7/18: ASH CODE, SDH, N01R, CANDELABRE, ROSI, PAST, SWIRLPOOL - STILVOLL SCHMERZERFÜLLT DURCH DEN SOMMER
Es muss auch den Gegenpol zu all diesen gutgelaunten Menschen geben, die sich in der Sonne kross braten lassen und - in textile Sünden gekleidet - am Grill stehend ihre Dsicounter-Wurst erhitzen. Es muss Menschen geben, die bei solch schweißtreibenden Temperaturen eher das kühle Interieur ihrer abgedunkelten Wohnung aufsuchen und versuchen, dem sommerlichen Happy-Wahnsinn zu entkommen.
Gut dazu passen könnte der Kaltwellenklang von Ash Code aus Neapel. Schließlich versteht sich das Trio auf einen einnehmenden Verschnitt aus eisigen Synthies und treibenden Bässen. Ihr drittes Werk "Perspektive" bleibt in seinem Arrangements durchaus übersichtlich, ja, es schickt sich gar nicht erst an, einen großen Fuhrpark an Sounds aufzufahren. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die Texte (im Titelsong sogar in - etwas holprigem - Deutsch gesungen), die sich mit der Frage nach unterschiedlichen Sichtweisen auf ein und dasselbe Thema befassen, sozusagen der Blick auf alle Seiten der Medaille. Das lässt sich wunderbar auf das Album selbst ummünzen: In der Endabmischung haben Ash Code ihr Werk Doruk Ozturkcan, der als eine Hälfte der türkischen Cold-Wave-Wundertüte She Past Away bereits die gesamteuropäische Szene mit ihrem Wahnsinns-Debüt "Belirdi Gece" mal so eben auf links gekrempelt hat, in die Hände gegeben. Seine Perspektive hilft "Perspektive", das sich an den richtigen Stellen zurücknimmt (wie beispielsweise bei "Disease") und die ganze fatalistische Kraft dieser wie tradiert wirkenden New-Wave-Nummern "Betrayed" und "If You Were Here" zum Leuchten bringt. Schließlich darf am Ende mit "Lie" auch ein wenig Experimentierfreude aufkommen. Danach offenbaren weitere Senkrechtstarter wie Hante, We Are Temporary und Agent Side Grinder ihre "Perspektive" auf verschiedene Songs aus dem Album. Es passiert sowieso schon selten, dass Remixe einem Album zuträglich sind. Bei Ash Code funktioniert es, weil jeder Künstlerkollege respektvoll und kreativ mit dem Material umgegangen ist. Am Ende prangt hier ein kleines, feines Album, das begeistert, egal aus welcher Perspktive.
Bereits in der März-Ausgabe von "kurz angespielt" haben wir das spanische Duo Semiotics Department Of Heteronyms, kurz SDH, vorgestellt. Ihre EP "Tell Them" bestach vor allem durch ihren stringenten Anachronismus. Erwartungsgemäß erfüllt das selbstbetitelte Werk die hochgesteckten Ziele der Vorabveröffentlichung. Nun wissen wir nicht erst seit Heroes Del Silencio, dass Spanien - aller Sonnenverwöhntheit zum Trotz - über eine sehr lebendige Schwarze Szene verfügt. Dennoch bilden SDH einen Ausnahmefall, da sie ihrem minimalistischen Arrangements einen technoiden Anstrich verleihen, der sich vor allem beim somnambulen Sprechgesang von Andrea P. Latorre und der flirrenden Arpeggiolinie in "I Mean" in geradezu hypnotische Höhen schraubt. Ohnehin lebt das Debütalbum von Andreas stimmlicher Wandlungsfähigkeit. Wirkt sie eben noch unnahbar und kühl, so zeigt sie sich bei "She Uncovers Before Me" oder dem fast schon kaltromantischen "Static Moment" zutraulich, lässt ihr Organ leicht überschlagen, wie man es von der viel zu früh verstorbenen Dolores O'Riordan (The Cranberries) her kennt, und setzt pointiert Gefühlswallungen in ihre Darbietungen. "Semiotics Department Of Heteronyms" wird sicherlich zu einem wichtigen Werk avancieren, denn so transparent und gleichzeitig stil- sowie melodiesicher zeigen sich nur wenige Newcomer. Obgleich Latorre und Klangmeister Sergi Algiz längst keine Unbekannten mehr sind - zumindest in ihrer Heimat Barcelona. Mit diesem Album werden sie sicherlich auch über die Landesgrenzen hinaus den einen oder anderen neuen Anhänger rekrutieren können.
Auch aus dem schönen Spanien stammend, aber bereits in Berlin beheimatet ist Maria Silva. Unter dem Alias N01R geht sie seit mehreren Jahren auf eine auditive Entdeckungsreise, stilistische Grenzen sind für sie überhaupt kein Thema. Auch "Ancestral" zeigt eine Künstlerin, die zwischen Elektronik-Miniaturen und scheppernden Klangcollagen alles ausprobiert und damit zwar den Hörer durchaus fordert, aber auf diese Weise auch nicht Gefahr läuft, in eine gähnende Gleichförmigkeit abzudriften. Dabei erleichtert N01R dem Hörer den Einstieg des 20 Stücke umfassenden Mammutwerks. "Are Stars" und "Nostalgia" arbeiten sich durch federleichte Synthielinien, die von dezenten Beats angeschoben werden und ein wenig an die schummrigen Sounds von Miss Kittin & The Hacker erinnern wollen. Das wolkige "Programa Espacial" klingt gar wie ein mitternächtlicher Blick zum Firmament. Doch ab "Ad Astra" und "Catedrais" ändert sich die Stimmungslage, werden die Sounds verwaschener, schmutziger, breitflächiger. Aus Melodien werden wabernde Klanggebilde, Drones überlagern sich, in "Control (The Whip)" kippt sie in eine laszive, ansatzweise fetisch-erotische Richtung wie man sie bei den Proto-S/M-Elektronikern von Die Form wahrgenommen hat. "Fuego Blanco" wirkt durch den industriellen Lärm und dampframmigen Basslinien wie der Besuch in einem Berliner Industrial-Club, dessen Interieur durch die Stroboskop-Blitze nur schemenhaft zu erkennen ist. Eingängigkeit und Experimentierfreude lagen selten so dicht beienander. Maria Silva ist ein tönerner Freigeist, ihre Musik ein neugieriges Ausprobieren, ein Sich-Fallen-Lassen in die schier unendlichen Möglichkeiten elektromusikalischer Ausdrucksformen. "Ancestral" gleicht einem Besuch bei einer Bilderausstellung in einer Industrieruine, N01R ist ihr Kurator.
Nach den exzessiven Elektronikorgien richten wir unser Ohr wieder zu den erdigeren Klängen - und landen bei Candélabre. Hier ergibt sich eine spannende Gemengelage, denn die selbstbetitelte EP ist nicht nur ein überaus gelungener Startschuss für die noch junge Band aus Toulouse, sondern auch die erste Veröffentlichung des neu gegründeten Labels Solange Endormies. Der Zauber des Anfangs - man hört ihn in jeder Note von "Candélabre". Der zwischen Shoegaze und Coldwave mäandernde Sound wird von der naiven Stimme von Cindy Sanchez zusammengehalten. Ihr unschuldiges Timbre erinnert teilweise an die Sangesdarbietungen von Chibi von The Birthday Massacre. Doch während diese mit einem elektronisch unterfütterten Knallbonbon-Goth-Rock aufwarten, sind Candélabre in ihrem musikalischen Ausdruck deutlich zurückgenommener. Das macht die ersten fünf veröffentlichten Songs aber nicht weniger dynamisch, zumal die teilweise makabren Poeme einen pfiffigen Gegenpol zum Gesang bilden. Zwei Favoriten sind jedenfalls ausgemacht: "Lone Wolf" lebt von der perfekten Symbiose aus federleichtem Saitenspiel und einer treibenden Rhythmusabteilung, und "Fortress Of Salvation" vereint einen stumpfen Computerbeat mit schrammeligen E-Gitarren, ehe im Refrain eine übermächtige Wall Of Sound aus surrenden Synthesizern hochgezogen wird. Diese beiden Songs bilden die ausdrucksstärksten Eckpunkte, um das kompositorische Talent dieser Gruppe zu verifizieren. Wird das Trio weiterhin diesen Weg einschlagen, dürfte eine solide Fangemeinde ihnen gewiss sein. Denn bei allen musikalischen Referenzen - vornehmlich aus dem 4AD-Sektor - bildet sich bei Candélabre bereits ein eigener Stil aus.
Vom sonnigen Toulouse geht es nun ins graue Bielefeld. Zumindest beschleicht einen das Gefühl, dass die Sonne auch in diesem Sommer einen großen Bogen um die Stadt macht, wenn man sich die Songs der dort beheimateten Band Rosi anhört. War der Vorgänger "Grey City Life" schon wenig lebensbejahend, scheint "Hope" unserer Existenz mit noch mehr Zynismus zu begegnen. So speit das Albumcover mit dem verfallenen Wohnblock und dem bewusst deplazierten Titel in Leuchtreklame-Ästhetik bereits Gift und Galle. Bei Rosi stirbt die Hoffnung nicht zuletzt, sie ist bereits tot geboren worden. Und so atmen die Songs den Geist von Post-Punk und Luftschutzbunkern ein, nehmen wie in "Trennen" etwas Fahrt auf oder zitieren in "Kopf" auch schon mal den Bauhaus'schen Minimalismus (trotz der deutschen Titel wird übrigens immer in Englisch gesungen). Viele Faktoren sprechen für Rosi: Da ist zum einen die Stimme von Sven Rosenkötter, die eine Mischung aus manischer Depression und unbeirrbarem Fatalismus vereinigt und so den Anschein erweckt, als würde das Leben ihm nichts mehr bieten können. So sucht er in "Höhle" eben jene, wo er sich selbst begraben kann und entflieht in "Zahltag" dem zermübenden Alltag, indem er nie wieder aufwacht. Todessehnsüchtiger kann das gesungene Wort kaum sein. Währenddessen fährt Musiker Mirco Rappsilber Synthesizer, Drummachines sowie E- und Bassgitarren auf und bastelt daraus einen nebulös-körnigen Sound, den jeder Verfechter unverfälschter Post-Punk-Attitüde goutieren wird. Am Ende ist "Hope" dann doch nicht ganz hoffnungslos: Denn mit so einem Pfund von Album lässt sich gut wuchern, sodass Rosi noch von sich Reden machen wird.
Das könnten auch Past mit ihrem neuen Album "Sama" sehr gut. Denn ihr energetischer Postpunk besitzt einen wunderbaren Exotik-Faktor: Die aus Warschau stammende Band singt in ihrer Heimatsprache polnisch. Nun hat auch dieses Land eine kleine, aber feine Wave-Historie, die in Deutschland aber kaum bekannt ist. Nur wenigen dürfte beispielsweise die Band Maanam ein Begriff sein, die mit "Lipstick On The Glass" in ihrer Heimat einen großen Erfolg verbuchen konnten, aber im Rest der Welt - eigentlich unverständlicherweise - ungehört blieb. Past könnte man als direkte Nachfolge zu Maanam sehen, zumal mit Gosia auch eine Sängerin am Mikro steht, die mit ihrem angenehmen Timbre sowohl einen Banshees-Einschlag besitzt, als auch von einer typisch slawischen Melancholie duchzogen ist und den Songs, die, laut Bandcamp-Seite, sich kritisch mit der gegenwärtigen Welt auseinandersetzt, eine gewisse Niedergeschlagenheit offenbart - aller Rockigkeit zum Trotz. Dazwischen besticht "Sama" mit einer unbändigen, vielleicht auch ob der poltischen schwierigen Lage in ihrem Heimatland, wütenden Spielfreude, lässt im zweiminütigen "Spokój" die Frontfrau einige arabisch anmutende Sangesgirlanden praktizieren auf und macht "Demon" dank eingängiger Gitarrenriffs zu einem düsteren Ohrwurm. Wenige Auftritte dieser Band in Deutschland sind bereits geplant, und sollte Past mit dergleichen Energie die Bühnen rocken, wie sie es im Studio getan haben, wird sicherlich der eine oder andere deutsche Fan anfangen, sich des polnischen zu bemächtigen, um Pasts Songs besser zu verstehen.
Wenn es einen abschließend dann doch ins heiße Freie treibt, der wird sich mit der üppig ausstaffierten Melange aus Shoegaze und Dream-Pop der Regensburger Truppe Swirlpool die entsprechende mentale Abkühlung verschaffen. Wobei die Jungs es durchaus verstehen, sich nicht komplett den Genre-Klischees zu verschreiben, sondern sich einige gewiefte Hintertürchen offen zu lassen. Zwar bringt der Titelsong der sechs Nummern umfassenden EP "Camomile" noch den berühmten Wall Of Sound mit jeder Menge in Hall verpackte Gitarren (die sich besonders im Refrain übermächtig aufzubäumen wissen), aber bereits "Tired Eyes" lässt erahnen, wieviel Pop-Appeal in der Band schlummert. Zudem achten sie darauf, sich nicht in ferne Welten zu gniedeln, sondern trotz manch spirituell aufgeladener Stücke wie "Innerspace" musikalisch immer greif- und nachvollziehbar zu bleiben. Und der überaus gelungene, elektronisch-trancige Remix des Titelstückes von Aethon zeigt überdies, welche Offenheit die Band nicht nur in der Neuinterpretation ihrer Stücke an den Tag legt, sondern auch die generelle Wandelbarkeit ihrer Nummern, die sich problemlos in ein eigentlich artfremdes Genre ohne Qualitätsverlust transferieren lassen können. Doch über allem liegt die samtige Stimme von Markus Kraus, der sich in einer Riege mit Sängern wie Ernest Greene (Washed Out) oder Kip Berman (The Pains Of Being Pure At Heart) stellen darf. "Camomile" ist ein pastelliger Reigen aus gefühlsbetonter Nostalgie, gepaart mit einer leichten Prise Melancholie, die sich besonders in den anbahnenden Hundstagen, in denen sich manche Handlungen ob der Hitze wie in Zeitlupe abspielen, als klangliche Untermalung nicht besser eignen könnte.
||TEXT: DANIEL DRESSLER| DATUM: 17.07.2018 | KONTAKT | WEITER: TOP 5 - ALTERNATIVE SCHWULLESBISCHE LIEDER>
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Webseiten:
www.ashcode.eu
semioticsdepartmentofheteronyms.bandcamp.com
www.facebook.com/n01rmusicBerlin
candelabre.bigcartel.com
rosi-music.bandcamp.com
pastpunk.bandcamp.com
www.facebook.com/swirlpoolmusic
Covers © Swiss Dark Nights (Ash Code), Avant! Records (SDH), Nøvak Records (N01R), Solange Endormies (Candèlabre), In A Bad Mood (Rosi), Past Records (Past), Reptile Music (Swirlpool)
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