5/17: WELLE:ERDBALL, FLUT, INHALT, PERSON:A - RETRO ALL OVER THE WORLD
Was auch immer der Grund sein mag, weswegen der Sound von Korg, Moog, Roland und anderen renommierten Synthesizerherstellern ständig hoch im Kurs bei vielen Klangwerkern steht - seine Faszination tragen die elektronischen Maschinen bereits über die ganze Welt. Doch blicken wir erst einmal in heimische Gefilde.
Denn bevor es das Wort "Retro" überhaupt in den Wortschatz der Musikjournalisten (wie auch der übrigen Bevölkerung) geschafft hat, praktizierten Welle:Erdball genau dies in ihren Stücken. Treu an ihrer Seite: ein immer noch arbeitstüchtiger Commodore 64 und dergleichen Klangmaschinen mehr. Seit den frühen 90ern loten A.L.F. und Honey die Noblesse elektronischer NDW-Songs, wie sie beispielsweise Profil perfekt interpretierte, aus, unterstützt von wechselnden weiblichen Mitgliedern. Ihre schrullig-nerdigen Songs, vor allem über Errungenschaften in der Wirtschaftswunderzeit, sowie ihre Mischung aus Nachkriegs-Biedermeier und Kraftwerk-Optik wurde seitdem nur noch in Nuancen verändert. Auch die aktuelle EP "Gaudeamus Igitur" folgt ihrem Hang zur Glorifizierung der Adenauer-Ära. Allerdings nur vordergründig. Tatsächlich ist dieses Mini-Album von einem starken Eskapimus und den altbekannten Schlagworte "Carpe diem" und "Memento mori" durchzogen. Der feierliche Titelsong, im Original ein Studentenlied aus dem 18. Jahrhundert und mittlerweile zum Werbejingle für eine bekannte Apfelkornbrennerei verkommen, deutet es bereits an: "Gaudeamus igitur, iuvenes dum sumus." Solange man jung ist, soll man feiern. Der Tod hole einen schließlich schneller ein, als einem lieb ist. Welle:Erdball dekliniert diese Idee geschickt durch. Sie fliehen auf ihrer "Vespa 50N Special" vor dem Tod, flehen unter knarzig-blubbernden C-64-Klängen "Stirb mir nicht weg" und betreiben bandinterne Geschichtspflege mit dem Stück "Nur mit mir allein", das vor 19 Jahren erstmals auf "Der Sinn des Lebens" zu hören war. Musikalisch arbeitet man sich an den selbst gesteckten Parametern ab, die zwar kaum Überraschungen bereithalten, eigentlich aber auch keine Innovation benötigen. Warum auch? Schließlich zählt diese Ausnahmeformation zur Konstante in der Gothic-Clublandschaft. Frei nach einem Waschmittelwerbeslogan: "Welle:Erdball. Da weiß man, was man hat."
Von diesem Nimbus ist die österreichische Band Flut noch ein gutes Stück entfernt. Doch Jakob, Manuel, Sebastian, Johan und Florian scheinen genau zu wissen, was sie tun. Gegründet wurde Flut 2015, in jenem Jahr also, in dem Marty McFly und Doc Brown mit ihrem DeLorean aus der Vergangenheit gekommen sind. Zurück in die Zukunft? Zufall? Jedenfalls wirkt ihre erste EP "Nachtschicht" wie aus der Zeit gefallen. So ist die energetische Disco-Rock-Nummer "Linz bei Nacht" eine musikalische Verbeugung vor "Turn Me Loose" von Loverboy, während sich der Text mit seinem trivialen Krimicharme irgendwo zwischen Schimanski und Crockett verortet. "Miami Vice" meets Oberösterreich. Dementsprechend nostalgisch fällt auch das Video aus, das in körniger VHS-Ästhetik daherkommt. Wo vor einigen Jahren Mando Diao mit ihrem verquasten Retro-Schinken "Aelita" eher halbgar den kraftmeierischen Macho-Rock wiederbeleben wollten, setzen Flut nochmals an und denken das zu Ende, was die Skandinavier nicht geschafft haben. Dabei lässt sich das Quintett gerne zu einigen Experimenten hinreißen. Wie beim marschierenden "Sterne", das zunächst noch an "Look Away" von Big Country erinnert, um im Mittelteil, wenn die Rakete ins All geschossen wurde und nun über der Erde schwebt, lediglich mit breiten Synthieflächen und spacigem Vocoder arbeitet und so das Raumfahrtklischee perfekt bedient. Flut klingt auf "Nachtschicht" mehr nach 80er Jahre als die Dekade selbst. Wenn die fünf Jungs in die Saiten respektive Tasten hauen, erinnert man sich an Musiker mit Minipli-Vokuhila und Schweißbänder an Armgelenk und Stirn. "Alte Ziele, neue Wege" singen sie im unnachahmlichen "Grenzenlos" und bringen ihr Wirken auf den Punkt. Als Nachfahren können sie nur auf Archive und Erzählungen über das vorletzte Jahrzehnt vor dem Millennium zurückgreifen. Mittels der ihnen heutzutage zur verfügung stehenden Mittel kreieren sie eine ganz eigene Idee davon, was 80er hätten sein können - und avancieren so zu einem der vielversprechendsten Austro-Pop-Bands der Gegenwart.
Für die Reinkarnation kalter Elektronik mit deutschen Texten muss man dieser Tage kurioserweise den Sprung über den großen Teich wagen - genauer gesagt nach San Francisco. Dort ist nämlich ist die Gruppe Inhalt beheimatet und bringt mit "Part Time Punks Session" eine in Echtzeit aufgenommene Platte heraus, die in Zusammenarbeit mit der dortigen "Part Time Punks" Radiosendung entstanden ist. Die besondere Magie dieses vierten Albums der Gruppe um den gebürtigen Schweizer Philip Winiger speist sich aus eben jener Aufnahmesituation, die keine großen Korrekturen mehr zulässt. Hier ist er wieder zu spüren, der alte Kampf zwischen Mensch und Maschine. Wie einst Schlagzeuger Robert Görl präzise wie ein Uhrwerk seine Drums zu den vom Band ablaufenden Seuqenzen bearbeiten musste, um den zackigen DAF-Nummern ein Gesicht zu geben, ist in jedem Ton der Inhalt-Songs auch diese Dynamik zwischen stringent laufender Elekronik und menschlicher Modulation hörbar. Nach der zweiminütigen Aufwärmübung, namentlich "Aphonia", das eine Sägesequenz durch diverse Oszillatoren jagt (und dabei an eine verlängerte Version des Intros von "Push" von The Invinicble Spirit erinnert), bedient "Panopticon" mit feinen Strings, die geisterhaft an den trockenen Beats und Keyboard-Sounds vorbeischweben, die typisch melodischen Minimal-Wave-Parameter. Besonders "Walking On Glass" wird jene abholen, die zwischen treibender Bassfigur, wummernden Drums und flirrenden Melodien im eisig-zackigen Stroboskoplicht hin- und herwanken. Und das in Französisch eingesungene "Programming" veranlasst einen dazu, das einzige Album von Liaisons Dangereuses wieder auszugraben. Wahrlich, hier wird die Zeit um 35 Jahre zurückgedreht. Sicherlich hätte Inhalt einen NDW-Meilenstein erschaffen, als dieser Begriff noch für innovative deutschsprachige Musik bar jeder Schlagerhaftigkeit stand, ehe sie mit "99 Luftballons" in die Luft stieg und in Nichts auflöste. Inhalt erinnern uns daran, was den Zauber von Minimal Wave ausmacht.
Auf unserer weiteren Suche nach dem Klang der Nostalgie landen wir schlussendlich wieder auf dem "Alten Kontinent". Nächste Haltestelle dieses Mal: Stockholm. Dort stoßen wir auf Niklas Kärreskog, der als Person:a einen ähnlichen Weg wie jene von Inhalt geht, allerdings in seiner Klangästhetik noch ein wenig konsequenter und auch konservativer ist. Der Sound bleibt verwaschen, die Rhythmusprogrammierung minimal, und Niklas klingt wie ein somnambuler Geist, der im Studio umher schwebt. "Matters" lässt den ganz besonderen Charme alter Minimal-Electro-Nummern wieder aufleben. Hier zählt nicht die klangliche Perfektion, sondern die gesamte Atmosphäre, die als zeitgemäße Untermalung eines düsteren Film-Noir-Streifen gereicht werden könnte. Man denkt bei den brodelnden Synthiebässen unweigerlich an Projekte wie Absolute Body Control und hat schwarzweiße Szenerien von nebelumwölkten Seitenstraßen einer Großstadt bei Nacht vor Augen, in der das fahle Licht der Straßenlaternen eine unheimliche und gleichzeitig elegante Stimmung erzeugt. Auch wenn der einmal betretene Pfad von Person:a nicht mehr verlassen wird, sind einige Stücke hervorzuheben, da sie besonders gut gelungen sind. Zum Beispiel "No Desire", eine Nummer mit angezogenem Tempo und herrlich klirrenden Sounds, die über die repetierende Melodie gelegt wurde. Auch "Carry Thy Lies" profitiert von einer getragenen Akkordfolge, die sich langsam ausbreitet und einen in einen Schwebezustand versetzt. Als Kontrapunkt setzt Niklas dann mit dem nachfolgenden "Sentient" dissonant-metallische Sequenzen auf, unterschwellig von einem pluckernden Beat getragen. Es ist der aggressivste Song in einem von einer dunklen Noblesse durchzogenen Meisterwerk. "Matters" wird Puristen in helle Verzückung versetzen. Schnörkellos und konzentriert erzeugen die gerade mal acht Songs eine wohlig-kaltes Ambiente. Cold-Wave, schulbuchmäßig dargereicht, dabei aber nicht langweilig. Es wird Zeit für eine gediegene Party in einer Industrieruine.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 23.05.17 | KONTAKT | WEITER: WAS MACHT EIGENTLICH FINAL SELECTION?>
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Webseiten:
www.welle-erdball.info
www.flut-musik.com
www.inhalt.bandcamp.com
www.facebook.com/minimalpersona
Cover © Oblivion/SPV (Welle:Erdball), Problembär Records/Rough Trade (Flut), Cleopatra Records (Inhalt), Cold Beats Records (Person:a)
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