"BOCHUM WIE ES GESTERN WAR" 2015: RUHRGEBIET RETROSPEKTIV - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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"BOCHUM WIE ES GESTERN WAR" 2015: RUHRGEBIET RETROSPEKTIV

Exlibris

"Wozu brauchen wir Frankfurt, Berlin oder Köln, New York, London oder Rotterdam, wo wir doch unser wunderschönes Bottrop haben?"

Diese rhetorische Frage stellte vor rund 20 Jahren ein gewisser DJ Hooligan in seiner brachial-technoiden Ode an seine Heimatstadt. Noch einmal zehn Jahre davor stimmte Nuschelrocker Herbert Grönemeyer sein hymnisches "Bochum" an, dessen vielzitierten Zeilen wir an dieser Stelle sicher nicht noch einmal in Erinnerung rufen müssen. Eines haben die illustren Musik-Beispiele, trotz aller kompositionalen Unterschiede, jedoch gemeinsam.

Sie sind geradezu symbolisch für die unerschütterliche Liebe der Ruhrpott’ler zu ihrer rheinischen Heimat.

Prachtentfaltende Monumental-Bauwerke oder verschnörkelte Rokoko-Paläste funkeln hier wahrlich nicht; dafür die auf wirtschaftlichen Hochglanz polierten Rohre der Industriebauten.

Deutschlands eisernes Herz.

Es mag für den Außenstehenden vielleicht noch so unwirklich klingen, aber gerade für die Bewohner dieses Ballungszentrums ist diese eigenwillige Landschaft in erster Linie auch eins: Liebgewonnene Heimat.

Um nicht nur Verständnis für die unabrückbare Treue der Zechen- und Stahlwerksarbeiter zu entwickeln, sondern nicht zuletzt auch diese unerschöpfliche Quelle der künstlerischen Inspiration für sich entdecken zu können, ist ein Blick in die Vergangenheit sehr aufschlussreich.

So bringt der Klartext-Verlag 2015 in Form seiner atmosphärischen Kalenderreihe geballtes Wissen auf den Punkt: Bilder der Ruhrgebiets-Metropolen in der Phase ihres Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg vermitteln dem Betrachter den rauen und dennoch warmen Charme dieser Epoche und entführen in eine Welt, in der plötzlich wieder alles möglich schien.

Maloche und Menschlichkeit: Selten lagen diese beiden Pole so nah beieinander wie auf diesen insgesamt 13 historischen Foto-Motiven.

Der "Kohlenpott", Anfang des 19. Jahrhunderts längst zum wichtigsten Industriestandorts Europas avanciert, bekam die Gewalt der geschichtlichen Ereignisse stets mit schonungsloser Härte zu spüren. Nach dem Ersten Weltkrieg erzitterte das Ruhrgebiet unter der erbarmungslosen Belagerung durch französische und belgische Truppen, die 1921 die im Versailler Vertrag verhandelten Reparationszahlungen Deutschlands an die Siegermächte einzufordern gedachten.

Zwanzig Jahre später stand das pulsierende Ballungszentrum erneut im Mittelpunkt des geschichtsträchtigen Weltgeschehens: Als Materiallieferant des deutschen Militärs wurde es zum Hauptangriffsziel der Aliierten im Zweiten Weltkrieg. Eine traurige Bilanz: Die Städte wurden teilweise bis zu zwei Dritteln in Schutt und Asche gelegt; unzählige
Menschen verloren im bestialischen Bombenhagel ihr Leben.

Mit dem Ende des größenwahnsinnigen Hitler-Regimes begann schließlich wieder eine neue Zeitrechnung. Diese hoffnungsvolle "Stunde Null" kann in der Kalenderreihe jetzt intensiv nachgefühlt werden.

Melancholisch muten die Aufnahmen an, die die Herausgeber nach fleißigem Stöbern in den jeweiligen Stadtarchiven sowie aus den reichhaltigen Beständen des Essener Ruhr Museums zutage gefördert haben. Der an den jeweiligen Kalender angehängte Untertitel "wie es gestern war" verdeutlicht einmal mehr, dass das prosperierende Ruhrgebiet der Gegenwart vor gar nicht all zu langer Zeit noch komplett in Scherben lag.

Nicht ganz ohne Lokalpatriotismus vermitteln die Schwarz-Weiß-Fotografien die zumeist surrealen Lebensbedingungen der Bevölkerung nach dem Ende des Nationalsozialismus.

An der Schwelle zum Wirtschaftswunder waren die Menschen zwischen Vergangenheitsbewältigung und Neuorientierung, harter Arbeit und wieder erblühender Nacht- und Kneipenkultur zuhause. So zeigen die kontrastreichen Aufnahmen des Bochum-Kalenders unter anderem die "Krim" mit dem kleinen Markt anno 1952. Die Warenstände zwischen den Ruinen und Schuttbergen sind der erste Versuch, so etwas wie Alltag zu vermitteln.

Doch diese vermeintliche Normalität ist in Wahrheit immer noch stark von der zermürbenden Arbeit des Wiederaufbaus gezeichnet.

Ihre Höhepunkte findet die stimmungsvolle Bilderreihe daher vor allem dann, wenn sie sich von den gewichtigen Szenenbildern wegbewegt – und behutsam auch auf die kleinen, emotionsgeladenen Geschichten blickt.

So wie das Foto des Monats Juni: Es vereint Alter und Jugend, Vater und Sohn vielleicht, in identischer Pose auf Ziegelsteinen sitzend und aus einem abgenutzten Blechbehälter Suppe essend. Während im Vordergrund noch die Trümmer der Vergangenheit zu sehen sind, ragen hintem im Bild bereits die frisch errichteten Mauern eines Neubaus in die Höhe. Immer wieder wandert das Auge des Betrachters zu den leicht nach unten gesenkten Köpfen der beiden Protagonisten. Beide scheinen völlig in dieser plötzlichen Statik eines ruhenden Augenblicks verloren; teilen friedlich ihr karges, aber dennoch sättigendes Mal. Aus den Augen des Älteren, sichtbar gezeichnet von der Sinnlosigkeit zweier weltumspannender Kriege, spricht noch die leise Angst; vor dem was war, vor dem was kommen mag. Das junge Leben hat bereits die volle Wucht des Schicksals zu spüren bekommen; jedoch: Das ist seine Wirklichkeit, die es nicht anders kennt.

Man lebt nur für den Moment.

Dieses Vater-Sohn-Paar steht geradezu symbolisch für die vielen Menschen, die kurz nach dem Krieg ihre zur grausamen Fratze entstellten Heimat zurückerobern wollten. Ein Aufbruch; eine Mission: Das Land von den Trümmern zu befreien und wieder in einen irgendwie lebenswerten Ort zurückzuverwandeln.

Mit Erfolg: Die nächste Generation durfte auch wieder die Freuden der Kindheit erleben; Freizeit und ihre Gestaltung sind ein zuvor fast in Vergessenheit geratener Begriff. Das August-Bild zeugt davon: Ein paar Jungs spielen auf einem Ascheplatz Fußball, während sich am Horizont die Silhouette der "Zeche Robert Müser" mit seinen rauchenden Schloten abzeichnet.

Eine unbeschwertere Jugend, auch dank des wiedererstarkten Ruhrgebiets, bahnt sich an.

Launige Kommentare lockern die ob ihrer Aussagekraft bisweilen niederschmetternden Bilderwelten auf und führen den Betrachter in die oft beschwerliche, aber immer auch mit Hoffnung durchtränkte Szenerie des wiederbelebten "Kohlenpotts".

Die Kalenderreihe "Wie es gestern war" ist eine spannungsgeladene Zeitreise; nicht nur für historienaffine Gemüter, sondern nicht zuletzt auch für den Stadtbewohner der Gegenwart.


Zudem erweisen die atmosphärisch dichten Bilderserien den heute vergessenen Helden des Wiederaufbaus eine späte Ehre; jenen unzähligen Menschen also, die, obgleich von der Brutalität des Kriegsgeschehen stark traumatisiert, alles daran gesetzt haben, eine bessere Zukunft für die Nachwelt, sprich: auch für uns, zu hinterlassen.

In unserer schnelllebigen Zeit, in der Konsum und Wohlstand mittlerweile zur bequemen Selbstverständlichkeit geworden sind, ist "Wie es gestern war" ein kostbares Mahnmal des Moments - und illustriert einmal mehr, dass jedem Augenblick am Ende immer auch ein besonderer Zauber innewohnt.

|| TEXT: DANIEL DRESSLER / ANTJE BISSINGER | DATUM: 10.12.2014 | KONTAKT | WEITER: MICHA PAWLITZKI "IM UNTERGRUND" 2015 >





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Teil dieser liebevollen Kleinserie sind (neben Bochum) übrigens auch die folgenden Städte: Bottrup, Castrop-Rauxel, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Herne, Mühlheim, Oberhausen, Recklinghausen, Wanne-Eickel, Wattenscheid.

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