SIEBEN "2020 VISION" VS. ROBERT SCHROEDER "C'EST MAGIQUE": SOUND DER ZWEITEN LEBENSHÄLFTE
Erschreckenderweise muss man feststellen, dass betagtere Künstler die rebellischeren sind. Ob es daran liegt, dass sie in Zeiten von Punk und No Future aufgewachsen sind und diese Werte künstlerischer Freiheit immer noch im Herzen tragen?
Zumindest steht bei Matt Howden die eigene musikalische Freiheit über den Profit. Als Sieben hat er sich vor allem in Deutschland dank Auftritte beim Wave-Gotik-Treffen, aber auch durch seine Mitarbeit am Soundtrack vom zweiten Teil des Psycho-Sadisten-Streifen "Saw" einige Lorbeeren erspielt. Seine autonome Künstlerschaft ließ er sich dennoch nicht nehmen und veröffentlicht weiter im Eigenvertrieb seine Alben.
Mit "2020 Vision" ist ihm nun - natürlich per Zufall - ein buchstäblich "visionäres" Stück Musik geglückt. Unter den Eindrücken der Corona-Pandemie wirkt das Cover des Album mit den maskierten Personen fast schon wie eine Prophezeiung. Selbst Matt zeigt sich im Pressetext entrüstet: "Ihr habt die Apokalypse ohne mich begonnen", scherzt er schwarzhumorig und gibt damit die eigenwillige Stimmung des Albums wieder, das wie eine tönerne Clownerie am Rande des Abgrund anmutet.
Im Eröffnungsstück "We're All Fucked, Kev" tritt der Musiker aber zunächst in Dialog mit seiner Geige, einer fünfsaitigen Kevlar, einfach Kev genannt. Da wird sich erst mal bedankt, dass sein Mitwirken das Album "so much heavier" gemacht hat. Aber im selben Atemzug bringt Matt die große Sorge, die ihn umtreibt, aufs Tablett: "The world is about to be destroyed" - das Ende der Erdballs ist nah. Und sowohl Matt als auch Kev wissen nicht wirklich, was zu tun ist.
Da hilft das vorgeschlagene "crazy synth solo" genauso wenig, wie das ein paar Songs später propagierte "Shirt Of The Apocalypse", das man tragen muss, um die Menschen auf die bevorstehende Katastrophe aufmerksam zu machen. Anstatt aber in einen lamentierenden Tonfall zu geraten oder seine ganze Wut in aggressiver Weise zum Vortrag zu bringen, wählt der Geiger gerade in diesem Stück eine Cool-Cat-Stimmug, die dem dramtaischen Tenor wunderbar diametral gegenüber steht.
Als Brite speist sich seine wenig hoffnungsvolle Sicht wohl auch aus dem nationalen Gezeter um den Austritt Englands aus der Europäischen Union. "Berylsinperil" scheint genau davon zu handeln, wenn er "The elderly have taken control" zu Anfang singt. Das selbe Sujet dürfte auch in "The Darknes You Have Drawn" verhandelt werden. "Voted it now eat it", lauten hier die ersten Zeilen. Das Land hat sich für die "alten weißen Männer" mit ihren reaktionären und konservativen Werten entschieden. Nun muss sich jeder damit arrangieren.
Zu keiner Zeit zeigt sich Sieben in seiner musikalischen Anklageschrift als schroffer Wüterich. Und doch - "thanks to Kev" - brodelt es in diesen Stücken ganz gewaltig. "2020 Vision" ist getrieben von einer inneren Raserei, die sich im fiebrigen Geigenspiel Howdens und den stets flackernden Sounds in den Songs manifestiert. Wenn am Ende "Come And Ride In The Cult Of Light" nach einem ultimativen Restart der Erde ohne den Menschen singt ("Sun divine, wipe us out - and start again") wird Sieben fast schon zu einem apokalyptischen Reiter. Wären da nicht die komisch brechenden Kommentare seiner Fidel Kev.
Ob das alles nur Spiel ist und Matt Howden doch nicht so mürrisch ist, mag an anderer Stelle erörtert werden. Die Idee, dem menschengemachten jüngsten Tag mit ätzendem Humor zu begegnen, verfehlt seine Wirkung jedenfalls nicht.
Jeder hat sein Mittel, um mit der Krise umzugehen. Die große Herausforderung ist sicherlich nicht die Kontaktbeschränkung an sich, sondern die damit verbundene Verdammnis, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Ein Aspekt, der unserer spaß- und genusssüchtigen Gesellschaft nun schonungslos dargelegt wird. Es braucht tatsächlich eine Menge innerer Gelassenheit, um sich in diesen Zeiten nicht über den Verlust der alten Normalität aufzuregen.
Hier wirkt Robert Schroeders neues Album "C'est Magique!" wie der Versuch eines Ausbruchs aus der Realität hinein in einen Klangkosmos, der uns inneren Frieden, Ruhe und auch Glück verspricht. Im tiefenentspannten Electro findet der geneigte Hörer die nötige klangliche Anweisung zur Kontemplation, während der Musikbesessene sich über ein Werk eines alten Meisters freuen darf, der bereits seit mehr als 40 Jahren der elektronischen Klangerzeugung frönt.
Als direkter Nachfahre der ersten Musikergeneration, die sich intensiv mit den damals klobigen Synthesizer auseinandergesetzt haben, hat er den Stil der so genannten Berliner Schule, aus der sich vor allem Klaus Schulze zählt hervorgetan hat, ebenfalls mitgeprägt. Diese nostalgische Komponenten arbeitet Schroeder schon allein durch die Wahl seiner Sounds für dieses einstündige Non-Stop-Album deutlich aus. Hier dominieren Klänge, die nicht aus aktuellen Soundprogrammen entsprungen sind, sondern aus der Liebe des Musikers für die Technik an sich. Spötter würden "C'est Magique" als anachronistisch oder gar antiquiert bezeichnen. Doch übersehen sie, wie einfallsreich Schroeders Karriere bislang gewesen ist.
Denn der gebürtige Aachener hat bereits früh erkannt, dass man mit eigens frisierten Instrumenten auch unikate Klänge hervorrufen kann. Schon in den tiefen 1970ern entwarf er seine ersten selbstgebauten Synthesizer, wie eine schöne Bilderstrecke auf seiner Homepage darlegt. Er gehört noch zur jener Generation, für die das Entlocken der synthetischen Töne auch immer mit dem stetigen Kampf zwischen Mensch und Maschine eng gekoppelt ist. Denn längst lief die Technik vor 40 Jahren noch nicht so reibungslos wie heute.
Doch mag das wohl der Grund sein, warum Musiker wie Schroeder, Schulze oder der jüngst verstorbene Florian Schneider Esleben von Kraftwerk dann doch immer einen etwas anderen Zugang zur elektronischen Musik hatten beziehungsweise haben. "C'est Magique" bildet in diesem Fall keine Ausnahme. In den entspannten Nummern schwingt ein wenig Hippietum mit und der damit verbundene esoterische Ansatz, der Musik eine ganzheitliche Eigenschaft zu verpassen. Trotz einiger treibenderen Stücke wie "Black Magic" oder dem ravigen "Glowing Energy" steht immer die Konzentration des Individuums durch redundante Patterns im Vordergrund.
Auch nach so langer Zeit bleibt Robert Schroeder kreativ und stellt sein Können ein weiteres Mal unter Beweis, weswegen er auch zurecht mit dem Schallwellen Ehrenpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden ist.
Robert Schroeder und Matt Howden alias Sieben können sich in ihrem Schaffen über jeden Zweifel erhaben sehen, denn ihnen gelingt mit einer spielerischen Leichtigkeit Werke von Tiefgang. So etwas schafft meistens nur, wer auch schon einige Jahre im Musikzirkus ge- und überlebt hat. "2020 Vision" und "C'est Magique" gehören unbedingt zum Kanon hörenswerter Alben für dieses neue, bislang alles andere als hoffnungsvoll ablaufende Jahrzehnt.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 08.05.2020 | KONTAKT | WEITER: IM GESPRÄCH: THOMAS THYSSEN UND ERIC BURTON>
Webseite:
www.matthowden.com
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