17/23: SEEKERS ARE LOVERS, RAIN TO RUST, SUNCHARMS, LABASHEEDA, EFEU, TEER: DEFTIGES ZUR KALTEN JAHRESZEIT - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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17/23: SEEKERS ARE LOVERS, RAIN TO RUST, SUNCHARMS, LABASHEEDA, EFEU, TEER: DEFTIGES ZUR KALTEN JAHRESZEIT

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2023
Das ist mutig: Seekers Are Lovers beenden ihr Debütalbum "Nepenthes" mit einer Coverversion von Bronski Beats "Smalltown Boy". Wie leicht hätte es sich die deutsche Formation machen können und einfach die markante Melodie in ihren funkelnden Electro-Gitarrensound zu implementieren. Stattdessen wird aus der robusten Coming-Out-Disco-Nummer eine ätherische, von Kunstnebel umwaberte Gruftie-Ode, die den Song überraschend auf Links krempelt. Die Neuinterpretation zeugt vom Selbstverständnis einer Band, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart stabile Brücken bauen will. Heißt in Noten übersetzt: In "Nepenthes" wimmelt es nur so von 80er-Zitaten, gleichzeitig lassen Produktion und Arrangement nicht einen Moment lang Zweifel über die Aktualität des Werkes zu. Seekers Are Lovers setzen ein erstes großes Ausrufezeichen: Düstere, aber gleichzeitig feierliche Synthesizerpassagen gehen mit kraftvoll-verspielten Gitarrenparts eine markante Verbindung ein, während massives Schlagwerk den Stücken den nötigen Drive verleihen. Über Albumlänge klappt das ohne Qualitätsverlust ganz ausgezeichnet, aber "Hayley" ist eine Nummer, die besonders vortrefflich gelungen ist. Besonders das selbstvergessene Gegniedel im Mittelteil lädt ein zum Schmunzeln: Breitbeiniger kann eine Gitarre kaum gespielt werden. Da schimmert sie dann wieder durch, die Liebe zu den melodischen Hard-Rock-Combos aus dem goldenen Zeitalter der Popmusik. "Nepenthes" ist übrigens in der griechischen Mythologie eine Arznei, die Helena, Ehefrau des Menelaos, König von Sparta, von einer ägyptischen Königin bekommen hat, um sie von allen Leiden zu befreien. Das schaffen Seekers Are Lovers zwar nicht, aber nach "Nepenthes" fühlt man sich ausgezeichnet.

"An album inspired by and dedicated to the following artists: Adrian Borland, Richey James Edwards, Ian Curtis, Per Yngve Ohlin, Yukio Mishima, Peter Tyrrell, Osamu Dazai, Robert E. Howard". Sänger/Musiker Mert Yıldız und Bassist Ertan Aslan alias Rain To Rust huldigen auf "Martyrdom: Eight Exercises" den gequälten Seelen, die sich aus unterschiedlichen Gründen für den Freitod entschieden haben. Es bedarf dabei keiner Spitzfindigkeit, um zu erkennen, dass jede der "Eight Exercises" einem der genannten Männer gewidmet worden ist - und zwar in genannter Reihenfolge. "The Killing Room" verweist auf seine Wohnung, in der sich der depressive Joy-Division-Sänger Ian Curtis in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai 1980 erhängte. "The Patriot" beleuchtet dagegen das Ableben von Mishima Yukio, dem wohl bedeutendsten japanischen Schriftsteller der Neuzeit, der als Teil einer antikommunistischen Revolutionszelle nach einem missglückten Putschversuch am 25. November 1970 einen ritualisierten Selbstmord nach Tradition des Samurai (den so genannten Seppuku) beging. Rain To Rust fangen die letzten Momenten dieser Personen in ihren Songs ein, flankiert von einem breit gefächerten Post Punk, der wie bei "Killing Room" an die balladeske Schwere von Diary Of Dreams erinnert, in "Dive" aber auch einen poppigen Unterton zulässt, der sogar Crooner-Klassiker zitiert. Die Songs laden ein, sich mit den unterschiedlichen Lebensläufen eingehender zu befassen, vor allem die Vitae der weniger klangvollen Namen sind nicht minder spannend. Schlussendlich eint sie aber alle eine Sache: Sie sind am Leben gescheitert, jeder auf seine Weise, und sahen sich nicht mehr in der Lage, weiterzumachen. Rain To Rust setzen ihnen ein empathisches Denkmal.

Ein bisschen todessehnsüchtig klingen auch die Titel auf "Things Lost" von The Suncharms: "Satanic Rites", "Dark Sails", "Demonic Eyes"...man hat sofort growlende Menschen im Gehörgang, die sich zu knüppeligem Death-Metal das Organ aus dem Leib schreiben. Doch weit gefehlt: The Suncharms packen ihre vermeintlich düsteren Texte in einen butterweichen Indie-Pop mit hohem Nostalgiefaktor. Das kommt nicht von ungefähr, hat das Quintett aus Sheffield sich bereits in den späten 1980ern gegründet, um als Teil der damals prosperierenden Indie-Pop-Szene ihr Glück zu versuchen. Die Zeichen standen auch gut, sogar eine Session beim legendären John Peel können sie auf ihrer Habenseite verbuchen. Dennoch löste die Band sich 1993 auf. Fast 30 Jahre später haben sie sich wieder zusammengefunden - und klingen nun so, als hätte man Sänger Marcus Palmer und seine Mannen damals eingefroren und jetzt wieder aufgetaut. Das ist nicht despektierlich gemeint, sondern voller Bewunderung für ihr neues Album. Denn The Suncharms lassen die Melancholie leichtfüßig tänzeln, wie es damals Bands wie The Smiths oder The Jesus & Mary Chain getan haben. Allein die Eröffnung von "Daylight Is Here" mit den sanft bearbeiteten Drums verweist auf "Just Like Honey" der eben genannten Band. "Things Lost" klingt unaufgeregt und gleichzeitig sehr selbstbewusst. Das Album beherbergt funkelnde Pop-Perlen, die gleichzeitig verdammt cool sind. Wie "Red Wine Kisses", das voll erinnerungswürdiger Momente ist, sei es die fuzzige Gitarre oder der schwelgerische Refrain, der einem gleich hängen bleibt. "Things Lost" ist eine kleine Überraschung und der richtige Soundtrack für die "lazy sunday afternoons".

Aus Amsterdam erreichte die UNTER.TON-Redaktion eine Mail mit der Bitte, doch mal in das Album "Blueprints" von Labasheeda reinzuhören. Und manchmal befindet sich auch dieses Online-Magazin, obschon seit stolzen neun Jahren im weltweiten Netz, im Tal der Ahnungslosen. Denn das von der Sängerin Saskia van der Giessen geführte Trio besteht schon seit 2004 und hat eine ganze Latte von EPs und Alben auf den Markt gebracht. Nicht nur Saskias angedunkelte Stimme, in der sich die Melancholie einer Siouxsie Sioux mit der feministischen Attitüde diverser Punkerinnen der ersten Generation vereinen, hebt die Musik der Band hervor, sondern auch der Einsatz von Geigen, die in "Volatile" den Weltschmerz über diese Nummer ausbreiten. Überhaupt ihr Sound: Vieles schwingt da mit. Psychedelischer Rock findet sich bereits in hörbaren Mengen beim Opener "Fossils", richtig düster wird es bei "Homeless", welches zu Beginn wie eine Planierraupe über den Hörer fährt. Dagegen wartet "Minus Minus" mit fiebrigem Bassspiel und aufgekratztem Schlagzeug auf. Krautrock, (Post) Punk, Artrock: "Blueprints" klingt nach all dem. Doch der wilde Stilmix folgt einer klaren Linie, die das Dreiergespann auf ihrer Bandcamp-Seite folgendermaßen und pointiert beschrieben haben: "Labasheeda make intelligent but not emotionless, angular rock music". Ecken hat ihr Sound, ist aber gleichzeitig virtuos. Van Giessen (Gitarre, Violine, Viola, Klavier) und ihre Mitstreiter Arne Wolfswinke (Gitarre, Bass, Klavier) und Bas Snabilie (Schlagzeug, Marimba, Synthesizer, Percussion) erheben Rockmusik zur Kunstform. Anspruchsvoll ja, aber eben auch die Gefühle triggernd.

Manchmal geht es ganz schnell: Als Efeu im Frühjahr dieses Jahres mit "In Wien" eine dezent abgefuckte Liebeserklärung an die gleichnamige Stadt veröffentlichte, wurden sie sehr schnell als die neue Austro-Pop-Sensation gefeiert und in einen Topf mit Wanda und Bilderbuch geworfen. Eine durchaus nachvollziehbare Reaktion, wenngleich Efeu natürlich keine Epigonen sind, sondern ihren eigenen Stil besitzen, den sie auf der neuen EP "Kein Glanz" neu austarieren. In schnellen, teilweise vom Post-Punk beeinflussten Rock-Nummern, geht das Quintett nun einen Schritt weiter. Die Texte verlassen die Eindeutigkeit und bewegen sich auf assoziativen Umlaufbahnen, die nur mehr das pure Gefühl zum Inhalt haben, für das der Rezipient seine eigene Geschichte herumbauen muss. So klingt "Teer und Gras" wie ein Kampf zweier Herzen in einer Brust. Fast wirkt es wie die abstrakte Weiterführung der Thematik ihrer Vorgänger EP "Alles", die den Zweispalt zwischen Vertrautheit ("In Wien") und Aufbruch ("Schwimmen am Meer") unüberwinbar verhandelt. In "Teer und Gras" bleibt nur noch das reine Gefühl als Kondensat übrig. Auch "Verliererstraße" kreist um die gleiche Aussage: "Du willst weg, ich bleib' hier" ist lyrischer Dreh- und Angelpunkt der Nummer, die aber, wie auch "Teer und Gras" keine Lösung anbietet oder andeutet, wer von den beiden Positionen die Oberhand gewinnt. "Kein Glanz" verharrt ganz im Augenblick der Diskrepanz und genießt diese Unsicherheit sichtlich. Entgegen des Titels glänzt diese EP wieder einmal mit pointierten Songs, die neue Facetten von Efeu preisgeben. Ein Album in nächster Zeit wäre schon wirklich leiwand.

Was für eine dankbare Überleitung. Nach "Teer" im Song nun zur Band Teer, die musikalisch allerdings ganz woanders beheimatet ist. Genauer gesagt: Teer ziehen mit ihrem Sound in einen noch unbewohnten Teil der deutschsprachigen Musiklandschaft. Das Duo aus Berlin hält sich mit persönlichen Identitäten und allgemeinen Informationen ziemlich zurück. Umso mehr konzentriert man sich auf die Klänge, die uns das weiblich-männliche Duo hier kredenzt. Und diese sind so ungewöhnlich wie einnehmend, aber auch polarisierend. Denn die oftmals durch Autotune verfremdete Stimme der Sängerin erinnert an die aktuellen Hip-Hop-Produktionen, während pumpende Beats und hektische Sequenzen den trashigen Euro-Rave aus den mittleren 1990ern zitiert. Diese Kombination ist tatsächlich so neu und kompromisslos, dass man Teers erste EP "Geister, die wir riefen" mit zum Teil weit aufgerissenen Augen anhört. Nach dem Motto: "Wie können die nur?". Vor allem, wenn wie in "Sisyphos" zum albtraumwandlerischen Text eine knallige Vierviertelbeat um die 150 BpM mit gegenläufiger Sägebasslinie ertönt. Ebenso wummert bei "Aurora" die Bass Drum ohne Unterlass, während die gesamt Atmosphäre des Stücks extrem post-punkig ist und es stimmliche einige kleine Überraschungen gibt. Textilich bewegen sich Teer zwischen expliziten SM-Phantasien ("Herz"), fast schon mitleidiger Konsumkritik ("Plastikrosen") und dringenden Umweltproblemen ("Aurora"), die sie größtenteils in ein extrem tanzbares Gewand packen. Teer zählen sicherlich zu den aufregendsten Newcomern dieses Jahres, das haben sie mit bereits veröffentlichten Songs wie "Schwalben" bewiesen. Man darf gespannt sein, wie sich dieses Projekt weiter entwickelt.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 03.11.23 | KONTAKT | WEITER: CRIME & THE CITY SOLUTION "THE KILLER">

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