HVOB "TOO" VS. MODERAT "MORE D4TA" VS. VITALIC "DISSIDÆNCE EPISODE 2": BASS, BEATS UND PANDEMIE
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Sicherlich sind musikalische Werke auch immer Spiegel ihrer Zeit, die Themenauswahl Produkt einer gesamtgesellschaftlichen Betrachtung und persönlicher Erfahrungen der Künstler. Bei Sängerin und Musikerin Anna Müller sowie Produzent Paul Wallner, die zusammen als HVOB agieren, tritt dieser auf ihrem sechsten Album "Too" besonders hervor. Auch hier liegt es an den äußeren Umständen, namentlich: Corona-Pandemie, die dazu geführt haben, dass die aktuelle Scheibe zwar eben wie HVOB klingt und doch irgendwie anders ist.
Das österreichische Duo liebt die treibenden, tonnenschweren Beats, die sich auf dem Großteil des Albums wie eruptive Stöße ausbreiten und die Umgebung ins Schwingen bringen. Gerade "Kid Anthem" dampft diese Liebe auf die Quintessenz ein, begleitet von sirenenartigen Sequenzen. Doch wie bei HVOB so oft, fallen die ersten wütenden Takte wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Bei "Kid Anthem" verstummen die Beats abrupt, um von einer melancholischen Klavierlinie abgelöst zu werden, über die Anna mit zerbrechlichem Timbre ihre Gedanken preisgibt.
Es sind, verteilt über das gesamte Album, Überlegungen einer Generation, die nach Orientierung und Halt sucht, wie HVOB selbst darlegten. Aus ihren Stücken spricht die Ungewissheit über eine Welt, die noch vor einigen Jahren intakt schien, aber mittlerweile mehr Fragen als Antworten parat hält. Die Unklarheit über den Fortbestand alter Werte lässt einen mit einem explosiven Gefühlscocktail zurück, der zwischen Melancholie und Aggression hin- und herschlägt.
Das verkörpern Songs wie "Bruise" und "Gluttony" überdeutlich: Zwischen eskapistischem Trance-Sound mit Berghain-Beats und kontemplativ-sakralen Intermezzi bilden sich ungeahnte Spannungsräume. Die Dynamik der Extreme, über die Anna ihr zerbrechlich-distanziertes Organ, das bisweilen an Romy Madley Croft von The XX erinnert, setzt, machen "Too" zu einem Album, das in der Strobo-Diskothek ebenso funktioniert wie auch in den heimischen vier Wänden.
Modeselektor und Apparat haben es wieder getan: Sie sind erneut eine Liaison Dangereux eingegangen. Wen wundert's? Schließlich haben Apparat-Mastermind Sascha Ring und die Modeselektoren Gernot Bronsert und Sebastian Szary in der gemeinsamen Sache weitaus mehr Erfolg als ihre nicht minder interessanten eigenen Projekte. Nach drei Alben, relativ humorlos "Moderat I", "Moderat II" und "Moderat III" betitelt, kommt nun... nicht "Moderat 4". Aber eigentlich schon, denn wie unschwer zu erkennen, ist "More D4ta" ein Anagram des eigentlich in der Reihe folgenden Albumtitel.
Doch haben wir es weit mehr als nur mit einem gefälligen Wortspiel zu tun. Moderat beziehen Stellung zum Zeitgeist, und natürlich sind auch sie von der Pandemie ordentlich durchgeschüttelt worden. Ihr Augenmerk liegt auf das Überangebot medialer Informationen, die besonders in Zeiten der Isolation Überhand genommen hat. Noch eine Expertenrunde zum Thema Corona, dazu die unterschiedlichsten Verschwörungstheorien, die sich ungestört im Netz ausbreiten konnten. Und ganz nebenbei bringen "Cancel Culture" und jüngst "kulturelle Aneignung" neue, hitzig geführte Debatten zur Frage, was Kunst eigentlich noch darf. Das alles wirkt wie ein Grundrauschen, das die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts traurigerweise umwölken.
"More D4ta" nimmt dabei weder die Rolle eines moralischen Richters ein, noch schlägt sie sich auf eine Seite. Vielmehr sind Moderat die Beobachter ihrer Zeit und setzen dem teils chaotisch gewordenen Leben klare und warme Elektronik entgegen, in der Ring seine Singer/Songwriter-Qualitäten etwas zurückschraubt und Modeselektor ihrerseits Zugeständnisse am weniger bassbehangenen Sound machen. Das Ergebnis kann sich hören lassen. Stücke wie "Neon Rats" sind Disko, ohne explizit zum Tanzen aufzufordern und "Undo Redo" sowie "Doom Hype" liebäugeln mit einem dunkleren, fatalistischen Elektronik-Klang, der an IAMX erinnert. Das Dreiergespann zeigt sich mit diesem Album auf dem Zenith ihres Schaffens.
Auch beim französischen DJ und Musikproduzenten Vitalic liegen die Tatsachen klar auf der Hand. Seine zweite "Dissidænce" Episode ist eine musikalische Antwort auf die Umwälzungen der letzten drei Jahre, und natürlich steht auch hier Corona ganz klar im Mittelpunkt. Erwähnt wird diese tiefgreifende Pandemie nicht. Aber sie zeigt sich in den wütenden Songs wie dem Opener "Sirens", bei dem sich die Industrial-Elemente mit fett produzierten Beats vereinen. Der Song spiegelt nicht nur die gesellschaftliche Ohnmacht gegenüber einer heimtückischen Krankheit wieder, sondern bringt gleichzeitig auch den Wunsch nach Ausbruch aus diesem neu zu gestaltenen Leben, das sich durch Maskenpflicht und einem nicht mehr unbeschwerten Kulturgenuss auszeichnet, nahe.
Doch vor allem bringt "Dissidænce Episode 2" Vitalics komplettes Know-How auf einen gemeinsamen Nenner. Wenn in "Marching" verzerrte Bassdrums eine unheimliche Dark-Room-Atmosphäre heraufbeschwören, während "Friends & Foes" ungemein leichtfüßig, ja,geradezu poppig daherkommt, sieht man das großartige Talent des Franzosen, der sich in vertrackten Tanznummern ebenso heimisch fühlt, wie in vermeintlich leichter Kost.
Abschließend wird "Winter Is Coming" viel mehr als nur ein wabernd-sphärischer Song, der das bockstarke Album beendet. Hier lässt sich in den teils verzerrten Flächen auch so etwas wie ein instrumentales Showdown zwischen Vitalic und der Welt erkennen. Nach all der schweißtreibenden Techno-Orgie herrscht fast schon so etwas wie eine Katerstimmung. Vielleicht ist das der Tatsache geschuldet, dass wir in einer Zeit leben, in der sich vieles falsch und nur noch weniges richtig anfühlt. Der aufkommende Winter, von dem uns Vitalic in seiner Musik erzählt, mag vielleicht auch dem Winter in den Herzen vieler Menschen entsprechen, die sich in der globalen Notlage nur noch auf ihre persönlichen Plaisire konzentrieren.
Allerdings zeigt sich in "Dissidænce Episode 2" auch ein unbedingter Drang, endlich nach vorne zu schauen, um den Menschen etwas mehr Normalität zu schenken. Und zur Normalität gehört - unter anderem - auch der wochenendlich stattfindende, rauschhafte Exzess, der sich in den nach vorne preschenden Stücken Vitalics manifestiert. "Dancing In The Streets" klingt da wie eine Aufforderung zur ausgelassener Extase im öffentlichen Raum, wie ein Ton gewordener Aufruf zum zivilen Ungehorsam, zumindest aber wie en perfekter Flasmob-Song. So jedenfalls vermitteln es unmissverständlich die blubbernden Basslinien, während durchdrehende Synthesizer die Stimmung weiter anheizen.
Worte sind bei Vitalic ein weiteres Instrument, das sich dem unnachgiebigen Rhythmus unterordnet, während Moderat und vor allem HVOB ihnen mehr Wichtigkeit beimessen. Doch alle drei eint der Versuch, Antworten auf die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen, die sich mit der Corona-Pandemie eingestellt haben, zu finden. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, adäquat darauf eine Replik zu verfassen. Wenigstens lässt sich auf die drängenden Fragen unserer Zeit vortrefflich tanzen.
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