die Musik für den "Tatort" oder "Soko Leipzig". Unsere musikalische Sozialisation könnte gegensätzlicher nicht sein: George kommt eigentlich aus dem Jazz und Funk und war in den 80er Jahren mit seiner Band Georgie Red extrem erfolgreich. Unsere Plattensammlungen haben – bis auf Bowie vielleicht – absolut keine Deckungsgleichheit, aber es existiert zwischen uns, neben der kollegialen Hochachtung, ein intuitives Gefühl für Musik, eine kompletten Offenheit und zugleich die nie versiegende Neugierde, die Welt des anderen kennen zu lernen. So habe ich unendlich viel von ihm gelernt – und vice versa denke ich auch…

Hat das nicht künstlerische Reibereien zur Folge?
Es wäre für mich absolut uninspirierend, mit jemanden zusammen zu arbeiten, der künstlerisch genau so tickt wie ich. Für mich ist die kreative Reibung und ein stetiges Lernen immanent wichtig. So gesehen ist die Arbeit mit George für mich ein Glücksfall. Obwohl George als Filmkomponist und mit seinen zahlreichen Projekten sehr erfolgreich ist, finden für mich seine Solo-Alben, allen voran seine "Short Stories"-Sammlungen oder sein Soundtrack für den Film "Die einsame Stadt" nicht die Beachtung, die sie verdienen. Darum hielt ich es auch für eine gute Idee "Hinterland" auf seiner Bandcamp-Seite zu veröffentlichen, um die Aufmerksamkeit auch darauf zu lenken.

Welchen Stellenwert hat Georges Arbeit an "Hinterland"?
Ohne ihn wäre das Album nicht das, was es ist. Obwohl George mit Ambient- und Drone-Musik bislang weniger Berührung hatte, hat er die Stücke sensibel, ökonomisch und mit den essentiellen Farbtupfern angereichert, die gefehlt haben. Wir haben 2013 das erste Mal über Ambient-Musik gesprochen und ich habe ihm einiges vorgespielt, was ihm wirklich sehr gefallen hat. Ich vergesse nie, dass George damals sagte: "Ich würde so gern auch einmal ein episches Ambient-Stück machen, aber ich denke nicht, dass ich das hinkriege, weil bei mir in der Musik immer etwas passieren muss". Ich glaube dass, neben all dem was ich von George gelernt habe, er gelernt hat, dass man einen Ton auch mal nur minimal verändert über Minuten stehen lassen kann, wenn es dem Gesamtbild und der Atmosphäre dienlich ist.

Das Album wirkt wie eine Meditation. Spiegelt "Hinterland" auch Dein Seelenleben wieder?
Ich denke ja. Und es ist, das mag für einige paradox klingen, sehr viel persönlicher, als es ein Gesangsalbum je sein könnte.

In unserem ersten Gespräch, der auch den Startschuss für UNTER.TON bildete, hast Du recht schonungslos über Dein früheres Leben auf der Überholspur gesprochen. Mittlerweile ist nur noch das Rauchen Dein einziges Laster. Lauscht man "Hinterland" hat man das Gefühl, dass Du ein Stück weit Deine Mitte gefunden hast. Oder anders gesagt: Das Album klingt so wie Ecki Stieg heutzutage lebt: gelassener, zufriedener. Würdest Du das auch so sehen?
Ich habe sogar das Rauchen vor fast vier Jahren aufgegeben. Mittlerweile bin ich passionierter Dampfer. Gelassen, zufrieden – und vor allen Dingen entschleunigt.

Wird es zukünftig noch mehr von Dir zu hören geben? Hast Du "Blut geleckt"?
Ehrliche Antwort: Ich weiss es nicht. Nur soviel: Wenn es ein zweites Album geben wird, dauert es diesmal keine 61 Jahre.

|| INTERVIEW: DANIEL DRESSLER | DATUM: 21.01.22 | KONTAKT | WEITER: ECKI STIEG "HINTERLAND">

Website (mit der Empfehlung, auch in die anderen Werke mal reinzuhören)

Fotos © Katrin Rathsfeld

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                                                        © ||UNTER.TON|MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR| IM NETZ SEIT 02/04/2014.||


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